Bis November 2024 muss Luxemburg die EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne umsetzen. Sie beinhaltet, dass die tarifvertragliche Abdeckung auf 80 Prozent erhöht werden soll. Davon ist Luxemburg noch weit entfernt. Der sozialistische Arbeitsminister hat erst einmal eine Studie in Auftrag gegeben

„D’Spill vun der Patronatssäit bedreiwen“

2018 bei einer Gewerkschafts-demo für  bessere Arbeits-bedingungen  bei Luxtram
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 17.02.2023

Armutsgrenze Am 4. Oktober 2022 hat der EU-Ministerrat die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne angenommen. Zwei Jahre haben die Mitgliedstaaten Zeit, sie in nationales Recht umzusetzen. Die Richtlinie verfolgt das Ziel, das Armutsrisiko zu senken, das in den vergangenen Jahren in der EU zugenommen hat. Auch in Luxemburg leben immer mehr Menschen an der Armutsgrenze, 2021 war jeder fünfte Haushalt betroffen. Seit 2015 ist die Armutsgefährdungsquote laut Statec von 15 auf über 19 Prozent gestiegen, seit 2019 liegt sie über dem EU-Durchschnitt.

Dabei hat Luxemburg den höchsten Mindestlohn in Europa, zumindest was die Nominallöhne angeht. Bei den Reallöhnen ist die Differenz zu den Nachbarländern wesentlich geringer. Laut OECD betrug der reale Mindeststundenlohn 2021 in Luxemburg 13,4 US-Dollar, in Deutschland und Frankreich waren es 12,2 beziehungsweise 12,6, in Belgien 11,5 US-Dollar. Im Verhältnis zum Medianeinkommen liegt der Mindestlohn in Luxemburg mit 54,8 Prozent unter dem in Frankreich (60,9%) und nur leicht über dem in Deutschland (51,1%). Gemessen am Durchschnittseinkommen ist der Mindestlohn in Luxemburg mit 43,4 Prozent sogar niedriger als der in Deutschland (45,1%).

Wegen der hohen Lebenshaltungskosten und insbesondere der kurz- bis mittelfristig nicht lösbaren Wohnungskrise, reicht in Luxemburg der Mindestlohn in vielen Fällen kaum noch zum Leben. Dem nationalen Working-yet-poor-Bericht der Uni Luxemburg zufolge lag das Großherzogtum 2019 mit einer Erwerbsarmut von über zwölf Prozent hinter Rumänien und Spanien in Europa an dritter Stelle. In der Gruppe der nicht oder nur wenig qualifizierten Angestellten liegt die Erwerbsarmutsquote bei fast 20 Prozent. Der Mindestlohn schützt demnach vor Armut nicht.

66 617 (13,1 Prozent) der insgesamt 505 670 Beschäftigten in Luxemburg beziehen den Mindestlohn, davon 38 726 (7,6%) den unqualifizierten (der Anfang Februar bei 2 447,07 Euro Brutto lag), berichtete Paperjam am Dienstag und berief sich dabei auf aktuelle Zahlen, die die Inspection générale de la sécurité sociale (IGSS) im September veröffentlichte. 27 891 Beschäftigte (5,5%) bezogen den qualifizierten Mindestlohn, der inzwischen bei 2 936,48 Euro liegt. Die meisten Empfänger des unqualifizierten Mindestlohns (8 768) sind im Bereich Einzelhandel und Autoreparaturen beschäftigt, 7 728 im Horeca-Sektor, 4 594 in Gesundheits- und sozialen Berufen. Im Handel arbeiten auch die meisten Arbeitnehmenden (6 515), die den qualifizierten Mindestlohn beziehen, gefolgt vom Baugewerbe und vom Transport-Sektor.

Tarifbindung Die EU hatte vor der Ausarbeitung ihrer Richtlinie festgestellt, dass der Anteil der Geringverdienenden in Ländern mit einer hohen tarifvertraglichen Abdeckung allgemein niedriger sei und die Mindestlöhne dort in der Regel höher seien, als in Ländern mit einer niedrigen Tarifbindung. Deshalb verband sie die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne mit dem Ziel, die Zahl der Kollektivverträge in den jeweiligen Ländern zu erhöhen. Damit einher geht die Forderung, dass die Länder die Kapazitäten der Sozialpartner für Tarifverhandlungen stärken. Mitgliedstaaten, in denen die Tarifverhandlungsquote unter 80 Prozent liegt, müssen einen nationalen Aktionsplan vorlegen, in dem sie darlegen, wie sie dieses Ziel erreichen wollen.

Über 80 Prozent liegt diese Quote etwa in Belgien und Frankreich, aber auch in Italien, Österreich und in den skandinavischen Ländern. Die Niederlande kommen fast auf 80 Prozent. Im neo-korporatistischen Luxemburg lag die tarifvertragliche Abdeckung im Jahr 2018 laut OECD bei 56,9 Prozent – und damit auf einem ähnlichen Niveau wie in Deutschland. Das Statec berichtet von insgesamt 59 Prozent – Gehälterabkommen im öffentlichen Dienst inklusive. Lässt man Staat und Gemeinden beiseite, ist im Privatsektor lediglich etwas mehr als die Hälfte der Beschäftigten (53 Prozent) durch einen Kollektivvertrag geschützt. In den vergangenen 20 Jahren hat diese Quote sich kaum verändert.

Tatsächlich decken die Wirtschaftssektoren, in denen die tarifvertragliche Abdeckung am niedrigsten ist, sich zum größten Teil mit denen mit den meisten Mindestlohnempfängern. Darunter fallen beispielsweise der Horeca-Sektor, wo lediglich 21 Prozent der Beschäftigen kollektivvertraglich geschützt sind, und der Handel, wo es 38 Prozent sind. Eine Ausnahme stellt der Dienstleistungssektor dar, wo die Abdeckung mit 19 Prozent zwar gering ist, allerdings beschäftigen Unternehmen wie die Big Four oder Amazon in Luxemburg verhältnismäßig wenige Mindestlohnempfänger, sondern vornehmlich „Talente“ mit hohen Gehältern. Sie an feste Arbeitszeiten zu binden, daran haben die multinationalen Konzerne und manchmal auch die Beschäftigten selbst kaum Interesse. Diskrepanzen oder Inkohärenzen bestehen vor allem im Sektor Gesundheit und Soziales, wo der öffentlich-konventionierte Bereich dem SAS-Kollektivvertrag unterliegt und deutlich bessere Arbeitsbedingungen bietet als etwa private Kindertagesstätten, von denen die meisten nicht an Tarifverträge gebunden sind.

Im Handel und Horeca hängen die Lohnunterschiede häufig mit der Betriebsgröße zusammen. Während viele große Restaurant- und Handelsketten mit einer hohen Anzahl an Beschäftigten inzwischen auf Betriebsebene Kollektivverträge mit LCGB und OGBL abgeschlossen haben, sind die kleineren Etablissements für sie nur schwer erreichbar. Das hängt einerseits damit zusammen, dass die Zentralsekretäre nicht in jeden Betrieb gehen können, um mit den Geschäftsführern einzeln zu verhandeln, andererseits sind die meisten dieser gering qualifizierten Beschäftigten nicht syndikalisiert.

Deshalb fordern die Gewerkschaften schon seit Jahren die Branchenverbände dazu auf, mit ihnen sektorielle Tarifverträge auszuhandeln, die für den gesamten Sektor gültig sind. Bislang haben die Handelskonföderation CLC und der Hotel-, Restaurant- und Gaststättenverband Horesca sich jedoch geweigert, solche Verhandlungen aufzunehmen. Laut Gesetz sind sie nicht dazu verpflichtet.

Reform Das möchten die Gewerkschaften gerne ändern, deshalb fordern sie schon seit Jahren eine Reform des Kollektivvertragsgesetzes. Sektorielle Tarifverträge waren die ersten, die in Luxemburg ausgehandelt wurden: 1894 von den Schriftsetzern, 1913 in der Handschuhindustrie, 1914 in den Brauereien; 1923 und 1926 bekamen die Gemeindearbeiter aus Esch/Alzette und Düdelingen Kollektivverträge, 1933 das Personal der Escher Tram. Den ersten Entwurf für ein Gesetz hinterlegte 1908 der liberale Staatsminister Paul Eyschen; der Abgeordnete der Rechtspartei und spätere Staatsminister Pierre Dupong reichte 1917 einen Gesetzesvorschlag ein. Die ersten Tarifabkommen in der Stahlindustrie wurden nach einer gewerkschaftlichen Großdemonstration mit 40 000 Menschen am 12. Januar 1936 abgeschlossen. Über den Gesetzesvorschlag von 1917, der von einer Sonderkommission überarbeitet worden war, diskutierte die Abgeordnetenkammer ausführlich, fand allerdings jahrzehntelang keine Einigung, was auch daran lag, dass die Arbed die Gewerkschaften nicht als Verhandlungspartner anerkennen und stattdessen lieber weiter mit den Betriebsausschüssen verhandeln wollte. Als Kompromisslösung wurden 1936 per großherzogliche Verordnung die Gewerkschaften als Verhandlungspartner zugelassen und das Office national du travail geschaffen, das paritätisch besetzt wurde. Daraus ging 1945 das nationale Schlichtungsamt hervor.

1955 wurden im Parlament die Diskussionen wiederaufgenommen, um „das Problem der vielfältigen Mindestlöhne zu regeln“, wie es im exposé des motifs zum Gesetzentwurf heißt. 1965 wurde der Entwurf dann schließlich angenommen und die Gewerkschaften als einzig legitimer Verhandlungspartner im Gesetz verankert. Die DP und der wirtschaftsliberale Flügel der CSV sprachen den Gewerkschaften weiterhin die Repräsentativität ab, weil sie nicht über eine personnalité juridique verfügten und demnach als Verhandlungspartner für Unternehmen nicht in Frage kämen. Auch die Dispositionen über Zuschläge für Nachtarbeit wurden kritisiert. Erst 2004 wurde das Gesetz von 1965 reformiert, weil sich noch immer Fragen nach der Repräsentativität stellten, – insbesondere im Zusammenhang mit der ausschließlich im Bankensektor tätigen Gewerkschaft Aleba –, die auch durch Gerichtsurteile bestätigt wurden (im Mai 2021 hat der Arbeitsminister der Aleba auf Antrag von OGBL und LCGB die Repräsentativität nach 16 Jahren entzogen). Die nationale oder sektorielle Repräsentativität wurden als Voraussetzung zur Aushandlung von Kollektivverträgen klarer definiert, um zu verhindern, dass „Hausgewerkschaften oder Splittergewerkschaften, déi de Salariéen näischt bréngen, an ëmgekéiert, just Zizanie stëften an d’Spill vun der Patronatssäit bedreiwen“, die Verhandlungen sabotieren, wie der grüne Abgeordnete Muck Huss es damals während einer Kammerdebatte ausdrückte. Zudem wurde die Dauer der Tarifverträge gesetzlich umrahmt, die Gewerbeinspektion ITM als Instanz ernannt, die über das Inkrafttreten von Tarifverträgen entscheidet, und das nationale Schlichtungsamt professionalisiert. Kleinere Anpassungen wurden noch nach der Einführung des Einheitsstatus im Januar 2009 vorgenommen.

Kreativität Heute drängt sich eine Reform des Kollektivvertragsgesetzes vor allem wegen der Zunahme der sozialen Ungleichheiten und der Umsetzung der EU-Direktive über angemessene Mindestlöhne wieder auf. Die Regierung aus DP, LSAP und Grünen hatte schon 2018 in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, die Gesetzgebung zu überarbeiten, um „im Rahmen des Sozialdialogs und vor allem der Tarifverträge“ den Unternehmen „eine größere Flexibilität in der Arbeitsorganisation“ zu ermöglichen, was „im Allgemeinen eine höhere Produktivität und mehr Zufriedenheit, Motivation und Kreativität am Arbeitsplatz“ begünstige. Weder für den aktuellen Arbeitsminister Georges Engel, noch für seinen Vorgänger Dan Kersch (beide LSAP) stellte die Reform des Kollektivvertragsgesetzes jedoch eine Priorität dar.

Keiner der beiden wollte sich in dieser Woche auf Land-Nachfrage dazu äußern. Engel ließ lediglich über sein Ministerium mitteilen, eine Reform noch vor den Wahlen im Oktober sei unwahrscheinlich. Genau wie zur Arbeitszeitverkürzung hat der Arbeitsminister beim Liser auch eine Studie über die Tarifverträge in Auftrag gegeben. Im April will er die Resultate vorstellen. In einer ersten Phase führe das Forschungsinstitut eine Bestandsaufnahme der aktuellen Gesetzgebung durch, danach wolle der Arbeitsminister Gespräche mit den Sozialpartnern führen, um besser zu verstehen, wie Tarifverträge überhaupt zustande kommen, heißt es aus dem Ministerium. Eigentlich wurde für solche Angelegenheiten 2007 das Comité permanent du travail et de l’emploi (CPTE) geschaffen, doch dort wurde das Thema noch nicht einmal angesprochen.

Was wohl auch daran liegt, dass die Arbeitgeber nicht unbedingt an einer Reform interessiert sind. Durch das „strenge Arbeitsrecht“ und den „höchsten gesetzlichen Mindestlohn in Europa“ seien die Beschäftigten schon ausreichend geschützt, sagt UEL-Direktor Jean-Paul Olinger dem Land. Die tarifvertragliche Abdeckung „per se“ zu erhöhen sei daher wenig sinnvoll. Es sei denn, die Regierung würde das Arbeitsrecht „auflockern“, indem sie ihr Mobbing-Gesetz zurückziehe, weil die Bestimmungen bereits in einer berufsübergreifenden Vereinbarung zwischen den Sozialpartnern geregelt worden seien. Oder sie revidiere die vor 90 Jahren per Verordnung eingeführte und 1965 per Gesetz verankerte Regelung, dass Unternehmer Tarifverträge nur mit Gewerkschaften abschließen dürfen. Stattdessen sollten Firmenleitungen auch mit Personaldelegationen verhandeln können, die nicht gewerkschaftlich organisiert sind, meint Olinger.

Streikrecht OGBL und LCGB dürften wohl kaum damit einverstanden sein, ihre Verhandlungshoheit aufzugeben. Neben einer Verpflichtung für Arbeitgeberverbände, sich an sektoriellen Kollektivvertragsgesprächen zu beteiligen, wenn sie von Gewerkschaften dazu eingeladen werden, fordert Frédéric Krier, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands beim OGBL, eine Lockerung des Streikrechts. Anders als in den Nachbarländern sind in Luxemburg Warnstreiks erst erlaubt, wenn die Schlichtungsprozedur offiziell gescheitert ist. Das ist mit ein Grund dafür, wieso hierzulande so wenig gestreikt wird. Wären – zeitlich begrenzte und im Vorfeld angekündigte – Warnstreiks schon vor und während der Schlichtung erlaubt, hätten die Gewerkschaften wesentlich mehr Handlungsspielraum, sagt Krier.

Ein Ziel der vom sozialistischen EU-Kommissar Nicolas Schmit mit ausgearbeiteten EU-Richtlinie über angemessene Mindestlöhne ist es auch, die Sozialpartner in Europa wieder zu stärken. Während in Luxemburg der Anteil der Unternehmen, die Mitglied beim Arbeitgeber-Dachverband UEL sind, seit Jahrzehnten unverändert bei über 80 Prozent liegt, ist der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmenden in den vergangenen Jahren gesunken. 2019 lag er in Luxemburg unter 30 Prozent. Diese Unverhältnismäßigkeit beim Organisationsgrad hat mehrere Gründe. Zwar ist die absolute Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, allerdings nicht so schnell, wie der äußerst dynamische Arbeitsmarkt gewachsen ist. Insbesondere Grenzpendler aus Frankreich, wo die Gewerkschaften zwar durchaus selbstbewusst und aggressiv vorgehen, der Organisationsgrad aber traditionell niedrig ist, sind für OGBL und LCGB schwer zu erreichen. Auf Patronatsseite ist das freilich „besser“ geregelt. Bei der Handels- und Handwerkerkammer, die beide der UEL angehören, ist die Mitgliedschaft für alle in Luxemburg ansässigen Unternehmen (außer landwirtschaftlichen) obligatorisch.

Luc Laboulle
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