Am Karsamstag wiederholte Präsidentin Nora Back bei RTL: Der OGBL sei in der Tripartite durchaus zur Verschiebung einer Indextranche bereit gewesen. Voraussetzung seien „sérieux Contrepartien“ gewesen. „An do wor eis Haaptfuerderung d’Upassung vum Steierbarème un d’Inflatioun.“
Die Hauptforderung war eine Verlegenheitslösung: Statt der Löhne und Renten sollte die Einkommensteuertabelle an den Index angepasst werden. Der Staat sollte verzichten, damit die Unternehmen sparen.
Die Steuertabelle ist in 23 Einkommensstufen eingeteilt. Auf höheren Einkommensteilen wird ein höherer Steuersatz erhoben: Auf 12 000 Euro acht Prozent, auf 2 000 Euro mehr neun Prozent. Die progressive Steuertabelle trägt nicht den Klassenunterschieden Rechnung. Sie konzentriert sich auf die Einkommensunterschiede unter Lohnabhängigen und Kleinbürgern. Im Wahlkampf heißt das „Mittelstandsbuckel“.
Werden die Nominallöhne an den Preisindex angepasst, bleiben die Reallöhne konstant. Sie steigen aber auf höhere Einkommensstufen der Steuertabelle und werden stärker besteuert: Die Netto-Reallöhne sinken. Der Staat nimmt eine heimliche Erhöhung der Lohnsteuer vor.
Die Steuerreform von 1967 sollte diese „kalte Progression“ beenden. Das Gesetz sah vor, dass die Einkommensstufen der Steuertabelle an den Index angepasst werden. So sollten die Netto-Reallöhne fast konstant bleiben. (Nur fast, wenn die Freibeträge und Abzugsposten nicht angepasst werden.) Doch statt einer „automaticité absolue de l’adaptation“ (Gesetzentwurf 57125, S. 9) überließen CSV und LSAP sie dem Gutdünken der Regierungsmehrheiten.
Seit 1996 schreibt Artikel 125 des Gesetzes eine automatische Anpassung vor. Aber bloß, wenn die jährliche Inflationsrate mindestens 3,5 Prozent ausmacht. Seit 1996 lag die Inflationsrate jedes Jahr unter 3,5 Prozent. So drückten sich die Regierungen an einer Anpassung vorbei. Sie erhöhten die Lohnsteuer heimlich, ohne sich bei der Wählerschaft unbeliebt zu machen.
Derzeit steigt der Index um sechs Prozent. Im ersten Halbjahr könnten es 3,5 Prozent sein. Eine Anpassung wäre nicht mehr zu umgehen. Die Hauptforderung des OGBL war die Beachtung von Artikel 125 des Einkommensteuergesetzes.
Die DP versprach 2009 in ihrem Wahlprogramm: „Die regelmäßige Anpassung des Steuertarifs sowie der Freibeträge an die Inflation wird automatisch erfolgen“ (S. 36). Die LSAP versprach 2013 in ihrem Wahlprogramm „die Anpassung der Steuertabelle an die Preisentwicklung im Rahmen der haushaltspolitischen Zumutbarkeit“. 2018 versprachen nur noch die Oppositionsparteien: „Wir treten für die regelmäßige Anpassung der Steuertabelle an die Inflation ein“ (CSV-Wahlprogramm, S. 7).
2009 trug die Steuertabelle zum letzten Mal der Nominallohnentwicklung Rechnung. Laut einem Rechenmodell der Zentralbank führt die Nichtanpassung zu einem „accroissement automatique de la pression fiscale d’environ 0,1% du PIB par an“ (Bulletin 2006/2, S. 104). Beim derzeitigen Bruttoinlandsprodukt machen die heimlichen Einkommensteuererhöhungen 65 Millionen Euro jährlich aus.
Über die Tripartite-Sitzung vom 22. März berichtet OGBL Aktuell 2/2022 (S. 9): Es „unterbrechen insbesondere die beiden Minister der Grünen – Turmes und Bausch – die OGBL-Präsidentin ständig. Sie zeigen sich ‚schockiert, schockiert!‘“, von „der Forderung der Anpassung der Steuertabelle an die Inflation (‚wissen [S]ie, was das kostet!‘).“
Die Frage nach dem Kostenpunkt klingt unsinnig. Die Anpassung der Steuertabelle an den Index kostet den Staat nichts. Sie verhindert ungerechtfertigte Mehreinnahmen durch eine heimliche Steuererhöhung. Vielleicht war die Frage umgekehrt gemeint. Die Minister wollten die Gewerkschafterin fragen: „Wissen Sie, was die Nichtanpassung die Steuerpflichtigen kostet?“ Anscheinend so viel, dass sie schockiert waren.