2009 wurde in Luxemburg ein neues Schulgesetz gestimmt. Es hatte die Ambition, das Grundschulsystem, das bis dato noch auf dem Schulgesetz von 1912 basierte, grundlegend zu modernisieren und den sozialen Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen. „Diese Reform kennzeichnet einen kategorischen Einschnitt in das Luxemburger Schulsystem und ist als historischer Wendepunkt zu betrachten, was das Schulwesen im Allgemeinen und die Curriculumarbeit im Besonderen angeht“ stellt Sabrina Sattler in einer Monographie fest, die kürzlich im Transcript-Verlag erschienen ist. In dieser Publikation, die aus der Doktorarbeit der Forscherin hervorgegangen ist, untersucht sie das Zusammenspiel von (sprach)geschichtlichen Phänomenen, sprachlicher Identität und der Entwicklung des Schulcurriculums in Luxemburg. Sie bedient sich dabei einer angelsächsischen Tradition der curricular studies, deren Anliegen es ist, die unterschwelligen Mechanismen herauszuarbeiten, die einem Schulcurriculum zugrunde liegen. Ziel ihrer Forschung ist demnach, die Ereignisse nicht bloß zu reproduzieren, sondern vielmehr Legitimationsstrategien im Bildungskontext sichtbar zu machen und diese kritisch zu beleuchten. Sattler benutzt dabei das von Ludwig Fleck geprägte Konzept des „Denkstils“. Dieses betrachtet Denken als ein kollektiver Prozess. Wissen ist demnach ein sozial hergestellter Prozess. Wenn Ideen und Vorstellungen über längere Zeit in einer Gesellschaft zirkulieren, verfestigen sie sich in spezifischen Denkstilen.
Die Arbeit gliedert sich in zwei Hauptanalysekapitel. Das erste nimmt eine historische Perspektive ein und beschreibt, wie die verschiedenen Denkstile in Bezug auf die luxemburgische Mehrsprachigkeit entstanden sind und die Sprachen im Laufe der Geschichte in das Schulwesen aufgenommen wurden. Die Autorin stellt fest, dass „die Ausbildung einer gemeinsamen Sprachenidentität wesentlich durch die luxemburgische Historie des Bildungswesens geprägt ist“. Sprachenpolitik war in Luxemburg seit jeher an geopolitische Faktoren gebunden. Das Nationalbewusstsein, das sich in Luxemburg später als in den europäischen Nachbarstaaten herausbildete, wurde in Luxemburg über eine Mehrsprachigkeit mit Deutsch, Französisch und Luxemburgisch definiert. Dieses Verständnis einer „Mischkultur“ fand sich unter anderem in den Schriften Batty Webers wieder. Seit dem ersten Schulgesetz von 1843 ist das Schulsystem offiziell zweisprachig – und zwar Französisch/Deutsch –und seit 1912 offiziell dreisprachig mit der Integration des Luxemburgischen in den Fächerkanon. Diese Entscheidungen sind vor allem verschiedenen Herrschaftsansprüchen über Luxemburg geschuldet. Geschichtlich gesehen wurde somit durch das Schulsystem das Bild des idealen dreisprachigen Bürgers konstruiert.
Das zweite Kapitel nimmt den Reformprozess von 2009 unter die Lupe. Für diese analytische Arbeit bedient sich die Autorin verschiedener Quellen, die sowohl den Expertenkreis wie auch den Laienkreis miteinbezieht. Sitzungsprotokolle der Programmkommissionen, Chamber-Debatten, Gesetzestexte und andere relevante Dokumente in Bezug auf die Reform bilden den Expertenkorpus. Durch die Untersuchung von Zeitungsartikel aus den beiden größten deutschsprachigen Tageszeitungen kann die Autorin aufzeigen, wie der Reformprozess durch die Gesellschaft rezipiert wurde. Komplettiert werden diese textuellen Dokumente durch Experteninterviews mit verschiedenen Funktionsträgern des luxemburgischen Bildungswesens, zentrale Figuren des Reformprozesses 2009 und auch politischen Akteuren.
Zwei Aspekte waren im Reformprozess zentral. Einerseits wurde das luxemburgische Schulcurriculum in Richtung Kompetenzorientierung umstrukturiert, eine Entwicklung die sich seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts international durchsetzt. Kompetenzorientierung meint hier die Bewertung der Leistungen von den Schülern aufgrund von bestimmten Lernzielen und nicht mehr nur auf den Inhalt des Lernstoffs. Andererseits, und auf diesem Aspekt liegt der Schwerpunkt des Buches, sollte die Reform Anlass sein, die mehrsprachige Situation in der Schule grundlegend zu überdenken und vor allem die Eingebundenheit der verschiedenen (nationalen) Sprachen im Unterricht, respektive ihr Unterricht an sich neu zu gestalten.
Sattler beschreibt mehrere relevante Denkstile und Argumentationslogiken, die im Rahmen des Reformprozesses von den Verantwortlichen eingebracht wurden, um die sprachenpolitischen Entscheidungen zu legitimieren. Zuerst wird durch ihre Arbeit klar, dass Mehrsprachigkeit im Kontext des luxemburgischen Schulsystems immer noch vorwiegend aus einer monolingualen Perspektive gedacht wird. Jede Sprache wird in dieser Denkweise als ein einzelnes, abgeschlossenes System gesehen. Diese Denkweise äußert sich vor allem darin, dass die verschiedenen Sprachen als einzelne Fächer im Fächerkanon nebeneinanderstehen und auch so unterrichtet werden. Mehrsprachigkeit wird somit als eine Aneinanderreihung verschiedener Sprachen gesehen, in denen der luxemburgische Bürger bestenfalls eine muttersprachliche Kompetenz entwickelt.
Zweitens wird eine Hierarchie in den drei Landessprachen deutlich. Obwohl das Luxemburgische durch das Schulgesetz von 2009 etwas mehr an Bedeutung gewinnt, wird ihm hauptsächlich eine gesprochene Rolle der Vehikularsprache zugesprochen. In den unteren Zyklen soll das Luxemburgische die Funktion der „Integrationssprache“ für die nicht-luxemburgisch-sprachigen Kinder erfüllen. Danach wird es jedoch durch das Deutsche als Alphabetisierungssprache abgelöst und in späteren Jahren nimmt das Französische einen größeren Stellenwert ein. Hervorzuheben ist in dieser Hinsicht vor allem der Denkstil, der mit dieser Logik verbunden ist, und zwar dass im luxemburgischen Schulcurriculum die Idee verankert ist, diese drei Sprachen würden nahezu natürlicherweise aufeinander aufbauen Problematisch ist an dieser Sichtweise, dass es nicht an die Realität der heterogenen Schülerschaft angepasst ist, da nicht vorausgesetzt werden kann, dass die Schüler zuhause luxemburgisch sprechen.
Ein weiterer interessanter Denkstil, den Sabrina Sattler aufzeigt, ist die Vorstellung, dass die drei Sprachen für luxemburgische Schüler nicht als Fremdsprachen angesehen werden. Dies zeigt sich im Schulcurriculum unter anderem darin, dass weder Französisch noch Deutsch als Fremdsprache unterrichtet werden. Lediglich Englisch wird mit einer expliziten Fremdsprachendidaktik an die Schülerschaft herangetragen. Bezogen auf dem Reformkontext wurde diese Argumentationslogik auch im Hinblick auf die Einführung des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER), der national sehr kritisch diskutiert wurde.
In einem letzten Schritt beschreibt die Autorin, wie seit einigen Jahren ein neuer Denkstil Einzug in das nationale Bildungswesen erhält, wenn auch auf sehr zögerliche Art und Weise: Mehrsprachigkeit nicht mehr als ein Nebeneinander von einzelnen Sprachen zu sehen, sondern als ein Repertoire von verschiedenen sprachlichen Ressourcen. In einer wahrhaftig mehrsprachigen Perspektive kann auch der Sprachgebrauch in der Schule flexibler eingesetzt werden und die Sprachressourcen jedes einzelnen Schülers mit einbezogen werden. Symbolisch dafür stehen die fächerübergreifenden Programmkommissionen, die seit der Rentrée 2018 ins Leben gerufen wurden. Dieser Ansatz ist jedoch noch zaghaft und bedarf eines konsequenteren Ausbaus, so die Autorin.
Dieser zögerliche Ansatz steht allerdings gewissermaßen in Konkurrenz mit den neuen europäischen Schulen, die in Luxemburg gerade wie Pilze aus dem Boden schießen und großen Anklang finden. Es handelt sich hierbei nicht um private internationale Schulen, sondern um öffentliche Schulen, in denen die Schüler zwischen verschiedenen Alphabetisierungssprachen und Zweitsprachen wählen. Mittlerweile gibt es sechs solcher internationalen Schulen, die unter dem aktuellen Bildungsminister Claude Meisch entstanden sind.
Abschließend schlussfolgert Sabrina Sattler, eines der Probleme des luxemburgischen Schulcurriculums liege darin, dass versucht werde, verschiedene und konkurrierende Denkstile miteinander zu kombinieren und deshalb nicht voll umsetzbar ist. Das Luxemburger Curriculum ist von verschiedenen Idealvorstellungen überladen. Die Autorin unterstreicht die Wichtigkeit für die Bildungsakteure sich ihrer „hidden Agenda“, ihrer konkurrierenden Denkstile bewusst zu werden, sie kritisch zu bewerten, damit das Curriculum kohärenter wird und alle Schüler gleich miteinbezieht.
Wenn die Monographie von Sabrina Sattler teilweise etwas umständlich und langwierig geschrieben ist, so stellt sie jedoch eine wichtige Arbeit für das luxemburgische Schulwesen dar und ist aktueller denn je, im Hinblick auf den konsequenten Ausbau der verschiedensprachigen Zweige, die in das nationale Schulsystem eingefügt werden. Es wäre wünschenswert, diese Arbeit den Bildungsakteuren in einer synthetischen Form zur Verfügung zu stellen, um den durch die Autorin angedachten kritischen Reflexionsprozess anzustoßen.
Letztlich zeigt die Arbeit von Sabrina Sattler, wie schwer sich die luxemburgische Gesellschaft und vor allem die Bildungsakteure damit tun, den mehrsprachigen Lernkontext fundamental zu überdenken und eine modernere Sichtweise über die sprachliche Diversität zu entwickeln, die der hiesigen Schülerschaft wirklich Rechnung trägt. Wie kann soziale Kohäsion heute gestaltet werden im Hinblick auf die sprachliche Vielfalt der Schüler? Wie können die nationalen Sprachen, Englisch als internationale „lingua franca“ und die Herkunftssprachen der Kinder sinnvoll in der Schule zusammenwirken, ohne von vorneherein eine ganze Population zu benachteiligen? Wie können verschiedene (sprachliche) Bildungsangebote nebeneinander existieren und trotzdem die soziale Kohäsion gewährleisten? Antworten auf diese Fragen gehören unbestreitbar zu den großen Herausforderungen des nationalen Bildungswesens der kommenden Jahrzehnte.