Statec-Direktor Serge Allegrezza über die Konjunkturlage, die Wirtschaftspolitik und die Staatsfinanzen

Tatsächlich wundersam

d'Lëtzebuerger Land vom 20.05.2016

D’Lëtzebuerger Land: Herr Allegrezza, das Statec hat vergangenen Mittwoch seine neuen Vorhersagen vorgestellt und die fürs vergangene Jahr angepasst. Demnach gehen Sie von 4,8 Prozent Wirtschaftswachstum für 2015 aus und von 3,1 Prozent für das laufende Jahr. Sie haben ganz klar und deutlich gesagt, die konjunkturelle Lage sei gut. Dabei hieß es noch vor wenigen Jahren, Luxemburg würde nie wieder an die Wachstumsraten aus der Vorkrisenzeit anknüpfen können. Wie erklärt sich denn dieses Wachstumswunder?

Serge Allegrezza: Es ist tatsächlich wundersam. Die Finanzbranche entwickelt sich weiterhin sehr gut. Auch wenn das weniger die Banken per se betrifft, sondern eher die Investmentfondsbranche und alles, was drum herum passiert. Sie wird durch die starke Entwicklung an den Börsen vorangetrieben, obwohl es in den letzten Monaten einen kleinen Knick gegeben hat. Dadurch erklärt sich auch das etwas schwächere Wachstum dieses Jahr. Es gibt eine sehr starke Korrelation zwischen der Entwicklung der Börsen und der Finanzbranche.

Ja, wenn man sich die vergleichende Grafik zwischen der Entwicklung des Aktienindex Eurostoxx 50 und der Wachstumskurve des Luxemburger Bruttoinlandproduktes betrachtet, kann man sich fast fragen, ob das Statec so komplizierte Modelle berechnen muss, um zu wissen, wo es hingeht. Dennoch haben Sie in den vergangenen Jahren sehr intensiv davor gewarnt, dass es weniger Wachstum geben werde, nun ist es trotzdem wieder da.

Diese starke Korrelation zwischen den Börsen und unserer Konjunktur ist gleichzeitig die Zusammenfassung unserer Krisenanfälligkeit. An dieser Anfälligkeit hat sich nichts geändert.

Sie haben bei der Vorstellung der Note de Conjoncture vor zwei Risiken gewarnt, die einen negativen Einfluss auf die Konjunktur hierzulande haben können: Grexit und Brexit. Welche direkten Folgen könnten ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone, beziehungsweise ein Austritt Großbritanniens aus der EU für die Luxemburger Wirtschaft haben?

Einen direkten Einfluss gibt es weniger; Grexit und Brexit sind zu allererst einmal eine Gefahr für die Europäische Union und für die Eurozone. Wir stehen vor der vierten Griechenland-Rettung. Die letzte fand erst vergangenen Sommer statt und schon damals war klar, dass das Maßnahmenpaket, das der griechischen Regierung auferlegt wurde, keine Lösung darstellen würde, weil die Schuldenlast untragbar blieb und bleibt. Bei den Wachstumszahlen der griechischen Wirtschaft war es rein mathematisch nicht möglich, aus der Krise zu kommen. Der Internationale Währungsfonds hat das schon damals festgestellt. Nun beginnt die gleiche Diskussion von vorn. Ich gehe davon aus, dass die Staats- und Regierungschefs alles unternehmen werden, um Griechenland in der Eurozone zu halten. Das wird nicht einfach. Gibt es eine Lösung, beispielsweise indem die ohnehin niedrigen Zinsen auf den Anleihen gesenkt werden und die Laufzeiten ad infinitum verlängert werden? Oder indem das Haushaltsziel, das immer noch einen Überschuss von fünf Prozent vorsieht, gesenkt wird? Oder indem die Europäische Zentralbank beginnt, griechische Papiere aufzukaufen, indem die Kriterien für die Wertpapiere geändert werden, welche die Zentralbank kaufen kann? Wir stehen also wieder vor der Diskussion, ob die Eurozone weiter funktionieren kann wie bisher, oder ob sich etwas ändern muss.

Es hat doch bereits Anpassungen am institutionellen Rahmen gegeben, wie beispielsweise die Bankenunion.

Die existiert aber vor allem auf dem Papier und ist noch unvollständig. In der Praxis bleibt die Finanzaufsicht stark fragmentiert. Und diese Anpassungen am institutionellen Rahmen der Währungsunion reichen nicht aus. Wenn diese Diskussion nun von Neuem beginnt, weiß man nicht, wo sie aufhört. Und jede Gefahr für die Eurozone, jede Gefahr für den europäischen Binnenmarkt, ist auch eine Gefahr für die Luxemburger Wirtschaft.

Sie haben vergangenen Mittwoch den Präsidenten der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, gelobt; Sie sagten, ohne seinen Einsatz würde es den Euro überhaupt nicht mehr geben.

Es ist ganz einfach: Nach 2008 wurde deutlich, dass die Währungsunion kein abgeschlossenes Projekt ist und dass es große Ungleichgewichte gab. Die Überschüsse aus dem Norden wurden massiv in den südlichen Ländern investiert. Außer Griechenland wiesen diese Länder alle Haushaltsüberschüsse aus, sie hatten allerdings alle eine negative Handelsbilanz und das vor allem gegenüber anderen Euroländern, allen voran Deutschland. Als dann Griechenland eingestand, dass die Defizitzahlen nicht stimmten, gab es einen Ansteckungseffekt auf andere Länder, die Zinsen auf den Staatsanleihen schnellten in die Höhe und es gab einen Riesendruck, bei den öffentlichen Ausgaben zu sparen. Darauf ist die EU, nachdem sie kurz versucht hatte, die Wirtschaft anzukurbeln, hereingefallen. Dadurch wurde die Situation noch schlimmer. Dann stellte sich heraus, dass die Währungsunion eigentlich überhaupt nicht funktionierte, dass sie nicht solidarisch ist, und die einzige Institution, die noch halbwegs funktionierte, war die EZB. Mario Draghi hat sich der Verantwortung gestellt und hat gesagt, er werde alles tun, was notwendig sei, um den Euro zu retten. Die EZB hat sehr aggressiv die Zinsen gesenkt und relativ spät ein großes Anleihekaufprogramm lanciert. Die EZB hat sich als Referenzauthorität durchgesetzt, die Märkte haben Draghis Drohung geglaubt.

Die Luxemburger Banken beschweren sich relativ viel über die niedrigen Zinsen.

Das ist normal. Die Banken haben ein bisschen vergessen, dass sie durch die Kreditvergabe gewissermaßen eine öffentliche Dienstleistung erbringen und ihr Bestehen keinen Selbstzweck erfüllt. Das Weitergeben von Krediten ist ihre Aufgabe, nicht das Erwirtschaften immer größerer Profite.

In ihren Augen ist die Politik der EZB also ein Erfolg?

Sie hat einen begrenzten Erfolg, insofern sie verhindert hat, dass der Euro zusammenbricht. Sie hat auch einen gewissen Erfolg, wenn man berücksichtigt, dass die Kreditvergabe an Firmen und Haushalte wieder ein wenig ansteigt. Aber die Geldpolitik allein kann nicht alles bewirken. Was fehlt, ist eine konjunkturelle Ankurbelung über die Haushaltspolitik und präziser über die Investitionen. Die müsste jetzt unbedingt in die Wege geleitet werden, auch wenn verschiedene Länder, wie unter anderem Deutschland, bremsen. Dadurch würde das Wachstum angekurbelt und dadurch würden auch rein rechnerisch die öffentliche, wie auch die private Verschuldung, im Vergleich zum BIP auf vertretbare Niveaus sinken.

Nicht wenn die Investitionen durch die Aufnahme neuer Schulden finanziert würden.

Wir müssen die Zeit nutzen, die uns die EZB verschafft hat, um die Haushaltspolitik zu flexibilisieren. Inwiefern? Die Stabilitätskriterien müssten überarbeitet werden. Den Ländern müssen mehr Freiheiten bei den Investitionen eingeräumt werden. Wie das? Sie sollten bei der Berechnung der Defizite nicht berücksichtigt werden. Das ist eine alte Idee des ehemaligen EU-Kommissars und italienischen Premierministers Mario Monti. Sie ist immer noch richtig.

Sehen Sie denn Chancen, dass sich Montis Idee durchsetzt?

Nein. Gar keine. Die Situation in der EU ist relativ dramatisch. Immer mehr Mitgliedstaaten versuchen, sich von Brüssel loszusagen, um Politik zu betreiben, die ihren kurzfristigen Interessen dient.

Die Luxemburger Staatsfinanzen sehen im Gegensatz zu denen anderer Länder auch sehr gut aus. Sie haben die Zahlen für die vergangenen Jahre nachgebessert. Für 2014 buchen Sie nun einen Überschuss von über 830 Millionen Euro, für 2015 einen Überschuss von 650 und auch dieses Jahr soll über eine halbe Milliarde übrig bleiben. Auch das kann angesichts der Hysterie, die in den vergangenen Jahren um das Ungleichgewicht der Staatsfinanzen herrschte, ein wenig überraschen. Wie passen diese Zahlen und die Hysterie zusammen?

Das kann ich auch nicht wirklich erklären. Wenn man sich die Zahlen anschaut, hatten wir in den vergangenen 15 Jahren drei Mal ein Defizit.

Eben, weshalb hat es dann Sparpaket um Sparpaket gegeben – auch wenn das letzte davon Zukunftspak genannt wurde?

Ich kenne die Geheimnisse der Regierung nicht, kann also nur mutmaßen, dass es darum ging, die dynamische Entwicklung der Ausgaben zu brechen. Dadurch ist ein gewisser Handlungsspielraum entstanden – mit einigen Abstrichen: die Investitionen sind mit vier Prozent im Vergleich zum BIP hochgeblieben. Nun hat sich die Idee durchgesetzt, den Bürgern ein wenig Kaufkraft zurückzugeben, denn bei Preisen und bei Löhnen, die sich kaum bewegen, entsteht schnell der Eindruck, dass es ihnen schlechter geht und sie keinen Anteil an dem bombastischen Wachstum haben.

Die Regierung hat ihr Haushaltsziel von einem Überschuss von 0,5 Prozent vor wenigen Wochen aufgegeben.

Ich begrüße das, da ich seit Langem dafür plädiert habe, das Haushaltsziel von einem Überschuss von 0,5 Prozent fallen zu lassen, weil es nichts bringt. Wenn das Geld noch produktiv angelegt würde, wäre es vielleicht sinnvoll. Aber das ist nicht der Fall. Ich fände es deshalb sinnvoller, wenn man sich eine Strategie geben würde, nach der eventuell die Investitionen noch gesteigert würden. Denn man muss sich auch fragen, ob die öffentliche Infrastruktur überhaupt ausreicht, um das stetige Bevölkerungswachstum mitzutragen ohne die Lebensqualität zu reduzieren.

Die Regierung hält aber an ihrem Ziel einer Verschuldung von unter 30 Prozent im Verhältnis zum BIP fest.

Das ist sehr niedrig und man kann sich sogar fragen, ob die jetzige Bruttoverschuldung nicht zu niedrig ist. Oder ob man die Verschuldung nicht ein wenig hochschrauben sollte, um mehr zu investieren, da die Zinsen extrem niedrig sind . Man müsste den entstandenen Handlungsspielraum nutzen, um die Zukunft vorzubereiten, eine wirkliche Strategie, eine Doktrin zu entwickeln. Dann würde das Ganze eine gewisse Kohärenz bekommen. Ob dem so ist, weiß ich nicht.

Sie reden davon, mehr Schulden zu machen. Und das Haushaltsziel eines Überschusses von 0,5 Prozent wurde fallen gelassen. Dabei war das aber doch auch eine Vorgabe aus Brüssel im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes. Jein.

Das stand so sicherlich immer im Stabilitätsprogramm und war eine Empfehlung der EU-Kommission. Aber angesichts unserer Haushaltslage – die Nettostaatschuld ist negativ – und der Entwicklungsperspektiven, hätten wir uns durchaus mit niedrigeren Überschüssen zufrieden geben können.

Die Wirkung der Steuerreform für die Haushalte habe Sie in Ihren Vorhersagen bereits berücksichtigt, die für die Firmen nicht.

Richtig, weil uns vom Finanzministerium gesagt wurde, der Impakt durch die Änderungen bei der Körperschaftssteuer sei sehr moderat.

Ist die Umsetzung von Beps auf EU-Ebene dabei nicht noch eine große Unbekannte?

Auf jeden Fall. Man muss abwarten, wie die Unternehmen, die davon betroffen sind, reagieren, wenn diese Umsetzung konkret wird.

Haben Sie denn eine Vorstellung davon, wie die Unternehmen darauf reagieren könnten? Nein. Wir sind das noch nicht angegangen.

Warum nicht?

Das müsste eine abgesprochene Aktion aller Beteiligten sein, auch der Ministerien. Da wurde in Arbeitsgruppen immer wieder mal darüber gesprochen, wie und wann man das anpacken sollte. Ein klares Ergebnis gab es dabei nicht.

Es hat also niemand eine Vorstellung davon, welches Gewicht die Finanzbeteiligungsgesellschaften überhaupt in der Luxemburger Wirtschaft haben, und was ihre Zu- beziehungsweise Abwanderung bewirken könnte?

Nein. Belastbares, umfassendes statistisches Material ist nicht aufbereitet worden. Wir haben uns damit noch nicht befasst.

Weil Sie keinen Auftrag dazu hatten?

Auch. Wir könnten uns allerdings auch ohne Auftrag damit befassen, im Rahmen unserer Vorhersagen. Das haben wir auch fest vor, haben es aber bisher noch nicht gemacht.

Michèle Sinner
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