d'Land: Hintergrundgespräche mit aktiven und ehemaligen Berufssoldaten lassen bei diesen Militärs ein Unwohlsein erkennen. Worauf ist es zurückzuführen?
Christian Schleck: Die Reform von 2008 hat durch das Udo-Statut [Unité de disponibilité operationnelle; umfasst Soldaten, die durch eine Teilnahme an Missionen Vorteile erlangen] eine Spaltung bewirkt. Diese Reform trug wesentlich zum Attraktivitätsverlust der Armee und damit zum Personalmangel bei: Den Armee-Abgängern vormals vorbehaltenen Laufbahnen stehen ihnen seither nicht mehr exklusiv offen. Einstige Perspektiven sind verschwunden; das gestaltet die Rekonversion von Soldaten immer schwieriger. Auch hat das Udo-Statut dazu geführt, dass die Freiwilligen sich sehr intensiv auf diese Mission vorbereiten, sie durchführen, aber anschließend kein konkretes Ziel mehr vor den Augen haben.
Wie meinen Sie das?
Ich meine damit, dass die Restdienstzeit größtenteils aus „Gammeldienst“ besteht. Von daher ist die nun geplante Verlängerung der Dienstzeit auf vier Jahre zu hinterfragen. Eine faktische Aufwertung des Dienstes als Armee-Freiwilliger lässt auf sich warten. Auch bei den Berufsmilitärs ist eine enorme Unzufriedenheit zu spüren. Man wartet sehnlichst auf die Reform des Armee-Gesetzes und die Schaffung der Karrieren B1 und A2. Im gesamten Öffentlichen Dienst wie auch bei der Polizei bestehen sie schon seit 2015 beziehungsweise 2018. Wir fordern deshalb, dass sich die laufbahnspezifischen Gegebenheiten endlich am Statut général orientieren und an dieses Statut angegliedert werden. Damit wären wir nicht länger benachteiligt.
Vielfach wird von den Berufssoldaten mangelnde Kommunikation seitens der Führungsebene moniert.
Ja, eindeutig hat die Kommunikation Schwächen. Es ist klar, dass das Soldatenleben nicht so planbar ist wie das eines Steuerbeamten, weil es stark von der geopolitischen Lage abhängt. Neben den Problemen im physischen Bereich fällt es den jungen Leuten zunehmend schwerer, sich an den soldatischen Alltag anzupassen. Das ist Fakt. In diesem Bereich entwickelt sich die Armee durchaus weiter. Dennoch gibt es beim Personalmanagement Schwächen, die auf Mängel an spezifischer Ausbildung zurückzuführen sind.
Sind erhöhte Personalfluktuation und „innere Kündigung“ ein Thema?
Diesen Eindruck kann man sowohl bei Berufssoldaten wie auch bei Zivilangestellten gewinnen.
Können sie etwas zu den Gründen sagen?
Das Problem besteht besonders im Bereich der sanitätsdienstlichen und psychologischen Betreuung schon länger. Dabei wirkt sich die unterschiedliche Kompetenzzuweisung einerseits durch die Nato, andererseits durch das zivile Gesundheitsministerium aus, was zu Frustrationen führt. Die Psychologen stehen im Kleinkrieg mit den Personaloffizieren, wobei es auch um Kompetenzen und den Umgang miteinander geht. Der Betrieb verschleißt Psychologen. Ein weiteres Zeichen für Sand im Getriebe kann man daran erkennen, dass Berufssoldaten, die einmal im Ausland bei Nato, EU oder Euro-Corps stationiert waren, sehr zögerlich sind, wenn es um die Rückkehr zum Herrenberg geht. Zulagen spielen nicht die große Rolle, sondern die Erfahrung, dass Militär auch anders geht. Und die Aussicht, erneut auf den frustrierenden Betrieb, dem man entronnen war, zurückgeworfen zu werden.
Was Sie beschreiben, sind subjektive Eindrücke. Gibt es auch objektiv messbare Anzeichen für die beschriebenen Probleme?
Ja, ganz einfach die Zahl von gerichtlichen Verfahren, die wir betreuen, beziehungsweise von denen wir Kenntnis haben. Dazu gibt es Akten, die man zählen kann. Teilweise handelt es sich dabei um kleinliche, oder aber um haarsträubende Fälle.
Im Rahmen unserer Recherche sind wir auf den Fall eines Unteroffiziers mit zehnjähriger Dienstzeit gestoßen, der trotz Sekundarschulabschluss, staatlich anerkanntem Master-Abschluss, hervorragenden Beurteilungen und einem ersten Platz im Auswahlverfahren aus nicht nachvollziehbaren Gründen nicht als Offizierskandidat angenommen wird.
Der Fall ist bekannt, aber aufgrund eines schwebenden Verfahrens kann ich mich dazu nicht konkret äußern. Der Fall ist jedoch bezeichnend für das Verhältnis von Dienstherrn, dem einzelnen Militär und der Führungsebene.
Ein Blick ins Organigramm der Armee verrät, dass der zuständige Personaloffizier gleichzeitig Präsident der Offiziersgewerkschaft ist. Er ist also einerseits gewerkschaftlicher Interessenvertreter, muss andererseits die nicht deckungsgleichen Interessen seines Dienstherrn wahrnehmen und durchsetzen1.
Sie werden verstehen, dass ich auch hierzu keine Stellung beziehen möchte. Man kann nur sagen, dass der Sozialdialog nicht besser geworden ist, im Gegenteil. Der Armeeführung wäre es lieber, man würde einander in Uniform und mit Dienstgrad gegenübersitzen. Richtige Gewerkschaftsarbeit in einer Hierarchieverwaltung ist noch nicht dort, wo sie sein müsste.
Zurück zur Stimmungslage: Die letzte Untersuchung dazu wurde 2018 durchgeführt. Ihre öffentlich zugängliche Version offenbarte lediglich, dass 51 Prozent der Befragten nicht mit dem „esprit d’équipe“ zufrieden waren. Die Kohäsion scheint demnach ausbaufähig. Woran liegt das?
Dazu müssten spezifische Untersuchungen gemacht werden. Ich vermisse die systematische Befragung insbesondere der Berufssoldaten, die ihre Karriere abbrechen. Es genügt nicht, sich auf Rekrutierung, Werbung und Image zu konzentrieren. Man muss auch herausfinden, warum Militärs die Armee verlassen. Es gibt genügend Freiwillige mit einem Onzième-Abschluss oder mehr der für die Unteroffizier-Laufbahn erfordert ist. Aber nach einigem Kennenlernen oder sogar nach einigen Jahren als Berufssoldat ist die Frustration so groß, dass eine regelrechte Fluchtbewegung zu Polizei, CGDIS, anderen Verwaltungen oder zivilen Jobs einsetzt. Alles scheint besser als die Wirklichkeit des Herrenberges. Dem muss man ins Auge sehen.
Es ist natürlich generell so, dass auch in der freien Wirtschaft im Vergleich zu früher Jobwechsel häufiger werden.
Auch eine Militärkarriere bis zur Pensionsgrenze entspricht vielfach nicht mehr den veränderten Erwartungen junger Menschen.
Wie sollte darauf reagiert werden?
Die Realität ist die, dass die Armee Leute an die Wirtschaft und zivile Verwaltungen verliert, aber keiner von dort den Weg zurück zur Armee findet. Generell ist die Trennung von Armee und Gesellschaft ein Problem. Ein beruflicher Austausch muss möglich sein. Dieser Aspekt ist umso wichtiger, weil die Armee mittlerweile sehr diversifiziert aufgestellt ist. Rekrutiert wird vom Koch über den Mechaniker bis hin zum Cyber-Spezialisten. Erfahrung und Können aus dem Zivilleben müssen für die Armee nutzbar sein. Auch die Vernetzung, Präsenz und Akzeptanz der Armee in der Gesellschaft muss verbessert werden. Der gesellschaftliche Wandel muss sich in der Armee widerspiegeln. Man darf es nicht beim überholten Narrativ der Eltern und Großeltern von der Wehrpflichtarmee bis 1968 belassen.
Wie denken Sie über eine Reserve-Armee?2
Vor einigen Jahren wurden wir seitens des damaligen Verteidigungsministers Etienne Schneider mit der Idee einer Armee-Reserve quasi überfallen. Ausreichender zeitlicher Vorlauf, eine spezialisierte Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Konzepten sowie eine ausreichende politische Akzeptanz wären erforderlich, um aus dieser Idee etwas Konkretes werden zu lassen. Wir stehen dem offen gegenüber, denn eine Armee-Reserve würde zur Vernetzung der Armee in der Gesellschaft beitragen und auch die nötige Akzeptanz und Präsenz der Armee erhöhen.
Es scheint auch in den Führungsebenen Bewusstsein für die Frage zu geben, was und wie die Armee ist, beziehungsweise sein sollte.
Es wurde eine Charta mit Wertekatalog und Leitbild erstellt. Die meisten Militärs nehmen dieses Dokument wie den Kantinen-Speiseplan von letzter Woche zur Kenntnis. Die Charta wird als frei im Raum schwebend und ohne greifbaren Bezug zur real existierenden militärischen Lebenswelt empfunden. Die Charta wird lediglich zu Rate gezogen, wenn es darum geht, die Leute auf eventuelles Fehlverhalten oder mangelnde Motivation hinzuweisen. Zielführender wäre wohl eine regelrechte wissenschaftliche Analyse der Erwartungen, Erfahrungen, Hoffnungen und Enttäuschungen der Militärs.
Nach jüngsten Verlautbarungen soll der Umbau der Armee sich auch auf den Weltraum und den Cyberspace erstrecken. Dafür will die Armee sich für Menschen öffnen, die bis jetzt keinerlei Bezug zum Militär haben. Welche Herausforderungen stellen sich damit?
Ich denke, dass dies eine große Herausforderung für beide Seiten darstellt. Diese jungen Menschen, deren Leben sich rund um das Internet und Hightech dreht, kommen mit einer völlig anderen Kultur und mit sehr anderen Erwartungen in eine Armee, die zum Teil noch durch längst vergangene Zeiten geprägt ist. Um diese Leute an die Armee zu binden, braucht es größere Veränderungen in der Führung und in der Kommunikation. Denn derartige Spezialisten haben eine Fülle von beruflichen Alternativen und sind nicht auf die Armee als Arbeitgeber angewiesen. Man darf allerdings nicht vergessen, dass dieses Personal nicht die Bodentruppen ersetzt, die man ebenfalls so dringend braucht. Es ist also ein Spagat zwischen aktueller Planung und Zukunft nötig. Die Lösung kann auf keinen Fall auf Kosten des aktuellen Personals gefunden werden.
General Thull hat neulich eine Gewerkschaft wegen der Forderung nach übertriebenem Dienstzeitausgleich scharf kritisiert. Dies gefährde die Funktionsfähigkeit der Armee. Was sagt das SPAL dazu?
Diese Aussage ist höchst erstaunlich und nicht nachvollziehbar. Es geht um die sogenannte EU-Arbeitszeitdirektive, welche in gültiges Gesetz umzusetzen ist. 2019 wurde zwischen Minister, Armee-Führung und Gewerkschaft ein Übereinkommen unterschrieben, um den damaligen rechtswidrigen Zustand zu beenden und das Gesetz entsprechend auszuarbeiten. Mehr haben wir nicht gefordert. In der Praxis wird die Direktive schon jahrelang angewandt.
Woher dann der Furor des Generals?
Vermutlich handelt es sich um Frustration angesichts der tagtäglichen Probleme, beziehungsweise Unkenntnis der Hintergründe. Konkret wurde 2019 festgehalten, dreißig zusätzliche Unteroffiziere einzustellen. Diese Hausaufgaben wurden vom Ministerium, der Direction de la Défense und dem Generalstab jedoch nicht erledigt und es ist vermessen, hierfür eine Gewerkschaft verantwortlich zu machen. Wir haben nichts davon, wenn der Laden nicht läuft. Wir können aber nicht zulassen, dass wir das Unvermögen Anderer ausbaden sollen.
Es scheint tieferliegende Probleme zu geben, die offensichtlich nicht mit Geld lösbar sind. Was ist zu tun?
Wie ich schon gesagt habe ist eine schonungslose Analyse der Zustände durch externe Fachleute angezeigt. Wir stehen dem mehr als offen gegenüber Man muss sich ehrlich machen. Die Armee ist ein Patient mit Blutverlust, und vor der Heilung steht die Diagnose.