Die Bewohner der Stadt sind zu praktisch 100 Prozent Ausländer, oft von Berufs wegen gewaltbereit, kaum der deutschen Sprache mächtig, nicht selten alkoholisiert und integrationsunwillig: Kaliningrad ist ein deutscher Alptraum. Den meisten Deutschen ist die ehemalige Hauptstadt Ostpreußens allerdings herzlich egal. Wenn im Fernsehen irgendein Vertriebenenfunktionär abstruse Reden schwingt, müssen gewöhnliche Zuschauer einen Atlas herauskramen: Wo war dieses Königsberg noch mal? Von Berlin 600 km nach Osten, von Moskau 1 300 km nach Südwesten ...
Im Januar 1945 dampften dort die letzten Flüchtlingszüge ab; von einst 370 000 Königsbergern war nicht einmal mehr die Hälfte in der Stadt. Nach dem Einmarsch der Roten Armee wurde Ostpreußen aufgeteilt: Den Süden bekam Polen, den Norden die Sowjetrepublik Litauen. Dazwischen wurde rund um Königsberg ein 195 km langer, 110 km breiter Streifen, knapp sechs Mal so groß wie Luxemburg, der Sowjetrepublik Russland einverleibt. Damit bekam Russland einen eisfreien Ostseehafen – und konnte besser auf die „sozialistischen Brüdervölker“ aufpassen. So weit noch nicht erschossen oder verhungert, wurden die letzten in dem Gebiet verbliebenen Deutschen in die DDR abgeschoben. Neusiedler kamen aus der ganzen Sowjetunion in die russische Exklave, die 1946 nach dem gerade verstorbenen Staatspräsidenten Michail Kalinin benannt wurde. Stalins Mörderkumpel begrüßt seither 13 Meter hoch in Bronze die Besucher der preußischen Krönungsstadt, mit der er zu Lebzeiten nie irgendetwas zu tun hatte.
Touristen kamen allerdings erst ab 1991, denn bis dahin war Kaliningrad ein militärisches Sperrgebiet, für das selbst Sowjetbürger eine Sondergenehmigung benötigten. Die ersten deutschen Reisebusse waren für die Kaliningrader ein Schock: blitzende, leise über die Straßen schwebende UFOs voller braungebrannter Senio-ren. Den Sowjetmenschen, die oft mit 40 schon etwas abgeschafft sind und – sofern männlich – eine Lebenserwartung von rund 58 Jahren haben, erklärten die rüstigen Turnschuhträger fröhlich, sie seien schon 70 oder gar 80. Viele krempelten auch gleich die Ärmel hoch und übernahmen Patenschaften für Krankenhäuser, verteilten Päckchen an Kindergärten oder starteten Denkmalschutzprojekte – denn „man muss doch was tun, so runtergekommen, wie das hier alles aussieht“. Wurde je eine Siegermacht so von Rentnern gedemütigt?
Befürchtungen oder auch Hoffnungen, die Deutschen könnten wieder in Kaliningrad einfallen, bestätigten sich nicht. Die „Heimwehtouristen“ wollten bloß die Orte ihrer Kindheit noch einmal wiedersehen. Obwohl russische Stadtführer umgehend den Vorkriegs-Baedecker auswendig lernten und brav die alten Straßennamen verwendeten, waren die Urpreußen meist tief enttäuscht: Das einst dicht bebaute Zentrum von Königsberg war bereits 1944 bei britischen Luftangriffen in Flammen aufgegangen; beim Wiederaufbau wurden Plattensilos locker in Parks verstreut. Obwohl die Sowjets Schlösser, Kirchen und Landhäuser niedermachten, haben sich in den Randbezirken viele deutsche Bauten erhalten, jedoch völlig verlottert. Das platte Land ist für ehemalige Bewohner überhaupt nicht mehr wiederzuerkennen: Da Landwirtschaft keine Stärke der Kommunisten war, ist die einstige Kornkammer Deutschlands versumpft und versteppt; mehr als 2 000 Dörfer sind ganz verschwunden. „Das nächste Mal lieber wieder nach Mallorca ...“
Im Jahr 1993, kurz nach der Grenzöffnung und der Wiederanbindung an die polnische Normalspur-Eisenbahn, kamen mehr als 100 000 Ausländer nach Kaliningrad. Doch ihre Zahl sank bald wieder – auf gerade noch 10 000 pro Jahr. Die meisten Besucher sind nach wie vor Deutsche mit Beziehungen zum ehemaligen Ostpreußen. Andere Westler tun sich den Visum-Krampf und die zuweilen abenteuerlich langwierige Anreise nur selten an. Belohnt werden sie mit einem bizarren Freilichtmuseum: deutsche Ruinen, sowjetischer Schrott und moderner Neureichen-Kitsch. Mit etwas Glück kann man dazwischen Elche beobachten oder Bernsteinstücke finden. Die Massen der russischen Touristen zieht es vor allem zum Baden an den Ostseestrand.
Von den heute rund einer Million Einwohnern des Gebiets Kaliningrad leben etwas über 400 000 in der Hauptstadt. Nicht alle sind freiwillig da: Russ-lands Baltische Flotte hat hier ihr Ausbildungszentrum. In Kaliningrad wurden auch viele aus Osteuropa abgezogene Militärs stationiert. Entsprechend sind viele Orte weiterhin gesperrt. Selbst wer nicht direkt den Generälen untersteht, fühlt sich oft als Geisel der Moskauer Zentrale, die Kaliningrad vor allem als mögliche Raketenabschussbasis sieht und ansonsten nicht viel damit anfangen kann. Präsident Jelzin zum Beispiel erklärte das Gebiet zur Sonderwirtschaftszone, um einen Ausgleich für die schwierige abgeschottete Lage inmitten von EU- und Nato-„Partnern“ zu schaffen. Er fürchtete dann aber Separatismus und kassierte die meisten Vergünstigungen gleich wieder. Die Kaliningrader reagieren mit trotzigem Lokalpatriotismus, trinken Ostmark-Bier und Stary-Kenigsberg-Wodka und nennen ihre Stadt gerne kurz „Kenig“.
Einen kurzen Aufschwung und aus dem Boden sprießende Sushi-Restaurants erlebte die Sonderzone im Jahr 2005. Der Slogan „750 Jahre Kaliningrad-Königsberg“ wurde zwar von Moskau zurückgewiesen, auch „60 Jahre Sturm auf Königsberg, 750 Jahre unsere Stadt“ fand keine Gnade. Dann wurde aber doch mit gro-ßem Tamtam ein „Doppeljubiläum“ gefeiert. Zur Vorbereitung wurde Tag und Nacht gebaut, gemalt und geputzt. Sogar die Fassade des „Haus der Sowjets“ wurde frisch getüncht; diese 21 Stock hohe Bauruine verrottet seit den 1970er Jahren an der nur unzureichend befestigten Stelle des weggesprengten Schlosses der preußischen Könige. Auf dem Siegesplatz (früher: Hitler- bzw. Hansaplatz) wurde eine Orthodoxe Kirche errichtet, zehn Meter höher als die Ruine des deutschen Doms. Zur Einweihung kam nicht nur Präsident Putin, der mit einer Deutschlehrerin aus Kaliningrad verheiratet ist, sondern auch der damalige deutsche Bundeskanzler Schröder, der bald darauf zu einem russischen Gaskonzern wechselte.
Im gerade vergangenen Jahr bereitete Kaliningrad, eine der letzten verbliebenen Weltkriegsbeuten, der russi-schen Zentralregierung kaum Freude: Die von der Wirtschafskrise gebeutelten Einwohner veranstalteten besonders viele Protestkundgebungen. Örtliche Journalisten erklären die Demonstrationen allerdings vor allem damit, dass der von Moskau eingesetzte Gouverneur angestammte Pfründe einheimischer Geschäftsleute für fremdes Kapital geöffnet habe. Zur Beruhigung hat Präsident Medwedjew nun einen ehemaligen Mitarbeiter des alten Gouverneurs zum neuen Gebietsverwalter gemacht. Dass Moskauer Biznesmeni aufhören sich einzukaufen, kann getrost bezweifelt werden. Die Investoren spekulieren darauf, dass Kaliningrad eines Tages zum Hongkong an der Ostsee wird. Oder doch wieder deutsch. Oder vielleicht als eigenständiges Ländchen der EU beitritt. Irgendwann muss ja irgendetwas passieren.