In Guy Rewenigs bitterböser Abhandlung Bärenklau geht der Schriftteller der Frage nach, ob sensitivity reader für die literarische Gestaltungsfreiheit so dauerhaft schädlich sind wie Bettwanzen oder nur so nervig wie eine störrische Wespe, die ins sommerliche Feierabendbier baden geht. Bei sensitivity reader handelt es sich um von einem Verlagshaus beauftragte und darauf geschulte Lektor:innen, die bei der „kritischen Begutachtung von Texten […] darauf [zu] achten, ob nicht irgendwelche Leser:innen sich durch bestimmte Aussagen der Autor:innen verletzt fühlen können“ – also um Menschen, die den ersten Satz dieses Artikels gleich an mehreren Stellen umgeschrieben hätten, weil sie meine Vergleiche bestenfalls als dreist und schlimmstenfalls als beleidigend empfunden hätten1.
Eine kurze Historie dieser doch sehr neuen Praxis kommt an zwei Fallbeispielen nicht vorbei: Nach einigen vereinzelten Fällen von Romanen, deren Titel wegen sehr offensichtlicher rassistischer Diskriminierung geändert wurden2, war es Roald Dahl, der den Stein ins Rollen brachte. Nachdem Verleger Puffin Dahls schriftliche Erzeugnisse nach heutigen Standards als moralisch verwerflich qualifizierte, wurden Befindlichkeitslektoren angeheuert, nach deren Schwerstarbeit die Oompa Loompas genderneutral und Frau Twit nicht mehr „gemein und hässlich“ sondern nur noch „gemein“ war. Da in der Literatur jede Textänderung eine sofortige Auswirkung auf die Fiktionswelt hat, wurden die Oompa Loompas und Frau Twit unter Eingriff dieser Euphemismen, Abschwächungen und Zensuren ontologisch umgeformt. Dahls französischer Verleger Gallimard empfand diese Vorgehensweise als skandalös, anderswo wurde argumentiert, da Dahl eh ein Antisemit gewesen wäre, wäre es völlig in Ordnung, in seine Texte hineinzupfuschen3.
Auf den zweiten Fall unserer kurzen diachronischen Historie kommen wir gleich zurück – erstmals würde ich nämlich gerne ein wenig auf Rewenigs „Bärenklau“ eingehen um zu vermeiden, die Befindlichkeit des Schriftstellers zu verletzen, der ansonsten den Eindruck erhalten könnte, sein „kleines Buch“, wie er es in einem Anfall von Selbstbefindlichkeitslektorats bezeichnet, wäre nur ein Vorwand, um das globale Phänomen des sensitivity reader zu analysieren.
Bärenklau (die Pflanze) bezeichnet einen „invasiven Doldenblütler“, den man weder durch „Ausgraben, Abmähen oder Rausreißen“ bekämpfen kann und der folglich nur mit chemischen Waffen vernichtet werden kann. „Bärenklau“ (das Buch) ist der abgedruckte Text einer (fiktiven) Konferenz von Lina Mack, die als sensitivity reader in einem Verlag arbeitet. Während ihres Vortrags zerpflückt Mack einen gänzlich harmlosen Kurzprosatext auf problematische Stellen zur literarischen Nichtigkeit und zeigt somit deutlich, dass aufmüpfige Schriftsteller nichts anderes als Bärenklau in den Augen des Befindlichkeitlektors sind – wobei Rewenig gleichzeitig suggeriert, dass diese Metapher auf Gegenseitigkeit beruht.
Der Begriff sensitivity reader selbst birgt dabei einige Antinomien, die Guy Rewenigs Bärenklau zum Teil mit dem für ihn typischen bissigen Zynismus zur Schau stellt. Der sensitivity reader ist jemand, der auf die hypothetischen Befindlichkeiten seiner Leserschaft achtgeben muss, sich aber aufgrund des angelsächsischen Namens, der seinen Berufsstand bezeichnet, eigentlich bereits auf die Seite genau der sprachlichen Unterdrückung stellt, durch die die vom sensitivity reader zu verteidigende Vielfalt eingestampft wird. Kurz gesagt: Wäre der sensitivity reader wirklich darauf aus, die Befindlichkeiten aller und jeden zu respektieren, dürfte er gar nicht als sensitivity reader bezeichnet werden sondern müsse, aus Gründen der sprachlichen Diversität, anders heißen.
Und würden wir die sensitivity aller und jeder im alltäglichen Sprachgebrauch ständig und jederzeit respektieren, kämen wir gar nicht mehr darum herum, stets ellenlange oder gar unendliche inklusive Listen zu führen – oder würden, wie es uns Wittgenstein angeraten hat, einfach nur schweigen. Dass Sprache jeden Augenblick vom Redner oder Schreiberling verlangt, zwischen einem sehr reichhaltigen Kontingent an möglichen Wörtern zu wählen, hat Sprachwissenschaftler Roman Jakobson 1963 festgestellt – in der französischen Linguistik spricht man von einem axe paradigmatique, in der deutschen von Substitutionsklasse. Reden bedeutet wählen, und wählen bedeutet ausgrenzen. So stört es Frau Mack natürlich, dass ihr Autor in seinem Text von Fahrgästen redet – dieses Hyperonym kaschiert sträflich die Diversität der Menge, die der Schreiberling so „neutralisieren“ möchte.
Eine zweite Antinomie liegt daran, dass das sensitivity reader das Lektorieren von der Produktions- auf die Rezeptionsebene verlagert, sprich den literarischen Text in Bezug auf die potenziale Leserschaft und nicht mehr in Bezug auf das Werk des Autors zu lektorieren. Wurden früher Akzente auf Stimmigkeit, Kohärenz und Figurenzeichnung gelegt, soll nun der diffuse Begriff einer unbestimmten und unbestimmbaren Leserschaft herhalten. Wo es für Medien möglich oder gar wesentlich ist, eine Zielleserschaft zu erörtern, müsste gerade der Autor über eine wenn nicht absolute, dann aber doch sehr großzügige Gestaltungsfreiheit verfügen – es sei denn, er schreibt durch und durch für ein Zielpublikum, wie das bei Bestsellerautoren oder Genre der Fall sein kann. Und hier liegt der springende Punkt: Das Befindlichkeitslektorieren interessiert sich nicht für den Autor, sondern für die Leserschaft, da sie es ist, die im Endeffekt für das Produkt zahlt. Unter dem Deckmantel der moralischen Integrität wird das Buch so als geschliffenes Produkt für die unter dem Neoliberalismus inklusivste Leserschaft überhaupt vermarktet: der Käufer.
Vor etwa zwei Jahren griff der frankokanadische Schriftsteller Kevin Lambert für sein mit dem Prix Médicis ausgezeichneten Roman Que notre joie demeure auf einen sensitivity reader zurück, worauf Nicolas Mathieu vehement reagierte: Solche Eingriffe in den Schreibprozess würden an Autozensur grenzen und wären der Anfang vom Ende der künstlerischen Freiheit. Wie Mathieu später zugab: Der Streit lag einem Missverständnis zugrunde, Lambert hatte lediglich auf einen Befindlichkeitslektor zurückgegriffen, um sicher zu gehen, dass er keinen „Quatsch“ über eine seiner Figuren – eine Frau mit Haitianischen Wurzeln – schreiben würde.
Hier stehen sich zwei Auffassungen des sensitivity reader entgegen: In Lamberts Fall schaltet der Schriftsteller lokal Lektor:innen ein, die sicher gehen, dass der Autor in seiner Figurenzeichnung nicht etwa aufgrund seiner Verankerung in seiner Identität als (in diesem Falle) weißer angelsächsischer Mann irgendwas unangemessenes schreibt, in Rewenigs und Mathieus Auffassung zensieren sensitivity reader ein Werk, um aus der Literatur ein abgestumpftes, liebliches, massentaugliches Produkt zu gestalten. Bei Lambert ist sensitivity reader lokal und kontrolliert, bei Mathieu und Rewenig global und aus den Fugen geraten – die Praxis wird Teil dieser Art political correctness, die ziemlich unbeholfen versucht, die Rüpelhaftigkeit der Boomer-Generation mit einer exzessiven Behutsamkeit auszugleichen.
Rewenig warnt so vielmehr vor dieser Art Überspitztheit, die ein an sich normales Phänomen – jeder Schriftsteller trägt die Verantwortung, seine Figuren so diskriminationsfrei zu gestalten, wie es das in seinem Roman implizit aufgestellte Wertesystem verlangt – in einen kompositorischen Zwang umwandelt. So stört Lina Mack bereits der an sich abgedroschene Vergleich der Sardinen in der Büchse: „Sardinen sind Lebewesen. Ihre Leidensfähigkeit steht außer Frage. Sie werden von perversen Menschen ermordet und aufgefressen. Dieser Massenmord scheint den Autor nicht zu rühren.“ Oder, wie es im Vorwort zu „Bärenklau“ weiterhin steht: „Da sich grundsätzlich alle Mensch:innen jederzeit über alle Sätze in allen Texten der Welt empören können, haben die sensitivity reader in den Verlagen eine wahre Sisyphusarbeit zu bewältigen.“