Vizepremier François Bausch über die Lage der Grünen, wie es ihnen in der Dreierkoalition erging und was auf dem Spiel stünde, wenn die Partei keine „Vision“ für die Bürger/innen entwickelt

Die Partei, die noch so viel vorhatte

E Patt nom Debakel. François Bausch in der Wahlnacht mit Dan Biancalana und Alex Bodry  von der LSAP in der RTL-City
Photo: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land du 03.11.2023

d’Land: Herr Bausch, Déi Gréng verloren am 8. Oktober in sämtlichen Gemeinden. In den größeren waren die Stimmanteile nur in der Hauptstadt und ihrem Speckgürtel sowie in Mersch und Betzdorf noch zweistellig. Demnach haben sich auch Stammwähler von der Partei abgewandt. Warum?

François Bausch: Schwer zu sagen, wie viele Stammwähler wir haben.

Zehn Prozent, sagt eine Faustregel. 2018 sah es nach 15 Prozent aus.

Zwischen acht und zehn Prozent, würde ich sagen. Ich meine, dass wir am 8. Oktober auf unsere Stammwähler reduziert wurden. Die Stimmen, die wir 2018 hinzugewonnen hatten, haben wir wieder verloren. Ich denke, ein großer Teil ging an die DP, ein kleinerer an die LSAP.

Die mathematische Schätzung von Luc Biever, dem früheren Ilres-Direktor, stimmt demnach?

Details werden die Exit Polls liefern, wenn sie vorliegen, doch im Grunde dürfte seine Schätzung stimmen. Das Klimathema und ökologische Themen generell sind auch international derzeit nicht gerade en vogue. Das ist ein Rückschlag nach 2016 bis 2020, als nach dem Pariser Klimagipfel Bewegungen wie Fridays for Future die Sorge um die Erderwärmung weit in die Gesellschaft trugen. Heute haben die Leute es satt zu hören, dass wir alle untergehen. Sie wollen wissen, wie wir gerettet werden können. Aber – das kommt hinzu – sie möchten, dass sich dafür möglichst wenig an ihrem Leben ändern muss. In Deutschland besteht der Trend auch, und in Belgien, wo nächstes Jahr gewählt wird, sehen die Umfragen für die Grünen ebenfalls nicht gut aus.

Dabei versprachen Déi Gréng, „die Leute mitzunehmen“. Mit Beratung und Beihilfen. Alles sollte freiwillig sein, der Eindruck „Verbotspartei“ vermieden werden.

Viele wollen sich offenbar einfach nicht in eine bestimmte Richtung mitnehmen lassen. Das ist die Realität, und wir werden uns fragen müssen, was „die Leute mitnehmen“ heißt.

Waren die Grünen 2018 die attraktivere DP?

In der ersten Legislaturperiode mit DP und LSAP gelang es uns, was wir gemacht haben, liberaler zu verkaufen. Fünf Jahre später wurde vor allem uns alles Negative angelastet. Was gar nicht der Realität entspricht. Wie gesagt, der Trend besteht international, klar ist aber, dass wir ihn die ganze Legislaturperiode lang unterschätzt haben. Vor zwei Wochen sagte auf der Straße eine ältere Dame zu mir, in den Bussen sei es zu kalt. Sie habe gehört, das sei so, weil die Grünen wollen, dass alle Heizungen runtergedreht werden. Das ist auch ein neues Phänomen: Irgendwelche Gerüchte, auch Lügen zu verbreiten, ist gesellschaftsfähig geworden.

In der zweiten Dreierkoalition waren Déi Gréng eigentlich in einer stärkeren Position als in der ersten. 2018 waren sie Wahlsieger gewesen.

Ja, 2013 waren wir nur Mehrheitsbeschaffer. Das hauptsächliche Match fand zwischen LSAP und DP statt. Die ließen uns gewähren, sie hatten uns nicht auf dem Radar. 2013 hatten wir eigentlich verloren, gingen aber in der Regierung mit viel Energie an unsere Dossiers. Die Tram ging in Betrieb… Wir bekamen viel realisiert, weil man uns in Ruhe ließ. Als die Wahlen 2018 nahten, rechnete niemand mit einer Neuauflage der Dreierkoalition. Alle dachten, die CSV komme zurück an die Regierung, und die Umfragen deuteten auf Schwarz-Grün hin. Da hatten wir auch andere Optionen. Wäre damals ein Restsitz im Süden nicht an die LSAP, sondern an uns gegangen, wäre Schwarz-Grün auf 31 Sitze gekommen.

Déi Gréng dockten damals an den Wachstumswahlkampf der CSV an. Sie selber taten das als Landesplanungsminister.

Das ist richtig.

Hätten Déi Gréng mit der CSV koaliert?

Weiß ich nicht, das Resultat war knapp. Hätten wir den Restsitz erhalten, wären DP, LSAP und Grüne ebenfalls auf 31 Sitze gekommen, aber die LSAP wahrscheinlich in die Opposition gegangen. Dann hätte die Frage sich gestellt, Schwarz-Blau oder Schwarz-Grün? Ich tippe darauf, dass die DP mit der CSV koaliert hätte, wenngleich Claude Wiseler einem Bündnis mit uns nicht abgeneigt war. Vielleicht wäre es dazu gekommen, wenn CSV und DP Gespräche aufgenommen und um den Premierposten zu streiten begonnen hätten, aber das ist aus heutiger Sicht müßig. Die für mich wichtigere Erkenntnis ist die, dass die Umfragen damals Schwarz-Grün möglich erscheinen ließen. Ich denke, das brachte uns Stimmen. 2023 dagegen war ziemlich klar, dass die Mehrheit der Wähler die Dreierkoalition nicht mehr wollte. Und ich meine, viele wählten die Partei raus, die keine andere Regierungsoption hatte. Das waren wir.

Sie glauben, ein beträchtlicher Teil der Wähler hat derart strategisch gestimmt und nicht gegen eine grüne Politik?

Es war wohl beides. Wir wurden voll sanktioniert und viele unserer Stimmen von 2018 gingen am 8. Oktober an unsere Partner. Heute sage ich: Wir realisierten zu spät, dass eine massive Kampagne gegen uns lief. Und ich sage auch selbstkritisch, dass wir aus der Koalition heraus entschlossener und klarer hätten sagen müssen, wann wir welchen Kompromiss eingegangen waren und welche Positionen wir eigentlich vertraten. Denn in der zweiten Legislaturperiode zu dritt waren DP und LSAP bei weitem nicht immer solidarisch uns gegenüber. Wir dagegen immer mit ihnen.

Meinen Sie mit „nicht solidarisch“ den Wohnungsbau?

Zum Beispiel. Henri Kox hat extrem viel gearbeitet und auch sehr viel geleistet. Im Wahlkampf sagte Xavier Bettel, die Lage im Wohnungsbau tue ihm leid. So hat er das gedreht. Heute sage ich mir, wie dumm waren wir, dass wir uns die jahrelangen Querschüsse auf Henri Kox gefallen ließen. Vor uns war die DP fünf Jahre lang für den Wohnungsbau zuständig, da war auch schon Krise. Wir hätten viel früher sagen müssen, es reicht! Hätten auch an die Öffentlichkeit gehen und erklären müssen: Die DP hatte das Wohnungsbauministerium fünf Jahre lang inne, hat aber die ganze Zeit nichts gemacht. Als die Baukrise kam, wurde im Regierungsrat entschieden, dass Henri Kox einen großen „Tisch“ präsidieren sollte. Wir wehrten uns dagegen, konnten uns aber nicht durchsetzen. Lex Delles hätte das machen müssen, die Baukrise betraf den Mittelstandsminister. Es war Camouflage, so zu tun, als sei der Wohnungsbauminister, der gar keine Mittel hat, schuld an dieser Krise. Aber das sage ich heute. Wenn die DP das so hinbekam und wir uns nicht wirksam wehrten, dann ist das unsere Schuld.

Allerdings. Dabei sind Sie ja wirklich kein Politik-Anfänger.

Wir waren geschwächt in der Koalition. Das begann im Sommer 2019 mit dem Schicksalsschlag von Félix Braz. Parallel begann die Traversini-Affäre, kurz darauf die Angriffe der CSV auf Carole Dieschbourg. 2021 kam Traversinis Gaardenhaischen-Affär zu Carole Dieschbourg und der Partei zurück. Wir waren in keiner starken Position. Wir mussten nicht nur überlegen, wie kommen wir hier über die Runden, wer übernimmt Ministerämter, wer rückt in die Kammer nach. Bei der knappen Mehrheit, die die Koalition besaß, waren wir wegen unserer internen Probleme politisch geschwächt. Wir hatten fast drei Jahre mit diesen Krisen zu tun. Was das anging, waren unsere Koalitionspartner solidarisch mit uns, aber sie haben unsere Situation politisch ausgenutzt. Man kann weniger forsch auftreten, wenn man in der Defensive ist, und das waren wir.

DP und LSAP konnten Entscheidungen durchsetzen, die zu akzeptieren Déi Gréng Probleme hatten?

Es war eher so, dass wir uns schlechter durchsetzen konnten. Wenn wir hätten weiterarbeiten können wie vor 2018, und mit dem Wahlergebnis von 2018 im Rücken, hätte es uns das Leben erleichtert. Ich will nicht behaupten, dass wir dann die Wahlen am 8. Oktober nicht verloren hätten. Aber wir hätten sicherlich den Schaden stärker in Grenzen halten können.

In den Wahlkampf gingen Déi Gréng mit ihrem „Bilan“. War das Ihre Entscheidung?

Natürlich, und was hätten wir sonst machen sollen?

Bilanz ist ziemlich langweilig. Es deutet nicht auf Zukunftsideen hin, höchstens auf ein „Weiter so“.

Zum einen ist unsere Bilanz in allen ministeriellen Bereichen sehr gut. Zum anderen sollte „Eise Bilan“ nicht verstanden werden, als sei schon alles erledigt. Sondern: Wir haben gut gearbeitet, und seht mal, was noch alles vor uns liegt. Und: Wenn wir nicht da sind, dann besteht die Gefahr, dass es nicht vorwärtsgeht. Wenn ich an den nationalen Mobilitätsplan 2035 denke und an die vielen Projekte für eine andere Verkehrspolitik, die er enthält, dann habe ich meine Zweifel, ob das in den nächsten Jahren so weitergeht. CSV und DP werden sicherlich sagen: Selbstverständlich! Aber wir werden sehen, wo bei den Investitionen die Schwerpunkte liegen. Dass der nationale Energie- und Klimaplan umgesetzt wird, wie von uns vorgesehen, halte ich ebenfalls für fraglich. Ich denke eher, dass über Nebenschauplätze diskutiert werden wird. Über „vernünftigen Naturschutz“, was immer das heißen soll.

Bemerkenswerterweise wurden die Minister Claude Turmes im Norden und Henri Kox im Osten nicht gewählt. In zwei ländlich geprägten Bezirken. Kann es sein, dass die Bilanz-Kampagne mit dem Klimaschutz zusammen mit allen Leuten für eine besserverdienende Wählerschaft in urbaneren Gegenden angebracht war, aber nicht im ländlichen Raum? Wo die Leute nicht Rad fahren, sondern auf ihr Auto angewiesen sind? Denen die Hauptstadt-Tram egal ist, die sich vielleicht im Ösling breitere Straßen wünschen und sich aufregen, wenn auf der CFL-Nordstrecke ein Tunnel einstürzt und seine Reparatur lange dauert?

Es gibt sicher einen großen Stadt-Land-Unterschied, aber den gab es früher schon. Neu ist, dass nun auch die traditionellen Parteien einen Sprachgebrauch haben wie bisher allein die ADR. Wenn die ADR sagt, das Verbot des Verbrennungsmotors ist total daneben, dann ist das richtig populistisch. Wenn aber die CSV sagt, oder die DP und die LSAP, „wir sind für einen vernünftigen Umweltschutz“, dann haben auch sie sich darauf eingelassen und geben zu verstehen, dass die Grünen für eine unvernünftige Politik stünden. Deshalb finde ich, dass ein Rechtsruck auch im Sprachgebrauch stattgefunden hat. Die Parteien, die uns aus der Regierung rausgebracht haben, werden einen Preis für diese Entwicklung bezahlen.

Ich frage mal anders: Sind Sie sicher, dass Déi Gréng genug Empathie für die Belange der kleinen Leute haben, dass das Sensorium der Partei dafür genug geschärft ist?

Es ist schon richtig, dass wir kopflastig geworden sind. In den nächsten Jahren muss die Frage für uns sein, wie wir die Themen, die wir wichtig finden, mehr in eine Vision einpacken. Mit der wir den Leuten beweisen, dass unsere Politik für sie kein schlechteres Leben bringen wird, sondern sogar ein besseres.

Hätten Déi Gréng diese programmatische Diskussion nicht längst führen können? Die Attacken der CSV begannen vor drei Jahren. Auf grünen Kongressen aber wird schon lange nicht mehr diskutiert.

Wir müssen das Image loswerden, wir würden den Leuten vorschreiben wollen, wie sie zu leben hätten. Wir haben diesen Prozess intern begonnen, lassen uns dazu auch beraten. Aber auf Kongressen löst man das nicht. Im Juni habe ich gemeinsam mit Claude Turmes eine Tour durch den Norden gemacht. An sechs Abenden haben wir nicht übers Fahrrad gesprochen, sondern es ging darum, welche Projekte wir für den Norden hätten. Die Frage ist auch, wie man an die Leute rankommt. Mein Eindruck ist, dass im Moment einfach kaum jemand mit uns diskutieren will. An solchen Abenden wurde am Ende nur noch gestritten, das war nicht schön. Déi Gréng müssen für viele Probleme als Sündenböcke herhalten. Wir müssen herausfinden, woher das kommt. Ohne in Selbstmitleid zu verfallen. Zum Heulen besteht in einer Demokratie kein Anlass. Wir müssen es schaffen, die Mauer, die entstanden ist, abzutragen, damit es wieder zu einem konstruktiven Dialog mit den Bürgern kommen kann.

Sie sagen, Sie hätten Zweifel wegen des Energie- und Klimaplans. Aber könnten CSV und DP den nicht am Ende doch umsetzen wie eine Regierung mit Déi Gréng? Die großen Regeln in der Klimapolitik werden in der EU festgelegt. Technologien sind am Markt, vielleicht kommen demnächst viele billige Elektroautos aus China. Es könnte auch ohne Grüne gehen.

Das sehe ich nicht so. Zum einen war der Klimaplan in der Koalition extrem umstritten. So umstritten, dass wir Grüne deutlicher hätten sagen müssen, mit wem wir in welcher Hinsicht auf einer Linie lagen und mit wem nicht. Diskussionen wie in Deutschland wären das falsche Extrem gewesen. Aber man muss sagen können, wir sind ein bisschen festgefahren und hätten gern eine öffentliche Debatte. Wir haben das alles koalitionsintern ausgefochten, und das war nicht einfach. Der andere Aspekt sind die Wahlversprechen der CSV…

… „méi netto vum Brutto“.

Das hat Luc Frieden angekündigt und sich eine Woche nach den Wahlen sagen lassen, dass die Lage der öffentlichen Finanzen schwierig ist. Als ob das eine Überraschung wäre, das war vor den Wahlen schon klar. Ist nicht genug Geld in der Kasse, brichst du entweder dein Versprechen, oder du unternimmst etwas in Richtung des Versprechens und sparst woanders. Ich denke, das wird geschehen. Aber bei den Investitionen zu sparen, hieße automatisch, den Klimaplan infrage zu stellen, da vieles, was dort steht, Investitionen voraussetzt. Und wenn Luc Frieden behauptet, allein durch Beschleunigung der Prozeduren würden demnächst auf allen Dächern Solarzellen liegen, wird er merken, dass das nicht so schnell geht, weil schon die Manpower fehlt, um sie zu installieren. Elektroautos schließlich – klar wäre es gut, wenn sie preiswerter würden. Aber das reicht nicht, man muss das Mobilitätssystem ändern. Wie schwer das politisch ist, erlebte ich die letzten zehn Jahre im EU-Transportministerrat. Wo immer gesagt wird, wir müssten Alternativen zum Fliegen schaffen, die Eisenbahn entwickeln, aber es geschieht nichts. Und wenn man das nötige Geld hat, muss man noch bauen. In den seltensten Fällen sind es Fledermäuse, die da stören. Ich habe bei der Tram erlebt, welche Widerstände von Besitzern es gibt: Ich will die Tram nicht vis-à-vis. Ich gebe mein Grundstück einfach nicht her, und so weiter. Wenn in Luxemburg-Stadt der weitere Tram-Ausbau scheitert, dann weil Lydie Polfer noch auf demselben Trip ist wie vor 25 Jahren. Sie stellt die Linien nicht infrage, aber hat noch immer nicht verstanden, was es heißt, ein Tram-Netz aufzubauen. Ihr Schlagwort ist: Ich will die Stadt weiter zugänglich für das Auto halten. Luxtram wartet auf eine politische Entscheidung über eine Tram entlang der Arloner Straße. Daran hängt auch der PAP Stäreplaz, die Investoren müssen wissen, ob die Tram dorthin kommt. Ich wollte dazu schon im Frühjahr eine Entscheidung, wegen der Gemeindewahlen hat Lydie Polfer nicht mitgemacht. Es wäre kein Drama, es im Frühjahr 2024 zu entscheiden, was ich sagen will, ist: Wenn die Mobilitätsinvestitionen nicht kommen, geht der Klimaplan nicht auf.

Auffällig war am 8. Oktober auch, dass kein grüner Abgeordneter gewählt wurde. Das bedeutet, die grüne Fraktion war schwach.

So würde ich das nicht sagen. Wir haben von neun Sitzen fünf verloren. Von den verbleibenden vier gingen drei an Regierungsmitglieder, da spielte der Ministerbonus, außer für Henri Kox und Claude Turmes. Meris Sehovic hat sich sehr gut geschlagen. Die Abgeordneten wiederum waren fast alle sehr jung.

Aber politische Impulse gab es aus der grünen Fraktion keine. Nicht zur Sozialpolitik, nicht zur Gesundheitspolitik, die ab Anfang des Jahres hohe Wellen schlug.

Richtig ist, dass wir es während der gesamten Dreierkoalition, aber vor allem in der zweiten Legislaturperiode verpasst haben, dafür zu sorgen, dass die Fraktion ein Eigenleben gegenüber der Regierungspolitik führen konnte.

Das heißt, Sie waren auch der heimliche Fraktionschef?

Nein, ganz sicher nicht. Unsere jungen Abgeordneten waren sehr beschäftigt mit Berichten für Gesetze. Die grünen Minister haben ja viel geliefert, man muss sich nur mal anschauen, wie viele Gesetzentwürfe deponiert wurden. Da waren die Abgeordneten ständig gefordert und hatten keine Zeit, zu sagen, nun setzen wir uns mal neben uns und reflektieren über unsere politische Arbeit. Das müssen wir anders hinbekommen. Das ist auch eine Herausforderung für das Parlament generell. Partei und Fraktion sollten nicht unsolidarisch mit der Regierung sein, wenn man an der Regierung ist, aber ein Eigenleben haben. Themen aufgreifen, die in der Gesellschaft sind. Das Armutsproblem aufzugreifen, hätte zum Beispiel der grünen Fraktion gut zu Gesicht gestanden. Oder die Frage, was die Künstliche Intelligenz für unsere Gesellschaft und für die Arbeitswelt bedeutet. Leider wird so ein Eigenleben von Mehrheits-Fraktionen in Luxemburg noch skeptisch gesehen. Als würde die Regierung dadurch desavouiert. Das ist falsch, unsere Vorstellung von Parlamentarismus ist total überholt. Um das zu ändern, braucht es allerdings einen parteienübergreifenden Konsens, von dem wir noch weit entfernt sind.

Werden Sie die Sensibilité politique von Déi Gréng führen oder wird Sam Tanson das machen?

Sam Tanson wird Sprecherin. Die anderen Zuständigkeiten werden wir von den Dossiers abhängig machen. Unser Ansatz wird nicht sein, ständig die Regierung zu kritisieren. Das wäre peinlich. Wenn die Regierung etwas macht, das wir richtig finden, werden wir das sagen. Wir werden abwarten, was im Koalitionsprogramm steht und wie die Regierung sich zusammensetzt. Wer ihr angehört und wofür zuständig ist, bedeutet etwas. Als ich nach den Wahlen von einem Rechtsruck sprach, hatte das weniger mit dem Zugewinn von einem Sitz für die ADR zu tun, als damit, dass bei CSV und DP nicht gerade diejenigen gut gewählt wurden, die für viel Ökologie und Soziales stehen.

Folgt daraus eine Zusammenarbeit mit der LSAP, wie Alex Bodry sie sich schon vorgestellt hat, oder werden Déi Gréng strategisch die Nähe zur DP suchen?

Ich meine, es wäre ein Fehler, uns gedanklich in der Konstellation Dreierkoalition einzusperren. Zu den Wahlen am 8. Oktober blieb uns machtpolitisch keine andere Option, jetzt aber sind wir frei. Wir werden unser Profil schärfen. Es ist nicht so, dass wir mit der LSAP quasi deckungsgleich wären. Sie sagt oft, sie sei auch für Ökologie, aber in der Realität verhält sie sich nicht immer so. Wenn es darauf ankommt, ist ihr Engagement dafür so hundertprozentig nicht. Jedenfalls haben wir das in der Regierung so erlebt.

Und welche Rolle werden Sie spielen, nach fast 40 Jahren in der Politik?

Mal sehen. Ich habe gesagt, ich nehme mein Kammermandat an. Ich werde sicher weder in der Partei noch in der parlamentarischen Gruppe eine Führungsrolle übernehmen. Sicher ist, dass Sam Tanson die große Rolle spielen wird. Sie, die neu Gewählten und die vielen Talente in der Partei, wie Djuna Bernard, François Benoy, Jessie Thill und Stéphanie Empain sind die Zukunft von Déi Gréng.

Dass Déi Gréng keinen Fraktionsstatus hatten, war seit 1989 nicht mehr der Fall.

Ich kenne diese Zeit noch. Aber damals hatten wir zu viert weniger Mittel als heute. Sogar zu fünft und als Fraktion stand uns in den Neunzigerjahren weniger zur Verfügung. Die Parteienfinanzierung gab es damals nicht, wir hatten nur das Geld, das die Abgeordneten von ihren Diäten abtraten. Die Entschädigung für die Kammer-Mitarbeiter war viel niedriger als heute. Dass wir nun wertvolle Mitarbeiter verlieren, ist sehr bitter. Wichtig ist aber, dass wir wieder mehr Leichtigkeit in unsere Aktionen bekommen. Nicht nur daran denken, wann wir eine Pressekonferenz zu welchem Thema machen, sondern mehr Humor in unsere Politik bringen. Das konnten wir früher viel besser.

Peter Feist
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