Tarif-Nomenklatur der Mediziner

Die unendliche Geschichte

d'Lëtzebuerger Land vom 19.03.2009

Die Broschüre mit dem himmelblauen Einband enthält auf 50 Seiten Preistabellen mit an die 1 600 Tarifposten: die Gebührenordnung für die Mediziner, die Nomenclature des actes et services des médecins. Spricht man Ärzte auf sie an, reichen die Einschätzungen von „das unter den gegebenen Umständen Bestmögliche“ bis „eine historisch gewachsene Katastrophe“.

In letzter Zeit kommt die Nomenklatur, wie sie abgekürzt genannt wird, nicht mehr aus der Diskussion heraus. Dass sie den Anforderungen im Klinikalltag nicht mehr genüge, meinte Anfang Januar der Krankenhaus-Dachverband Entente des hôpitaux luxembourgeois in einem Schreiben an den Gesundheitsminister, und verlangte, die Nomenklatur grundlegend zu überarbeiten.

Denn die Nomenklatur hat Lücken. Zum Beispiel taucht die laparoskopische Chirurgie darin überhaupt nicht auf, obwohl das international ein Qualitätskriterium darstellt: Bei dieser Methode bringen die Chirurgen durch kleine Schnitte in der Bauchdecke eine winzige Videokamera in die Bauchhöhle, machen so die darin liegenden Organe sichtbar und können durch den kleinen Schnitt weitere Instrumente einführen, mit denen dann operiert werden kann.

Andere Lücken sind subtilerer Natur. Erleidet ein Patient zum zweiten Mal einen Kreuzbandriss am Knie und muss erneut operiert werden, gibt es dafür keinen Tarif. Abrechnen kann der orthopädische Chirurg lediglich eine Erstoperation. Die aber dauert nur halb so lange und ist weniger kompliziert als ein zweiter Eingriff. Die Liste ließe sich fortsetzen. Kommenden Monat voraussichtlich wird die Nomenklaturkommission – ein Gremium aus Vertretern von Gesundheitsministerium, Gesundheitskasse CNS, Ärzteverband AMMD und anderen Leistungserbringern – vorschlagen, ins Tarifgefüge für Kardiologie 40 neue Behandlungsakte aufzunehmen; von moderner Diagnostik von Herzrhythmusstörungen bis hin zur Behandlung von Herzkranzgefäßerkrankungen.

Dass die Nomenklatur derzeit viel diskutiert wird, hat aber noch einen Grund: Eine anscheinend wachsende Zahl von Ärzten ist nicht nur der Meinung, die Nomenklatur benachteilige sie, sondern findet, die Unterschiede zwischen gut und schlecht verdienenden Ärzten nähmen zu. Gründe dafür in der Gebührenordnung zu suchen, ist nicht übertrieben. Während etwa in Deutschland die Frage nach den Einkünften der Ärzte in einen Dschungel aus Vertragsverhältnissen und Vergütungsregeln mit den Krankenkassen führt, wird jeder Mediziner, der sich in Luxemburg niederlässt, automatisch und obligatorisch per Konvention an die Gesundheitskasse gebunden und unterliegt der Nomenklatur. Nicht nur das Gros der Mediziner, die als Freiberufler eine Praxis betreiben und daneben noch als Belegarzt in einem Krankenhaus tätig sind, rechnet seine Leistungen nach der Gebührenordnung ab. Die fest angestellten Ärzte im Centre hospitalier de Luxembourg tun es auch; der Erlös aus dem geleisteten Akt fließt jedoch in einen Pool und wird im CHL als Lohnmasse umverteilt. Und selbst für fest angestellte Ärzte im Ettelbrücker Neuropsychiatrischen Krankenhaus wird laut Nomenklatur eine Tagespauschale verrechnet.

Sind die Verdienstunterschiede zwischen den Ärzten tatsächlich so groß? Zwischen freien Allgemeinmedizinern und Spezialisten sind sie es auf jeden Fall. Dem jüngsten Rapport général sur la sécurité sociale zufolge, den die Generalinspektion der Sozialversicherung IGSS alljährlich publiziert, lag im Jahr 2006 das Einkommen eines Freiberufler-Hausarztes vor Steuern und Sozialabgaben, aber nach Abzug aller Betriebskosten bei im Schnitt 122 106 Euro. Was beinah 50 Prozent mehr ist, als im gleichen Jahr ein deutscher Kollege im statistischen Mittel verdiente: 83 015 Euro1. Ein Luxem­burger Spezialist mit Freiberufler-Statut aber brachte es auf durchschnittlich 244 834 Euro.

Zwischen den Spezialisten-Disziplinen aber sind die Einkommensunterschiede wahrscheinlich ebenfalls groß, denn die IGSS, die über die Details verfügt, lehnt deren Herausgabe mit dem freundlichen Hinweis ab, „kein Öl ins Feuer gießen“ zu wollen. Ihr Jahresbericht macht lediglich qualitative Angaben zu den Einnahmen an Honoraren: An der Spitze der zehn am meisten einnehmenden Spezialistensparten standen 2007, in absteigender Reihenfolge, die Neurochirurgen, die Radiologen, die Kardiologen, die Anästhesisten und die Nierenfachärzte. Die geringsten Honorareinkünfte hatten Kinderärzte, Hautärzte und Psychiater.

Zu vermuten ist allerdings, dass von den „Top Five“ nach Abzug aller Betriebskosten zwei Disziplinen als Schwerverdiener gelten könnten: Radiologen und Anästhesisten. Denn außerhalb eines Krankenhauses ist der Betrieb schwerer radiologischer Diagnosetechnik ebenso untersagt wie die Verabreichung einer Vollnarkose. So dass Anästhesisten und Radiologen praktisch nur in der Klinik tätig sind, aber die dort vorhandene Technik ihnen ebenso kostenlos zur Verfügung steht wie die Radiologie-Assistenten oder das Pflegepersonal mit Spezialausbildung in Anästhesie.

Daraus folgt allerdings, dass die Gebührenordnung Gerechtigkeitsprobleme produziert. Einerseits gegenüber dem System insgesamt: Noch müssen Gesundheitskasse und Gesundheitsministerium einräumen, dass die Kontrollen der tatsächlich geleisteten Akte unzureichend sind und vor allem aus den Kliniken im Grunde jede ärztliche Honorarforderung akzeptiert wird. Hoffnungen setzt man in die bei der CNS neu eingerichtete Anti-Betrugs-Einheit. Unlängst machte sie einen Chirugen ausfindig, der in einem Spital vier mal so viele Operationen abrechnete wie sein nächstaktiver Kollege. Gegen ihn wird nun ermittelt.

Allerdings kann „Betrug“ im aktuellen Gebührensystem kaum ein einfach zu handhabender Begriff sein. Bei der CNS erkennt man sehr wohl an, dass nicht wenige Operationstarife mit 30 bis 50 Euro lächerlich niedrig bewertet sind und den Arzt geradezu zwingen, einen Kumul von Akten abzurechnen, die womöglich gar nicht geleistet wurden. So kämen auch viele „Assistenz-Operationen“ zu Stande, bei denen ein Chirurg einem anderen assistiert, aber nicht mehr macht, als kurz vorbei zu schauen. Dennoch stehen ihm dann 30 Prozent eines vollen OP-Tarifs zu.

Andere Tarife sind vermutlich zu hoch. Eine Arthroskopie am Knie etwa – das Auffüllen eines Kniegelenks mithilfe endoskopischer Methoden – wird mit 450 Euro bezahlt. Nach Ansicht von Orthopäden ist das nicht nur zu viel, sondern kann die Indikationsstellung durch den Arzt so beinflussen, dass jeder Patient mit Knieschmerzen eine Arthroskopie erhalten könnte, weil sie vorteilhaft honoriert wird. Klinik-verbindliche Behandlungsleitlinien durchsetzen zu wollen, wird dann sehr schwer.

Ein Gerechtigkeitsproblem innerhalb der Ärzteschaft ruft die derzeitige Nomenklatur ebenfalls hervor: Weshalb sollten ganze Fachsparten schlechter verdienen als andere? Sollte die Verantwortung eines Kinderarztes gegenüber seinen Patienten kleiner sein als die eines Radiologen? Und was ist mit den Hausärzten?

Dieses Problem, wenn nicht aus der Welt zu schaffen, dann zumindest zu mildern, ist einer der wichtigsten Daseinsgründe des Ärzteverbands AMMD. Er versucht das einerseits innerhalb der Nomenklaturkommission, indem er neue Behandlungsakte festzulegen vorschlägt, die anschließend neue Verdienstmöglichkeiten bieten. Andererseits erhält die AMMD alle zwei Jahre nach Verhandlungen mit der CNS einen Geldwert zugestanden, den sie als lettre-clé in der Nomenklatur auf Akte ihrer Wahl aufschlagen kann. Zuletzt entschied sie, dass ab 1. März die Tarife für Arztkonsultationen in der Praxis sowie die Tagespauschalen für die Behandlung eines Patienten im Spital angehoben werden sollten. Eine Geste an schlechter verdienende Mediziner – der Tarif für einen Besuch beim Hausarzt zum Beispiel stieg daraufhin, die zum Monatsanfang fällig gewordene Indextranche inklusive, um rund zehn Prozent.

Doch unter den freiberuflichen Ärzten wächst die Nervosität, weil das Angebot in den eigenen Reihen zunimmt: Immer mehr Mediziner aus den Nachbarländern, vor allem aus Deutschland, starten einen Nebenerwerb in Luxemburg in einer Praxis, die sie nur tageweise öffnen. Dass für die Niederlassung hierzulande ein Medizinerdiplom genügt und man anschließend automatisch Kassenarzt für die CNS wird, macht es möglich. Dass es für die Abrechnung von Leistungen bei dieser keinen Plafond gibt, macht es um­so attraktiver. Auch die CNS registriert eine „starke Zuwanderung“ solcher Teilzeitmediziner – und dass das mittlere Einkommen der Ärzteschaft schon leicht zu schrumpfen begonnen hat.

Vor diesem Hintergrund sind AMMD-intern Fragen über das Zustandekommen der Nomenklaturänderungen aufgetaucht. Denn selbst der Vorstand des Ärzteverbands erfährt nichts von den Vorschlägen zur Einführung neuer Tarife, die seine beiden ständigen Vertreter in der Nomenklaturkommission – der Präsident und der Generalsekretär – machen. Für einige Überraschung sorgte, was in der Kommission seit Kurzem als beschlussfähige Vorlage auf dem Tisch liegt: Erhält eine Schwangere bei der Entbindung in der Klinik eine Periduralanästhesie, soll vom behandelnden Gynäkologen oder Anästhesisten der Tarif von 240,20 Euro künftig um 100 Prozent erhöht werden dürfen, falls die Anästhesie nachts, an Sonn- oder Feiertagen angelegt wird. In Rechnung stellen die Ärzte den Zuschlag bereits jetzt häufig. Die CNS aber übernimmt ihn nicht, da die geltende Nomenklatur explizit ausschließt, dass er überhaupt erhoben werden darf. 

Dass die Nomenklaturkommission demnächst das Gegenteil empfehlen dürfte, kann den Patientinnen recht sein. Stimmt der Sozialminister der Änderung zu, muss die CNS den Zuschlag übernehmen. Aber dass die Gebühr für eine Leistung, die in der Regel zehn Minuten dauert, auf 480 Euro erhöht werden kann, hat bei AMMD-Mitgliedern die Frage nach  den Prioritäten ihrer Verbandsspitze bei der Umverteilung der Mediziner-Einkünfte aufkommen lasssen. 

Angesichts so vieler Probleme muss sich nach den Wahlen womöglich die Politik den Ärzteeinkommen zuwenden. Aber es stellt sich nicht nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit von Tarifen, sondern nach der des Gesundheitssystems. Ob das dann nötige Ausmaß von Strategiebildung die Entscheidungsträger nicht überfordern wird, bleibt im wahrsten Sinne des Wortes abzuwarten. In der Nomenklaturkommission gaben sie kürzlich schnell nach: AMMD-Präsident Jean Uhrig, im Hauptberuf  Anästhesist, erstritt den Periduralzuschlag, indem er mit einem Anästhesistenstreik ab 1. Mai drohte.

1 „Das komplexe System der Ärztevergütung“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.05.2008, S.4

Peter Feist
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