Die kleine Zeitzeugin

Kohlumne

d'Lëtzebuerger Land du 07.07.2017

Ein Kaiser ist gestorben, sein Thron war ein Rollstuhl, seine Leibspeise Saumagen. Er hatte oder war eine imposante Statur. Privat gab es Tragödien – wo eine Lichtgestalt ist, gibt es eben auch Dunkel. Die Frau, die im Schatten der Lichtgestalt lichtscheu wurde, bis sie erlosch; die Söhne, dem Vater und der Mutter aus dem Gesicht geschnitten, zunehmend die zunehmende Statur des Vaters annehmend, die in den Talkshows zu Gericht sitzen. Der mächtige, ohnmächtiger werdende Vater, im Rollstuhl von der neuen Frau gelenkt. Sie liebt ihn wie einen Abgott, berichten die wenigen, die in die Gedächtnisstätte, beinahe ein Mausoleum, vordringen.

Der Abgott verbringt seine letzten Jahre umringt von Souvenirs an sich selbst, von ihm gewidmeten Devotionalien; er wohnt in einem Kohl-Memorial, das von einer Gattin betreut wird, die ihn nicht herausrückt. Darüber schreiben seine Söhne Bücher, sie erzählen dem verständnisvollen Markus Lanz ihre traurigen Sohn-Geschichten, Nebengeschichten der großen Geschichte, sie sind die Kollateralschäden der sonnenköniglichen Karriere.

Die damaligen Untertaninnen wussten natürlich nicht, dass die Jahre seiner Regentschaft einmal als die glücklichsten Jahre der deutschen Geschichte bezeichnet werden würden. Es ging halt immer weiter mit ihm, er war da und noch mal da und immer noch da, es wurde geschrieben, er würde absitzen und aussitzen. Er hatte Sitzfleisch.

Die Ungeduldigsten protestierten noch ein bisschen, sie bewegten sich, gegen Atom, für den Frieden. Irgendwann gaben sie auf. Sie nahmen Halluzinogene oder machten sich auf den langweiligen Marsch durch die Institutionen, meist landeten sie auf dem Arsch und züchteten ebenfalls Sitzfleisch. Um sich abzureagieren, schauten sie sich Abbildungen von einem Hinterteilteil an, vorgestellt als Porträt ihres Kanzlers. Oder das beliebte Birne-Cover des Satiremagazins Titanic. So gähnten alle sich durch die Jahre und bekamen graue Haare.

Auch er, der Dicke, wie er etwas fantasielos genannt wurde, hatte immer weniger Haare. Sie war so schön langweilig, die Zeit der deutschen Kleinheit, die Kapitale hieß Bonn, weder arm noch sexy, der deutsche Herbst, dessen man jetzt so gern im Herbst gedenkt, immer Hitler wird ja auch fad, war schon längst vorbei, die deutsche Rote Armee hatte sich selbst ermordet oder auch nicht, ein Geschichtsrätsel, das gern immer wieder aufgerollt wird. Deutscher Herbst, deutscher Wald, so deutsch.

Der Pfälzer brauchte diese Romantik überhaupt nicht, er war so bodenständig. Mitarbeiter erzählen Anekdoten, in denen es unwirsch zuging. Aber durch den historischen Abstand kriegt das einen gewissen Charme. Diese Schrulligkeiten, diese Biederkeit! Er war so schön Scheiße zu den Journalisten! Er fuhr sie an, erinnern sie sich nostalgisch, das waren noch Formate, Persönlichkeiten. Staatsmänner, die noch was zu sagen hatten. Und wie er mit dem kleinen Mitterand Hand in Hand. Das ist Bilderbuch, das ist Geschichte, Deutsch-Französisch, Europa, Europe.

Dann Deutsch-Deutsch, aus der deutschen Kleinheit wird die deutsche Einheit, Europa bibbert, war das jetzt so ausgemacht, was treibt Helmüt? Und dann blühen die Landschaften nicht auf Kommando, das Mädchen übt Verrat, eine Frau verschwindet im Dunkel. Eine andere kommt, sie knipst das Licht aus, hier gibt es nichts zu sehen, niemand ist hier, er gehört mir.

Wie es sich bei einem ganz Großen gehört, dann noch Totenkult-Trara. Wem gehört der Leichnam? Wofür ist er ein Symbol? Die neue Kaiserin, eine würdige Nachfahrin, sie steht auch alles durch und sitzt es aus, da fährt die Eisenbahn drüber, mit einer Million Flüchtlingen, oder wie viele waren es?, steht vor dem alten, toten Kaiser. Ein strebsamer Neuling erscheint, Geistesblitze schießen ihm aus den blauen Augen. Er ist aus Fronkreich, er will auch Karriere als Kaiser machen.

Vielleicht werden wir, oder die, die dann noch da sind, um etwas zu finden oder zu befunden, einst zurückdenken an jetzt. Und wir nennen es dann „einst“. Gute alte Zeit. glückliche Jahre.

Obschon sie, aus heutiger Sicht, nicht sehr langweilig sind.

Michèle Thoma
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