Stéphanie Empain sitzt vor einem Latte Macchiato im Ale Moart, einem Café in der Fußgängerzone von Wiltz. Vor dem etwa acht Quadratmeter großen Schaufenster gehen Einwohner der Kleinstadt vorbei. Sie grüßt die ein oder andere Kundin, die in den Laden hereinschneit. „Am Schultor, auf dem Spiel- und Fußballplatz erfahre ich, welche Sorgen die Leute umtreiben. Sie bringen mir bei, mich von einer verklausulierten Sprache zu lösen.“ Wiltz habe sie aus der „Krautmaart-Blase“ geholt. Gleichzeitig vermisst sie ihren Abgeordnetensitz, den sie vor einem Jahr verloren hat: „Meine Gestaltungsmacht ist eingeschränkt.“ Empain trägt ein dunkelblaues Kleid mit schneeflockenartigem Muster, schwarze Strumpfhosen und weiße Sneakers. Sie hat gerade eine Zoom-Unterrichtsstunde hinter sich. „Ich nehme an einem einjährigen BA-Programm teil, um Grundschullehrerin zu werden. Dieses BA-Studium habe ich als Abgeordnete noch mitgestimmt“, lacht sie. Ihr Zukunftsplan überrascht. Wird man nicht Parteipräsidentin, um seine politische Karriere zu boosten? Zusammen mit François Benoy wurde sie am 12. Oktober mit 167 Stimmen ins Amt gewählt, wobei ihr Mitkandidat sieben Stimmen mehr erhielt. Zuvor warb sie in einem Werbeclip für ihre Kandidatur mit: „Ech war gréng, ech si gréng a wäert och ëmmer gréng bleiwen.“
Am Schultor erfährt sie allerdings auch, dass die grüne Partei als Elitenprojekt wahrgenommen wird. Grüne Politik belaste den kleinen Geldbeutel, lautet das Urteil. „Dabei wollen wir gerade, dass Individuen nicht für Umweltprobleme bestraft werden. Und für deren Lösungen sollte die Politik aufkommen, nicht der Einzelne. Wir waren es, die in der Energiekrise gesagt haben, Geringverdiener dürfen nicht zu kurz kommen.“ Empain klingt weniger frustriert als vielmehr enttäuscht. Auch für Bildungsfragen, den Jugend- und Kinderschutz sowie Missstände im Gesundheitswesen hätten die Grünen viel Tinte zu Papier gebracht. „Gring sinn ass méi wéi just Planzen a Müsli.“ Es sei ihrer Partei nicht gelungen, sozialpolitische Themen in den Vordergrund zu stellen. Sie ist jedoch zuversichtlich, dass das neue Duo an der Spitze das Profil der Partei schärfen kann – „von der Oppositionsbank aus klappt das besser“. Gut möglich, dass die Parteibasis der grünen Spitze nach zehn Jahren Regierungsbeteiligung ihre Anpassungswilligkeit vorgeworfen hat. Als Teil der Regierungskoalition haben die Grünen unter anderem das Freihandelsabkommen CETA unterzeichnet.
Die 41-Jährige wohnt heute in Erpeldingen bei Wiltz. Bis zum dritten Schuljahr lebte sie im Hauptstadtviertel Hamm. Danach zogen ihre Eltern erneut nach Niederpallen, wo sie zuvor gewohnt hatten, weil die Gemeinde Redingen Wohnungsprojekte zur Wiederansiedlung junger Familien ausarbeitete. Von ihrer Mutter habe sie gelernt, nachhaltig zu leben: „Sie legte unseren Garten an und kaufte umweltbewusst ein. Auch Tierschutzthemen kamen nicht zu kurz, sie abonnierte uns beispielsweise die WWF-Zeitschrift.“ Ihre Mutter arbeitete bis zu ihrer Geburt als Buchhalterin. Später sei es ein Murks gewesen, wieder ins Arbeitsleben zu finden. Ihr aus Brüssel stammender Vater arbeitete in Luxemburg zeitweise als Taxifahrer. „Ganz dicke“ war sie als Kind mit Taina Bofferding (LSAP), die ebenfalls aus eher bescheidenen Verhältnissen kommt und auch in Niederpallen wohnte. Die beiden liefen gemeinsam durchs Dorf, bauten Hütten und fuhren zusammen in den Urlaub. Mittlerweile habe man sich auseinandergelebt, wenngleich beide weiterhin gut miteinander auskommen.
Nach dem Premièresabschluss zog es sie zur Frage hin, wie unterschiedliche Menschenbilder unterschiedliche politische Überlegungen beeinflussen. „Auch die Verflechtungen internationaler Beziehungen interessierten mich.“ Während ihres Politikwissenschaftsstudiums an der Universität Trier entschied sie sich 2004, „an eng Partei luussen ze goen“. Inhaltlich fühlte sie sich sofort von den Grünen angesprochen. Sie absolvierte ein Praktikum im Büro des Fraktionssekretärs Albert Jacoby. Er erinnert sich an eine junge Person, die nicht einfach passiv das Praktikumsende abwartete, sondern „Fragen stellte und sich für vieles interessierte.“ Ein Mandat anzustreben, sei ihr zunächst fremd gewesen: „Wegen der gängigen Vorbehalte, sprich, Politik sei ein schmutziges Geschäft.“
Sie stürzte sich zunächst ins Berufsleben und war beim Generalstab der Armee in der Goethestraße angestellt, um Treffen des multinationalen Eurokorps zu koordinieren. Später baute sie das ORT-Tourismusbüro im Norden mit auf. 2014 wurde ihr erster Sohn geboren. Sie hielt damals inne und bemerkte, dass sie sich wieder verstärkt sozialpolitisch engagieren wollte. „Und wenn eine Partei feststellt, hier ist jemand, der mitanpacken will, dann kommt sie auf einen zu.“ So kam es, dass sie 2018 zusammen mit Claude Turmes Spitzenkandidatin wurde. „Ich fühlte mich wie ins kalte Wasser geworfen“, beschreibt sie den Wechsel ins Parlament. „Zum Glück sind wir eine Partei, die zusammenhält.“ Auch den Austausch mit damaligen Oppositionspolitikern habe sie geschätzt; sie nennt Marc Spautz (CSV) und Marc Baum (déi Lénk). Mit Laurent Mosar würde sie sich allerdings nicht auf ein Bier treffen. „Er ist respektlos, seine Kommentare sind unter der Gürtellinie. So geht man nicht mit Menschen um.“
Womöglich hat sie auch wenig Lust auf ein Kneipengespräch mit Fernand Kartheiser (ADR). Während einer Kammerdebatte im Juli 2023 sagte dieser, er fordere „eng altersgerecht Sexualopklärung“. Empain entgegnete, bei ihm laufe die Forderung auf „iwwerhaapt keng“ hinaus. Als der ADR-Abgeordnete hinzufügte, er sei „nicht gegen Homosexuelle“, unterbrach ihn Empain mit der Bemerkung, er sei eben nur gegen Gleichberechtigung. 2021 schrieb sie auf Facebook, Kartheiser würde Lügen verbreiten. Er behauptete nämlich, die grüne Justizministerin Sam Tanson wolle in einem Gesetzestext zur medizinisch unterstützten Fortpflanzung durch die Formulierung „autre parent de naissance“ Vaterschaft unsichtbar machen. Empain warf ihm Populismus vor, denn Kartheiser sei bereits zuvor in der Kammer über die Begriffswahl informiert worden: Bei diesen Fortpflanzungseingriffen kann es sich auch um gespendete Eizellen handeln, also nicht nur um Samen. Deshalb sei der „weitere Elternteil“ nicht zwangsläufig ein Mann. Die wiederholten Schlagabtausche mit Kartheiser zeigen, dass die Parteipräsidentin nicht zaghaft ist.
Die Nummer 568 hat für die Nordpolitikerin eine besondere Bedeutung. Mit ihr ging sie für den Athletikverein CAL an den Start – Sprintläufe und Weitsprung waren ihre Kerndisziplinen. Ihre Begeisterung für Leichtathletik wurde im Kindergarten entfacht. „Während einer Schulstunde konnten wir mit dem CAL Übungen durchführen. Erst mit sechs Jahren durfte ich am Training teilnehmen. Am 11. August 1989 wurde ich sechs, am 12. August stand ich auf der Laufbahn.“ Bis zu ihrem 16. Geburtstag bestimmten der orangefarbene Tartan-Kunststoffbelag und die Sandsprunggrube ihre Freizeit. Als sie ihre Leistung nicht weiter steigern konnte, reduzierte sie ihre Trainingszeiten. Vielleicht zu ihrem Vorteil: „Erstmals konnte ich mit Freunden nach der Schule ins Kino gehen.“ 2018 übernahm sie die Präsidentschaft der Leichtathletikföderation von Claude Haagen (LSAP) und wurde 2022 mit 88 Stimmen bestätigt. Der Gegenkandidat Bob Biver, CSV-Gemeinderat in der Hauptstadt und Anwalt, erhielt nur 40 Stimmen. In ihren ersten Präsidentschaftsjahren erlebte die Föderation einen regelrechten Aufschwung: 38 Nationalrekorde wurden gebrochen. Charles Grethen, Bob Bertemes und Patricia van der Weken wurden über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Hat sie heute noch Zeit zum Laufen? Sprinter seien keine Jogger, deutet sie an. Als Parteipräsidentin, Mutter und BA-Studentin bleibe wenig Zeit für Hobbys. „Ich versuche, die beiden Jungs in meine Freizeitgestaltung einzubinden; wir gehen spazieren, backen und kochen zusammen.“
Auf ihrem politischen Weg wurde sie in einer ersten Phase vor allem von Camille Gira (1958–2018), Abbes Jacoby, Gérard Anzia sowie Ettelbrücker und Diekircher Lokalpolitikern begleitet. Heute holt sie sich in erster Linie Einschätzungen bei der ehemaligen Parteipräsidentin Djuna Bernard und ihrem Ko-Parteipräsidenten François Benoy ein. Das neue Duo würde sich gut ergänzen. Mit Benoy habe sie bereits ein Tandem im Parlament gebildet: „Wir waren als Abgeordnete Sitznachbarn.“ Ihr Ko-Parteipräsident François Benoy konzentrierte sich als Abgeordneter im Parlament (er verlor ebenfalls 2023 seinen Sitz) auf Landwirtschaft, Naturschutz und Wirtschaft, Empain auf Gesundheit und Verteidigung. Eine parlamentarische Anfrage aus dem Jahr 2023 betraf sechs Kündigungen im Nordspital, eine andere befasste sich mit der Frage, welche Militärstrategie („Plan directeur de la défense“) Luxemburg verfolgt. Als Vorsitzende der Verteidigungskommission wandte sie sich damit an den grünen Verteidigungsminister. Dieser geriet durch die Anfrage in Bedrängnis: Er musste antworten, dass die Leitlinien der Verteidigungspolitik nicht öffentlich einsehbar sind und somit keine öffentliche Auseinandersetzung darüber stattfinden kann.
Geraten Grüne nicht zwangsläufig bei Militarisierungsdebatten in Widersprüche? Stärkt die Ausrichtung der Partei auf Militärfragen nicht Ideale wie Härte, Gewaltanwendung, Dominanzausübung und hierarchisches Denken? Empain meint, die Grünen konterkarierten dies, indem sie sich für eine „feministische Außenpolitik“ einsetzen. Sie zitiert eine Studie, laut der Gesellschaften, in denen Geschlechtergleichheit ein hohes Niveau erreicht, zugleich eine hohe Bereitschaft zeigen, Konflikte nicht militärisch zu lösen. Die aktuelle Verteidigungsministerin Yuriko Backes sagte vor der Sommerpause, sie „glaube“, es komme zu einer neuen Diskussion über die Wehrpflicht. Welche Position wird Empain vertreten, wenn es darum geht, dass beide Geschlechter ihren Dienst absolvieren sollen? „Ich habe mir die Frage noch nie gestellt“, antwortet Empain. Sie könne spontan keine Meinung dazu äußern. Etwas später klingelt ihr Handy. Sie schaut auf den Bildschirm und stößt auf die Nachricht, dass die europäische Staatsanwaltschaft in der „Malt-Affäre“ ermitteln wird. „Ob sie von Gesprächen zwischen ihrer Partei und Sven Clement wisse“, fragte sie letzte Woche Maurice Molitor im Radio 100,7, und fügt hinzu, möglicherweise „sieht er keine Zukunft mehr“ in der Piratenpartei. „Oh wow, nicht dass ich wüsste“, antwortete sie. Wollen die Grünen Sven Clement nicht, hakt das Land am Dienstag nach? So habe sie das im Radio nicht gesagt, erwidert die neue Parteipräsidentin.