Früher gab es hier noch nicht mal Chop Suey. Die kleinen Mädchen hüpften Seil, falls jemand sich darunter noch etwas vorstellen kann, und dabei schrien sie aus Leibeskräften: „Der Kaiser von Schina, das war ein guter Mann!“
In Schina lebten Schlitzohren mit Schlitzaugen, poetisch Mandelaugen genannt. Die Bärte der Männer bestanden aus einzelnen meterlangen Barthaaren. Die Füße der Frauen wurden in zusammengeschnürten Zwerginnenschühchen eingesperrt, damit die Zehen in die Fußsohle wuchsen. Die luxemburgischen Missionare zeigten den luxemburgischen Kindern die niedlichen Krüppelschuhe. So mussten die Frauen ewig Tee trinken und sich mit den Nachtigallen aus Porzellan unterhalten. Das Lächeln der Gelbhäute wurde unergründlich genannt. Sie folterten besonders heimtückisch, sie kitzelten ihre Opfer an den Fußsohlen, bis sie sich totlachten.
Wegen den armen chinesischen Kindern mussten die luxemburgischen Kinder ihr Essen aufessen oder runterwürgen. Die armen chinesischen Kinder lernten mehr als 3 000 Buchstaben oder Zeichen, die sie auch noch pingelig pinseln mussten.
Wenn einer nix kapierte, war ihm alles chinesisch. Chinesisch war spanischer als spanisch.
Dann plötzlich trugen die Jungs beim Thé dansant Mao-Anzüge, also die süßen Jungs, die mit den Beatles-Frisuren. In der Rue Beaumont konnte man sich eindecken mit Broschüren und Zeitungen von Menschen, die alle gleich gekleidet waren, ihre Anzüge waren allerdings nicht ganz so gut geschnitten wie die der Jungs bei den Thés dansants.
Mit dem gleichen gleichmütigen Gesichtsausdruck standen sie in Fabriken oder Schweineställen, sie lebten ja auch alle für das gleiche Ziel. Sie hatten wenigstens eins. In der Großgasse versuchten junge Militant_innen für eine glückliche Gesellschaft, in der Studentinnen Schweineställe ausmisten wollen müssen, Hausfrauen vor dem Monopol dazu zu kriegen, eine Wullmaus zu kaufen. Ab und zu kaufte eine eine, mit einem mütterlich-nachsichtigen Lächeln.
Es ist so viel Zeit vergangen!, seufzt die Zeitzeugin beim Durchblättern des Fotoalbums der Reise des Premiers und seines Hofstaats ins Reich der Mittel. Es erscheint so wenig spektakulär. Die Chines_innen schauen aus wie wir, sie trinken Milch, wir essen manipulierten Soja und alle Buchstaben des chinesischen Menü-Alphabets, wir fahren Rad, sie fahren Auto, unsere Kinder heißen Kim, keiner liest mehr keine Bibel.
Mal sitzt der Premier in blütenweißem Hemd neben einem Herrn in blütenweißem Hemd auf einem blütenweißen Sessel, vielleicht trinken sie weißen Tee, mal steht er in legerem Freizeitdress, wie unter dem Foto angemerkt ist, auf der entmutigend 8 000 Kilometer langen Mauer, auf der er natürlich ein Interview gibt. Mal drückt er Shaolin-Mönchen die Hand. Wo bleibt die Peking-Oper?, runzelt Kultur-Attachée die Stirn. Aber gut, es geht ja vor allem darum, die Tür aufzustoßen ins Reich der Mittel, wie Xa nicht müde wird zu betonen.
Die diplomatischen Bande existieren aber schon seit 45 Jahren. Xa wird von Xi und Li begrüßt, in Peking weht die luxemburgische Fahne einträchtig neben der roten Fahne aus dem Reich der weltbesten Kapitalisten. Mit seinem Hofstaat wird Xa in der Halle des Volkes empfangen, die für eine Million Volkseinheiten vorgesehen ist. Flott bewegt sich unser Premier vorbei an Herrn mit gesträubten Flinten. Er bewegt sich auf Augenhöhe. Er hat auch überhaupt keine Komplexe. Das hören wir beim Morgenkaffee, und es ist auch eine Gutenachtgeschichte. Es gibt keine Tabus, wiederholt er, die Chinesen sind sehr aufgeschlossen, der Freihandel ist frei. Luxemburg verkehrt bilateral, und für die, die auf Diversität stehen, wird es Diversifizierung der Bankenaktivitäten geben. Win-Win, sagt Xa. Manchmal kommt noch ein Journalist mit der alten Menschenrechtsleier, Folter, gähn, Todessstrafe, organisierte Organmafia. Xa vertritt hier eine pragmatische Haltung. Die würden sowieso machen, was sie wollen.
Kapital ist ja eigentlich auch kein Verbrechen.
Und nach all den positiven Bilanzen, Abschlüssen, Verträgen noch ein Nachtisch: ein chinesisches Filmfestival! Es wird Schengen-Film-Festival heißen, etwas enexotistisch.