Die kleine Zeitzeugin

Mind the gap!

d'Lëtzebuerger Land vom 27.04.2018

Gut, endlich wissen wir es. Wir wissen es täglich und stündlich mehr, dass es vieles gibt, das nicht gut für uns ist, obschon es uns gut tut. Es erhöht zumindest das Wohlbefinden, finden wir. Mit einem Kelch edlen Rebensafts den Tag ausklingen lassen – nicht gut, am Schälchen Kaffee nippen – nicht gut, sich an Pommes Frites im Knusperkostüm gütlich tun – ganz schlecht. Und wer hätte gedacht, dass Fett fett macht? Dass Zucker die Zuckerkrankheit fördert, wer wäre je auf so was gekommen?

Beruhigend, dass jemand, der Staat, irgendwelche Konzerne, oder beide, es gut mit uns meinen. Wenn schon alles nicht gut ist für uns.

Die Gefahren die uns auf Schritt und Tritt umgeben, wir schweben sogar in ihnen, nehmen nämlich dramatisch zu. Und meist ahnen wir es nicht einmal! Die Natur ist gefährlich, häufig stirbt man eines natürlichen Todes, aber auch das Unnatürliche, die Kultur sowieso, und die Kunst verstört immer noch Menschen, zum Beispiel wenn Künstler_in eine Metapher verwendet, die ihr Weltbilderbuch durcheinander bringt. Gefährlich ist es auch, ein Kind zu kriegen, niemand garantiert einer, dass es funktioniert.

Wegen all dem müssen mehr Hinweise her. Wir müssen verstärkt aufmerksam gemacht werden auf das, was uns dräut, auf die Risikofaktoren, auf die Nebenwirkungen. Mehr Warnschilder, mehr Apps, etwas muss aufblinken oder aufpoppen oder uns anfauchen.

Es gibt ja schon lange eine gute Entwicklung diesbezüglich, schon seit Jahren werden wir im Winter gewarnt, dass es draußen kalt ist, im Sommer wird uns nahe gelegt, zu trinken, damit wir nicht verdursten oder, wie das auf seniorenmodern heißt, dehydrieren. Moderatoren raten uns mütterlich, eine Mütze aufzusetzen, und Facebook sorgt sich, dass wir doch bitte einen Regenschirm aufspannen.

Mind the gap! Vorbildlich wird in U-Bahnen gewarnt, dass es beim Aussteigen gilt, den Spalt zwischen Wagen und Steig nicht zu übersehen. Das sollte eine Vorreiterfunktion einnehmen, flächendeckend sollte Mensch auf Schritte und Tritte darauf hingewiesen werden, was ihm zum Nachteil gereichen könnte. Wir könnten über unsere eigenen Füße fallen! Heerscharen von Expert_innen könnten im Vorfeld alle möglichen Fallen, aber auch die unmöglichen, weil es gibt nichts, was es nicht gibt, checken und mit entsprechenden sprechenden oder sich optisch oder olfaktorisch bemerkbar machenden Warnsignalen versehen. Vorsorglich in unser inkompetentes System eingebaute Chips könnten uns verlässlich um Gefahrenherde manövrieren. Uns nur noch uns zuträgliche, auf uns abgestimmte Zonen zuweisen. Alles andere No Go! Es könnte unsere ästhetischen Standards verletzen. Unsere Roboterfreunde hätten uns sicher auch im Auge, sicher ist sicher.

All das wäre zu begrüßen, nimmt doch das Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung immer mehr ab, wie die Expert_innen feststellen. Warum genau, wissen die Expert_innen allerdings nicht.

Aber kleine Vorsichtsmaßnahmen können im sich Sicherfühlen schon viel bewirken: Barhockerhocker_innen zum Beispiel sollten verpflichtend mit Helm ausgerüstet werden, die Absturzgefahr ist einfach zu groß. „Achtung, Ihr Herz könnte brechen!“, müsste in Bars auf Bildschirmen aufscheinen wie Melanome beim Hautarzt. Bei jeder Eheschließung sollte der weibliche Teil des Paares darauf hingewiesen werden, dass bei diesem Pakt die Chance auf ein gewaltsames Ende laut Statistik die höchste ist. Zumindest wenn der andere Teil dem männlichen Geschlecht angehört.

Früher waren die Menschen Kinder Gottes, er sagte, was sie zu tun hatten und vor allem, was nicht. Da wir Gott entlassen haben, sind wir jetzt nur noch Kinder. Also gut, wenn sich jemand um uns kümmert. Der Staat, Google, Putin, das Handy, Fernseh-Philosophen ... Denn haben wir nicht alle ein Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit? Niemand darf unsere Gefühle verletzten!

Im deutschen Fernsehen wurde in einer Talkshow erwogen, menschenverachtendes Verhalten zu verbieten. Nur, wie kann ich beweisen, dass mich jemand menschenverächtlich angeschaut hat? Oder, noch schlimmer, nicht angeschaut hat?

ephemera d’Armand Quetsch a été réalisé grâce à la Bourse CNA- Aide à la création et à la diffusion photographique, il est publié chez www.peperoni-books.de. L’exposition Extraits sans titres sera ouverte jusqu’au 31 octobre au centre d’art Nei Liicht à Dudelange ; www.centredart-dudelange.lu.

Michèle Thoma
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