Das Böse

Das Böse nicht verstehen wollen

d'Lëtzebuerger Land vom 06.01.2012

Wer das so genannte Böse bei sich und den anderen nicht verstehen will, verdammt sich selbst dazu, die begangenen Fehler in diesem Bereich immer wieder begehen zu müssen. Als Hinweis auf unser enges Verständnisvermögen lässt sich diese Einstellung verstehen, nicht aber, wenn man ein wohliges Suhlen im so genannten Geheimnis anstrebt, das sich an der menschlichen Beschränktheit labt.

Zwar steckt hinter der Vorstellung des Verständnisses auch immer die einer kämpferischen Überwindung, und das ist ein Fehler. Denn wer versteht, wird kaum unmittelbar verändern oder gar verbessern. Hier geht es in erster Linie um Erkenntnis, die positiv wirken mag, aber nicht muss. Oder ist unser geistiges Wesen nur ein eingreifendes Werkzeug im Kampf des Daseins?

Auch wenn wir uns ernsthaft darum bemühen, alles, was geschieht, so klar wie möglich mit dem Verstand zu erfassen, so ist das, was wir nicht verstehen, so umfangreich, dass es keineswegs menschenfreundlich ist, das Geheime auch noch zu respektieren oder gar zu genießen. Das ist im tiefsten Sinne ein gefühlsmäßiges Verhalten, ein lustvoller Rückzug aus dem lästigen Licht der Aufklärung. Hier ist der Verstand gerade erfordert, und so sollten wir nicht die Erklärungen missachten, die wir erschließen können.

Diese irrationale Haltung hat wohl mit einer im Grunde falschen Auffassung von Humanismus zu tun, die befürchtet, dass wir beispielsweise durch den Versuch einer Erklärung der Shoah und die Erarbeitung ihrer Ursachen unser Bild vom Menschen in ein schlechtes Licht rücken. Wenn das stimmt, würde die Wahrheit über den Menschen den Sporn zu seiner Höherentwicklung stumpf werden lassen. Das wäre aber nur der Fall, wenn die Wahrheit zum Ruhekissen würde, da der Mensch nun einmal sowieso nicht zu ändern ist.

Hier spielen auch alte, eingeschliffene Ideen eine Rolle, die das Wissen verdächtigen, wie folgender Gedanke aus der Bibel: „Viel Wissen, viel Ärger,/wer das Können mehrt, der mehrt die Sorge.“ (Kohelet 1:18) Der Spruch drückt eine Weisheit aus, die auf die problematischen Wirkungen des Wissens und seiner Wirkungen hinweist.

Dann gibt es da auch noch eine fast moralische Hemmung, die sich in dem Diktum „Tout comprendre c’est tout pardonner“ ausdrückt. Diese Angst vor so etwas wie einem moralischen Kollaps scheint im intellek-tuellen Verständnis und in der Einsicht in Motive und Zusammenhänge so etwas wie ethische Laschheit oder Gleichgültigkeit zu vermuten, wobei diese Gefahr nur dort besteht, wo ethische Unsicherheit und Ambivalenz vorherrschen. Diese Haltung erinnert mich an einen Gedanken von Thomas Mann, der den Kampf gegen Hitler als „moralisch gute Zeit“ empfand, da mit ihm wieder deutlich wurde, wo Gut und Schlecht standen.

Nun hat in der Geschichtsschreibung und besonders in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seinen Gräueln seit längerer Zeit die Erkenntnis der Täter und deren Motivation diejenige der Opfer in den Hintergrund gedrängt. Politologische (Hannah Arendt) und psychologische (Stanley Milgram, Philip Zimbardo) Erklärungen haben hier seit den Sechzigerjahren wichtige Einsichten zu Tage gebracht. Besonders in unserem Jahrtausend sind dann die Analysen von Christopher Browning (Ganz normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die ‚Endlösung‘ in Polen), von Götz Aly (Hitlers Volksstaat) oder Harald Welzer (Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden) diesen Hintergründen auf die Spur gegangen.

Schäbiges Format, bequeme Befehlshörigkeit gegenüber Autoritäten, eigene Machtgelüste, die sich auf Kosten „Minderwertiger“ ausleben können, Mangel an Empathie in Bezug auf den vermeintlich „Anderen“, feige Anpassungslust sind einige der wichtigsten Ursachen, die den „Verursacher des Bösen“ nicht außerhalb der Gruppe der Mitmacher des Systems, sondern in diesen Mitläufern selbst sehen. So war lange Zeit Hitlers dämonische und teuflische Verführungskraft ein Grund, der seinen Befehlsanordnungen zu widerstehen als ein Ding der Unmöglichkeit hinstellte und somit die Täter entlastete und gerade durch diese irrationale Erklärung entschuldigendes „Verstehen“ für die Täter und Vergessen und Verzeihen für ihre Schwächen förderte. Man brauchte den Grund für das Mitmachen nicht in sich selbst zu suchen, denn man war selber als Täter schließlich auch ein Opfer und somit aus dem Schneider.

So entstand in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts eine interessante Streitfrage, da Thomas Mann in seinem Roman Lotte in Weimar (1939) dem Dichterfürst Goethe folgendes Eingeständnis in seine Gedanken einfließen ließ: „Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, das ich nicht hätte begehen können.“ Besonders seitens einer nationalen Rechten warf man Thomas Mann vor, dass er „Goethe in antideutschem Sinn“ verfälschte. Vermutlich ging Mann bei dieser „Collage“ von Goethes Ideen in den Sprüche(n) in Prosa aus: „Jeder hat etwas in seiner Natur, das, wenn er es öffentlich ausspräche, Mißfallen erregen müsste.“ Oder: „Ich habe niemals einen presomp-tuoseren Menschen gekannt als mich selbst, Und daß ich das sage zeigt schon daß wahr ist was ich sage.“ Schließlich und wohl am deutlichsten: „Man darf nur alt werden, um milder zu seyn; ich sehe keinen Fehler begehen, den ich nicht auch begangen hätte.“ Doch die Haltung ist sowohl bei Goethe wie bei Thomas Mann die eines offenen Geistes, der den Mut hat, zu seinem Menschenmöglichen und auch seinen negativen Potentialitäten zu stehen. Thomas Mann hat nicht umsonst einen Essay mit dem Titel Bruder Hitler überschrieben. Verstehen heißt auch immer: sich selber kennenlernen mit seinen Mängeln und ohne dem Ego zu schmeicheln.

Ein weitere Haltung, die bewusst und absichtlich auf jegliche Veränderung des Menschen verzichtet und somit die Erkenntnis negativ einschätzt, ist eine falsch verstandene Religiosität, die eigentlich im Konformismus gründet. Hier wird im Dienste des Glaubens auf die fundamentale Schwäche von Denken und Erkennen verwiesen.

Echtes Denken versetzt den Menschen seit jeher in Unbehagen. Da es unweigerlich in die Ambivalenz führt, erschwert es die eindeutigen Urteile der dummen Einfachheit und deren von keines Gedankens Blässe angekränkelte Handlungen, die auch vor dem Mord am Anderen nicht zurückschrecken.

Wenn ich Hannah Arendts Sicht des Bösen hier verteidige, so steckt dahinter auch die intellektuelle Hoffnung, dass das Erkennen und Verstehen am Ende dem Bösen ein Ende bereiten oder es wenigstens einschränken kann.

Die schlimmen Nebenwirkungen einer problematischen Aufklärung werden nicht erst seit Tschernobyl und Fukushima befürchtet; sie liegen in einer voreiligen Praxis, die ihrerseits verständlich ist, die aber Aufklärung und Moderne insgesamt in Frage stellt. Im Unterschied zu Lao Tse glaubt man bei uns, immer wieder die Ergebnisse der klärenden Forschung sofort in praktisches Handeln umsetzen zu müssen. Wobei doch eher das Denken zum Wu-Wei, zum Einhalten des unüberlegten Handelns, führen sollte.

Jacques Wirion
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