Sieben Meter achtzig misst die Kugel, die in den letzten Monaten aus dem Escher Rathaus hervorlugte. Das auf manche wie ein gigantisches Auge wirkende Werk war monumental und doch fragil: eine grüne Utopie im städtischen Raum. Vor 52 Jahren wurde die Installation das erste Mal im Rahmen der documenta 5 in Kassel gezeigt. 1972 entwickelte das Kollektiv Haus-Rucker-Co, darunter Günter Zamp Kelp, ein Projekt an einer historischen Fassade, das den radikalen ästhetischen Kontrast betonte.
Die Installation Oase Nr. 7 ist mittlerweile abmontiert. Sie bildete den Auftakt der Escher Architektur-Biennale und der kollektiven DISPLACED-Ausstellung. Über ein Dutzend Künstler/innen setzten sich darin mit dem Verlust des „Zuhauses“ auseinander.
Im Erdgeschoss der Konschthal ist eine gigantische bulkonische Holzhütte aufgebaut, wie sie heute noch in ländlichen Regionen Osteuropas zu finden ist. Die Datsche hat der in Berlin wirkende Künstler Vajiko Chachkhiani an seinem Ursprungsort abgebaut, um sie hier wieder aufzubauen. Living Dog Among Dead Lions ist eine Neuauflage einer monumentalen Installation, die er 2017 für Venedig geschaffen hat. Was einst eine schutzspendende Holzhütte war, ist nun durchnässt – das Innere ist ständigem Regen ausgesetzt. Die Gegenstände wie Betten oder der Herd sind ausnahmslos durchweicht: ein Schutzraum, der das beklemmende Gefühl von Verlust hervorruft.
Die vor Kurzem gestartete Ausstellung Displaced II erweitert das Spektrum um Arbeiten von 14 internationalen Kunstschaffenden aus unterschiedlichen Weltregionen; zum Teil gestützt auf Autobiografisches thematisieren sie den Verlust sehr persönlich.
Um direkt den aktuellen, anscheinend unverzichtbaren Kunsttrend anzusprechen: Die Arbeiten des Palästinensers Taysir Batniji sind weniger gedankenvoll, denn plakativ geraten. Sie passen sich in die Großerzählung der Szene und letzten Kunstbiennale in Venedig ein, die Welt sehr schematisch nach alt-anti-imperialistischem Strickmuster aufzuteilen, in „Kolonisierte“ und „Kolonisierer“.
Die Serie GH0809 #2 (Gaza Houses 2008-2009) zeigt an einer Wand 20 Fotografien zerstörter Häuser in Gaza, inszeniert wie Immobilienanzeigen. Das Werk sei eine „Reaktion auf die Militäroperation Israels gegen Gaza“ 2008/2009. Die Art der Inszenierung ist originell. Da Taysir Batniji im Exil lebt, hat er einen Freund gebeten, zerstörte Häuser in immer derselben Perspektive abzulichten. Unter jedem Bild steht eine Beschreibung des Hauses und der Zahl seiner Bewohner/innen, mit dem Ziel, eine Erinnerung an das jeweilige Zuhause zu schaffen. Im Begleitheft liest man, dass der Künstler Batniji eine „alternative, distanzierte und subjektive Lesart der Nachrichten vorschlagen“ wollte. Ihm gelingt es, im Wust der Fernsehbilder auf die konkret dort wohnenden Menschen und ihre Welt hinzuweisen, Distanz zur eigenen Peergroup wird darin weniger deutlich.
Daneben sind im Erdgeschoss hunderte Seifen aufgetürmt. Auf jedem Einzelstück ist auf Arabisch No Condition is permanent eingraviert. Die Besucher/innen können sich eine Seife mitnehmen. Seife sei „ein prekäres, der Auflösung geweihtes Material“ (Broschüre). Die Vergänglichkeit des Materials erinnere an das Menschsein und unsere Relativität.
In einem abgedunkelten Raum ist ein Video von Guillaume Delaperriere von den Straßen in Lissabon zu sehen. „Eine Art Symphonie der Stadt“, so Konschthal-Direktor Christian Mosar, rekurrierend auf den Film von Walter Ruttmann. Ein Blinder in der Tram; Geräusche, von Männern, die Karten spielen – die anfangs getrennt sind und sich sukzessive zu einem Song von einer Großstadt über 24 Stunden zusammenfügen. Lisboa Orchestra (2013) ist eher von Nostalgie getrieben, von Sonnenaufgang bis in die Nacht, wenn die Kamera ins Lichtermeer der Stadt sinkt.
In dem Video, Territory (2017) von The Blaze kehrt ein junger Mann zurück in den Maghreb. Der etwa fünfminütige Film mit elektronischer Musik, der fast vollständig in Algier gedreht wurde, beginnt mit der Ankunft eines Bootes. Langsam erkennt man das Gesicht der Hauptfigur gefolgt vom emotionalen Wiedersehen der Verwandten. Doch auch dorthin, wo er zurückkommt, ist er nicht mehr wirklich zu Hause. Den schmerzverzerrten Gesichtszügen des Protagonisten steht die Heimatlosigkeit ins Gesicht geschrieben ...
Daneben stößt man auf durchdachte Installationen der iranischen Künstlerin Samira Hodaei. Im Juli 2023 hatte sie für vier Monate eine Residenz im Bridderhaus inne. In A Fire Appeared, A Fire Spread (2023-2024) setzt sie Videokunst und Metallarbeiten ein, um die komplexen Erzählungen rund um die nationale Öl- und Stahlindustrie in Iran und Luxemburg zu erforschen. Die Doppelprojektion zeigt Archivmaterial aus der Provinz Chuzestan im Iran und aus der Minett-Region in Luxemburg, die beide Anfang des 20. Jahrhunderts zu Industriestandorten wurden. 1870/71 entwickelten sich zeitgleich im Süden Luxemburgs die Eisen- und im Iran die Ölindustrie. Von diesem Zeitpunkt ausgehend hat Hodaei eine Montage komponiert, die synchron die gesellschaftlichen Veränderungen mit Archivbildern zeigt und synchronisiert.
Zu Hodaeis Installation gehören Aluminiumschalen mit komplizierten Radierungen, die sich auf die Öl- und Stahlindustrie beziehen. Zu diesen Schalen ließ sich die Künstlerin von der alten Handwerkskunst der Toreutik inspirieren, die im Iran als „Qalamzani“ bekannt ist.
Im Übergang zwischen Erdgeschoss und erstem Stock der Konschthal begegnet man der fast schwebenden Installation von Hiwa K. Der irakisch-kurdische Künstler musste selbst während des zweiten Irakkrieges aus Kurdistan fliehen. Sein „One Room Apartment“, das bereits auf der documenta 14 zu sehen war, ist die Rekonstruktion eines Sozialwohnungsbaus in der Nähe der Minenfelder im kurdischen Teil des Iraks. Der Nachbau in der Konschthal verlangt von den Betrachter/innen, die Beziehung zwischen Raum und Form zu befragen.
Im ersten Stock werden in einer Ecke aus einem Dia-Projektor verstaubt wirkende Diapositive von türkischen Arbeiter/innen an die Wand projiziert. Die Serie „Türken in Deutschland“ der mehrfach ausgezeichneten Fotografin Candida Höfer war ursprünglich ihre Bewerbungsmappe für die Kunstakademie in Düsseldorf, wo sie bei Bernd und Hilla Becher studierte. Es zeichnet ein Deutschland der 1970er Jahre und zeigt ungeschönt die Parallelwelt türkischer Gastarbeiter/innen.
Die Werke der luxemburgischen Künstlerin Lisa Kohl sind ebenfalls ein Blickfang. Die Farbfotografie Elsewhere within Here (2024) zeigt vordergründig aufeinandergestapelte Plastikstühle. Sie sind das Ergebnis einer Intervention von Kohl nahe der griechisch-türkischen Grenze. Hier sammelte und arrangierte sie 29 Monoblocs, die unweit eines mit Stacheldraht überspannten Zauns zurückgelassen wurden und stapelte sie zu einem skulpturähnlichen Einzelstück – als Metapher für den Turm von Babel. Zwischen Fluchtversuch und Grenzüberschreitung regt das Werk zum Nachdenken an.
Videokunst erweist sich als zentral in Displaced-II. Beunruhigend verstörend ist so ein Kurzfilm des israelischen Filmemachers und in Berlin lebenden Künstlers Omer Fast. Zentrale Figur in „Continuity“ (2012) über die verstörende Wirkung von Kriegen und nachhaltigen psychischen Schäden auf Menschen, ist ein junger Soldat, der nach seinem Dienst in Afghanistan nach Deutschland heimkehrt. Der beunruhigende Film wurde 2012 für die documenta 13 in Auftrag gegeben und gewann 2013 den Deutschen Kurzfilmpreis LOLA.
Mit seinem Film Casa Negra (2022) zeigt der Kubaner Marco A. Castillo die Praxis der kollektiven Brandmarkung von „revolutionären Abweichler/innen“. Im Mittelpunkt stehen eine Frau und ein Kind, die für ihre Lebensweise ausgebuht werden. Ein aufgebrachter Mob stürmt daraufhin in ein Haus, beschimpft die Bewohner/innen und beschmiert Türen und Fassaden schwarz. Sein Film Generación (2019) macht in einer melancholischen Anmutung und 1970er-Nostalgie die Stimmung einer Generation fühlbar. Er diene als Metapher für das kulturelle und ästhetische Sterben, das Kuba zyklisch erlitt und derzeit erleidet.
Angesichts des im Nahen Osten tobenden Krieges und der rigiden Flüchtlingspolitik der amtierenden christlich-liberalen Regierung ist das Leitmotiv der Ausstellung zweifellos aktuell. Wenn im Sinne Hannah Arendts (We Refugees, 1943) das Selbstbewusstsein von Geflüchteten „zur Schau“ gestellt wird, gehört diesem Unterfangen alle Sympathie.
Doch erweist sich Displaced in der Konschthal als Potpourri von eindrucksvollen und auch recht plakativen Kunstwerken, die teilweise in der grundsätzlich intendierten Selbstbezüglichkeit ihre Grenzen finden. Künstlerisch sind nicht alle Werke so eindrucksvoll wie die der Iranerin Samira Hodaei und des Kurden Hiwa K. Die Frage nach Identität und einer vermeintlichen „Heimat“ und Entfremdung lässt sich bis ins Unendliche durchdeklinieren – und interpretieren. Wie in der Literatur führt dies nicht immer zu einer überzeugenden Kunst.