Luxemburg im Jahr 2028. Die Universität Luxemburg wird 25 Jahre alt. 7 000 Studenten zählt sie jetzt, 800 mehr als zehn Jahre zuvor. Vergleichen lässt sie sich mit der Uni aus dem Jahr 2018 aber nicht ohne weiteres. Damals wurde an Uni.lu – die Abkürzung wird mittlerweile deutlich seltener benutzt – noch ein Fächerspektrum gelehrt, das von Ingenieurberufen und Informatik über Mathematik und Physik, Recht und Wirtschaft bis hin zu Geschichte, Psychologie und Luxemburgistik reichte. Lehrer werden konnte man an Uni.lu auch und sogar das erste Jahr eines Medizinstudiums dort absolvieren.
Zehn Jahre später ist das Angebot nicht mehr so breit. Dominiert wird es von der „Luxembourg School of Business“ und der „Luxembourg School of Law“. Weltweit bilden die meisten Universitäten vor allem Ökonomen und Juristen aus. Die „School of Law“ ist überdies eine der wichtigsten für Europarecht innerhalb der EU geworden. In „Schools“ finden auch die Studien in Ingenieurberufen, die für Lehrer und für Sozialarbeiter statt. Die Ausbildung entspricht allerdings eher der an höheren Schulen. Geforscht wird in den Bereichen Ingenieurwesen, Erziehung und Soziales zwar auch, aber nur als Auftragsforschung für die Regierung und für Betriebe. Wichtiger geworden in der Forschung sind lediglich die Physik und die Materialwissenschaften, die Mathematik und die Computerwissenschaften. Ambitionen, die Luxemburg in Biologie und Medizin hatte, wurden vollständig aufgegeben. Eine „Medical School“, die 2017 im Gespräch war, wurde nie gegründet.
Die Entwicklung der Uni ging einher mit der der Wirtschaft im Lande: Die Finanzbranche spielt strukturell noch immer eine wichtige Rolle, aber Luxemburg ist überdies der Sitz für Datenzentren in Westeuropa geworden. Und was vor zehn Jahren noch eher theoretisch diskutiert wurde, die „Industrie 4.0“ mit hochautomatisierten Betrieben, Mensch-Roboter-Produktion und künstlicher Intelligenz, die Material- und Produktionsflüsse regelt, wurde durch Ansiedlungen auf der grünen Wiese tatsächlich Realität. Vor allem dieser Branche arbeiten die Bereiche Physik, Materialforschung und Computerwissenschaften zu, wodurch aber auch die Forschung in diesen Bereichen immer „angewandter“ wird. Inwieweit die Grundlagenforschung wieder ausgebaut werden sollte, ist ein Konfliktthema. Auch, weil immer öfter ein „Wissenstransfer“ nach Luxemburg von Partner-Universitäten im Ausland organisiert wird, was diese sich im Rahmen komplexer Public-private partnerships entgelten lassen.
Getrennt hat Luxemburg sich von den Geisteswissenschaften. Die Tendenz ist weltweit nicht zu übersehen. Fächer wie Philosophie, Geschichte oder Literaturwissenschaften werden nur noch an sehr traditionsreichen Universitäten gelehrt. Sie erheben Studiengebühren, die so hoch sind, dass nur wohlhabende Familien sie sich für ihre Kinder leisten können. Übrig geblieben von dem, was 2003, bei der Gründung von Uni.lu, die „Faculté des Lettres, des Sciences humaines, des Arts et des Sciences de l’Éducation“ war, ist nur das „Luxembourg Centre for Contemporary and Digital History“. Die zeitgenössische Geschichte, so die Auffassung, begann mit der Industrialisierung Luxemburgs. Um das, was vorher war, kümmern sich die wenigen in Europa noch verbliebenen universitären Geschichtsforschungsinstitute mit. Geschichtslehrer an Luxemburger Lyzeen, die sich darüber informieren wollen, tun das online. Überwiegend online findet an der Luxemburger Universität, wie an den meisten anderen in Europa und Nordamerika, auch die Lehre statt. Persönliche Kontakte zwischen Professoren und Studenten gibt es kaum noch. Das ist aber auch nicht unbedingt nötig, denn „Studium“ heißt in erster Linie Berufsausbildung. Nur Master-Studenten und Doktoranden in den Schwerpunktfächern der Universität treffen Professoren regelmäßiger in kleinen Gruppen. Dort findet statt, was man „gegenseitige Inspiration“ nennen könnte. Wie andere Universitäten hat auch die Universität Luxemburg in den letzten Jahren ihre Studiengebühren beträchtlich erhöht. Die Studenten verstehen aber: Universitäten verhelfen zu employability. Das ist value for money, wenn es um Studiengebühren geht.
Was hier eben skizziert wurde, ist ein überzogenes Szenario. Aber die Frage, was Uni.lu als die einzige öffentliche Universität Luxemburgs denn ausmacht und welche Rolle sie in der Gesellschaft spielen soll, stellte sich nicht nur vor der Gründung der Uni. Auch, weil sie schon damals nicht wirklich beantwortet wurde, stellt sie sich gerade heute erneut, da die Regierung das Universitätsgesetz ändern will, universitätsintern der nächste Vierjahresplan 2018-2021 ausgearbeitet wird, und sich alles vor dem Hintergrund von Einsparungen, der im März publik gewordenen „Budget-Krise“ und dem Rücktritt von Rektor Rainer Klump Anfang Mai vollzieht. Nicht zu vergessen, dass die Universität zurzeit noch von einem „Management-Team“ unter Beteiligung von McKinsey und einer Unternehmensberaterin als „Chief transition officer“ geleitet wird.
Das hört sich nicht nur so an, als solle in die Administration der Universität mehr Management Einzug halten, das ist auch so, aber wiederum auch nicht ganz neu. Demnächst werden alle Fakultäten und auch die letzten Forschungseinheiten ISO-zertifizierte Qualitätssicherungssysteme betreiben. Dass die Finanzmittel, die der Universität zur Verfügung stehen, effizient zugewiesen und genutzt werden sollen, stellt niemand infrage. Und allenfalls Geisteswissenschaftler haben ein Problem mit Begriffen wie „Exzellenz“ und „Exzellenzuniversität“. Denn das sind Marketinginstrumente. Dass eine Universität von sich behaupten würde, nach Mittelmaß zu streben, ist beim besten Willen schwer vorstellbar.
Was bedeutet das? Weil Uni.lu erst 14 Jahre jung ist, holt sie im Schnelldurchgang eine Entwicklung nach, der in Europa alle Universitäten seit ungefähr Anfang der Achtzigerjahre unterliegen: Öffentliche Zuwendungen haben ihre Grenzen. Ihre Vergabe ist an accountability und Leistungsindikatoren gebunden. Es wird verlangt, eine Universität habe messbaren „Impakt“ zu liefern, und erklärt, „Autonomie“ sei verbunden mit einer Bringschuld.
Dabei haben Universitäten schon immer „etwas gebracht“ und hatten „Impakt“, und wenn der darin bestand, dass im 19. Jahrhundert eine studentische Elite an einer Universität nicht nur Wissen aufnahm, sondern auch ihre Persönlichkeiten formte. Die Universität, der niemand von außen dreinredete, wie sie zu lehren und zu forschen hatte, ist aber offenbar Geschichte. Gesellschaftlicher Wandel und technischer Fortschritt haben ganz neue Studienfächer hervorgebracht. Die Qualifikationsanforderungen in den Berufen wuchsen, die Hochschulbildung wurde demokratisiert. In Marktgesellschaften aber, wie auch die Luxemburger eine ist, wird noch die letzte menschliche Tätigkeit quantifiziert und kann zur Ware werden. Für diese Gesellschaften sind Universitäten eine Provokation. Denn wie der britische Historiker und Essayist Stefan Collini1 treffend schreibt, besteht das Besondere einer Universität darin, dass dort die pure Neugier und die freie Beschäftigung mit Wissenschaft nicht nur herrschen kann, sondern soll, und eine Universität dafür nicht nur ein Ort ist, sondern eine Institution. Zwangsläufig sind Konflikte um Universitäten permanente Konflikte.
An der Uni Luxemburg haben sich dazu vor kurzem zwei Gruppen von Professoren schriftlich geäußert. Das eine Papier ist nicht namentlich gezeichnet. Es trägt den Titel „Vers une Université communicative, collaborative et transparente faite par et pour la société luxembourgeoise“. Die Professoren beklagen, dass die Uni seit ihrer Gründung „autokratisch“ geführt werde. Die Kommunikation sei „quasi null“ und Dotationen würden derart ungleichmäßig verteilt, dass nicht prioritäre Bereiche der Uni kämpfen müssten, um „normal“ funktionieren zu können. „Ohne Debatten, ohne Diskussionen, ohne effiziente interne und externe Kommunikation“ werde es „keinen Fortschritt geben und die Universität sich nicht vollständig ins Land integrieren“ können. Die Diskussion über die Prioritäten der Uni sollte öffentlich geführt werden, sie gehe „alle und jeden“ an.
Das andere Professoren-Papier ist auf Englisch verfasst und will zeigen, wie Uni.lu zu einem „Leuchtturm des Wissens“ in Europa gemacht und „in dieselbe Liga“ befördert werden kann, in der „anerkannte Weltklasse-Forschungsuniversitäten, zum Beispiel die Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne oder die Technische Universität München“ anzutreffen sind. Dass das „Technische“ betont wird, liegt vielleicht daran, dass die meisten der 20 Autorinnen und Autoren dieses Papiers Natur- oder Technikwissenschaftler sind. Hinter ihren Namen haben sie nicht vergessen anzugeben, ob sie mit speziellen Grants des nationalen Forschungsfonds nach Luxemburg geholt wurden, eine Förderung des European Research Council zuerkannt erhalten oder einen Wissenschaftspreis errungen haben. In dem Schreiben drohen sie kaum verhohlen damit, auch woanders arbeiten zu können, falls sie weiterhin „willkürlichen budgetären Beschränkungen“ unterworfen bleiben.
Beiden Gruppen geht es um die akademische Freiheit, die zur Neugier also. Aber während die erste Professorengruppe in einer öffentlichen Debatte ausloten lassen will, wie diese Freiheit garantiert sein soll, scheint die zweite Gruppe sie in erster Linie für die Besten reservieren lassen zu wollen: Ein „Scientific Advisory Board“, dem vor allem „international führende Wissenschaftler der Universität“ angehören sollten, plus drei externe Mitglieder, würde zwischen die Regierung und die Professorenschaft geschaltet, schlagen sie vor. „Bei jeder wichtigen strategischen Entscheidung zu Forschung und Lehre“ hätte dieser Board „eine Schlüsselrolle“ zu spielen und über „akademische Exzellenz“ zu wachen. Zweitens sollten die Geldmittel an Uni.lu nach „klaren und transparenten Leistungskriterien“ verteilt werden.
Letzteres beginnt schon. Auch der Fakultätsrat der Geisteswissenschaftlichen Fakultät hat sich für ein solches „verdienstbasiertes“ System ausgesprochen und will dafür „Qualitätskriterien“ aufstellen. Am morgigen Samstag diskutiert der Aufsichtsrat der Universität den nächsten Vierjahresplan; dort könnten erste Entscheidungen über „Exzellenz-Sicherung“ schon fallen. Vermutlich aber suchen sich die talentiertesten Studenten und die besten Doktoranden ihre Universität nicht danach aus, welches Qualitätssicherungssystem sie betreibt. Und es könnte gut, sein, dass der Aufbau einer „Weltklasse-Forschungsuniversität“ eine Generation dauert, oder zwei, oder gar noch länger. Sofern er überhaupt gelingt. Luxemburg benötigt dringend eine Debatte über seine einzige Universität.