Roy Fuller und sein Gefährte Roy Spiegel sollen einen Kunstsammler aus dem Verkehr ziehen. Abwesende Auftraggeber, ein machiavellistischer Taxidermist, ein Paar Meerschweine, eine mafiöse Bande in der Pariser Banlieue, literweise Gin, Ex-Flammen und alte Freundschaften, verschwommene Erinnerungen und ebenso diffuse Zukunftspläne erschweren es den beiden Auftragsmördern jedoch, einen kühlen Kopf zu bewahren und ihre Mission so geradlinig auszuführen, wie es ihnen zwar lieb wäre, es jedoch kein Geschichtenerzähler, der etwas auf sich hält, erlauben würde.
Fjorde war der Lyrikband aus der vermeintlichen nordischen Heimat, mit dem weitaus erzählerischer gestaltetem und auf die Luxemburger Kulturszene bezogenen Die Tanzenden begann das Rätselraten, wer sich hinter Tomas Bjørnstad verstecken würde. Das opulent angelegte Von der schönen Erde war gleichzeitig frühes Opus Magnus, postmodernes Vexierspiel, Hommage an die verspielte Avantgarde eines Julio Cortázar und dichter Metatext, der nicht nur den Menschen hinter Bjørnstad aus dem Schatten der Pseudonymie treten ließ und das Prinzip der Heteronymie als Werkpoetik theorisierte, sondern auch das restliche Programm des Gesamtwerks aufschlüsselte.
Das vor zwei Wochen erschienene Die Verlorenen ist nicht nur die vierte Veröffentlichung von Tomas Bjørnstads dreizehn Bände umfassendem Gesamtwerk, sondern vor allem die erste, bei der die Hypothesen um die Identität hinter Bjørnstad dem veröffentlichten Werk nicht mehr die Schau stehlen.
Rein werkimmanent kann der Leser die Geschichte um die beiden Profikiller dennoch nicht rezipieren – denn Die Verlorenen ist nicht nur ein Roadmovie durch die Pariser Banlieue, sondern auch und vor allem, wie es der Name der beiden Hauptfiguren bereits andeutet, eine Reise durch die Filmgeschichte, gespickt mit Referenzen, die aufzulisten den Rahmen dieses Artikels sprengen würde.1
Denn ein bisschen wirkt es, als hätte Tomas Bjørnstad quasi bulimisch von Pulp Fiction über Fargo bis hin zu In Bruges alle Filme in seinem Buch verdichtet, in denen zwei zwielichtige Buddies in ein mehr oder weniger undurchsichtiges Netz an Intrigen hineingeraten. Von John Travolta und Samuel L. Jackson übernehmen Roy mal zwei die ausschweifenden, herrlich schwachsinnigen Dialoge, die sich mal metaphysisch-paranoiden Gemeinplätzen hingeben („Nicht mal dem Sonnenaufgang ist zu trauen!“), mal in einer Pervertierung von Jean Baudrillards Überzeugung, ganz US-Amerika wäre ein einziges Disneyland, einen urkomischen Micky-Maus-Fetisch herbeidichten. Von Fargo entleihen sich die beiden nicht nur die Provinz-Tristesse, sondern auch den absurden Disclaimer („Diese Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten“), von Martin McDonagh die fast schon Beckettsche Weltmüdigkeit und die Anspielung auf die Angst, während einer Mission ein Kind zu töten – und von David Lynch die abgetrennten Körperteile.
Roy hoch zwei sind weniger ernstzunehmende fiktionale Gestalten als aus Fetzen anderer Filme und Fiktionen zusammengenähte Marionetten, aus denen Bauchredner Bjørnstad die Filmgeschichte sprechen lässt. Was genau den beiden langjährigen Partnern als nächstes widerfährt, entscheiden aber nicht nur diverse Filmanleihen, sondern auch die vorerst unsichtbare Matrix, die die Wortwahl der beiden Figuren bestimmt: Die Verlorenen bleibt bei aller Filmliebe durch und durch ein literarisches Werk, und die größte Hommage wird hier Georges Perec, dem Meister der littérature à contrainte schlechthin, erteilt.
So ist bereits der Titel eine durch den Sprachenwechsel leicht verzerrte Anspielung an dessen La disparition. Wo bei Perec aber ab dem fünften Kapitel der Buchstabe e entfällt, ist es hier das gesamte Alphabet, das abwechselnd verschluckt wird. Und wo bei Perec meist die Biografie, beziehungsweise die tragische Familiengeschichte des Autors bemüht wird, um dem abwesenden Buchstaben eine semantische Legitimierung zu geben, gibt es bei Bjørnstad einen textimmanenten Grund, wieso der Sprachschatz der Figuren nicht mehr abrufbar ist: Nach der Smartcity in Von der schönen Erde steht hier ein gegen den Willen der Patienten während einer OP eingepflanzter Chip im Zentrum, der es erlaubt, seine Opfer nach und nach von einer KI zu steuern. Die Auswechslung eines oder mehrerer Menschen, bei Helmingers rezentem Kappgras noch psychologisch-intim, zeichnet hier eine trostlose Welt des Post-Anthropozäns, für die sich der Mensch selbst verantwortlich zeichnet.
Die contrainte oulipienne, der Die Verlorenen zugrunde liegt, fordert einige formale wie semantische Opfer. Ganz bewusst wird das Buch nicht etwa als Drehbuch, sondern eben als Film, als Director’s Cut sogar, bezeichnet. Untertitel: Bande non dessinée – so als wäre Die Verlorenen eine fiktionale Verfilmung einer niemals gezeichneten Graphic Novel.
Eigentlich aber ist Die Verlorenen einer dieser nicht identifizierbaren Hybridtexte, wie sie Nico Helminger in den letzten Jahren perfektioniert hat. Ganz gleich, ob es sich um Fragmente und Skizzen (Von der schönen Erde), ein Erzählwerk (Kappgras), Menn Malkowitschs Chronik oder nunmehr den Director’s Cut handelt – bei Helminger sind die Genredefinitionen auf dem Buchdeckel immer gleichermaßen Indizien, die den Interpretationsprozess ankurbeln wie Finten, die in hermeneutischen Sackgassen enden.
Mit dem Drehbuchformat bricht Bjørnstad auf diversen Ebenen: Sehr oft weiß man überhaupt nicht, welcher Roy gerade redet, was zur Konsequenz hat, dass man Roy und Roy manchmal gar nicht unterscheiden kann und man sehr behutsam die (eigentlich auch schon fast unwichtigen) Eigenarten der beiden aus dem Text destillieren muss (der eine ist Dichter, der andere Boxer, der eine scheint ein wenig aggressiver, dennoch ist es der andere, der liebend gerne Ärzte verprügelt).
Wo im Drehbuch die Polysemie des literarischen Texts einer maximalen Klarheit, bedingt durch die Notwendigkeit transparenter Regieanweisungen, weichen muss, sind Bjørnstads Verlorene auch manchmal die orientierungslosen Leser, die im Dunkeln dieser verregneten Non-Graphic Novel tappen, sodass der vierte Band der Bjørnstad-Reihe durch den amüsierten je-m’en-foutisme seiner Didaskalien immer wieder an die beiden tragischen Gleichgültigen der Theatergeschichte, Becketts Vladimir und Estragon, erinnern.
Denn letztlich ist Bjørnstad ein wenig wie der fiese Erzähler Bla, der in einer im Originalfilm herausgeschnittenen, für diesen Director’s Cut jedoch zentralen Text-im-Text-Episode ein Königreich verzaubert: Seine Willkür entscheidet, was den beiden Roys widerfährt, was der Leser zusammenpuzzeln kann – und was nicht. „Und wenn er nicht gestorben ist, erzählt er noch heute.“