„Du musst endlich etwas tun“ habe sie gedacht. „Das Land brennt ab und niemand fühlt sich verantwortlich“, erzählt Jewgenija, eine 45-jährige Verlagslektorin aus Sankt Petersburg. Eine Nacht dachte sie nach, dann nahm sie eine Woche Urlaub und fuhr nach Moskau. Die Feuersbrunst habe vielen Bürgern klar gemacht, dass sie vergeblich auf Rettung und Hilfe vom Staat hofften, meint sie.
In den Großfeuern, die Russland seit Juli heimsuchen, starben nach offiziellen Angaben mehr als 50 Menschen, rund 2 000 Häuser brannten nieder und mehr als 3 000 Russen wurden obdachlos. Eine halbe Mil-lion Hektar Wald stand in Flammen. Zigtausende lodern noch immer. Nur der Wind hat gedreht und treibt den Rauch in dünn besiedelte Regionen. Ein Geschenk für das Zivilschutz-ministerium, das in der Feuersbrunst auch kleinste Erfolge fulminant in Szene setzte.
„Du musst bei Dir anfangen, wenn Du in diesem Land etwas verändern willst“, sagt die Lektorin. Die drahtige Frau schloss sich in Moskau einer Gruppe von Freiwilligen an, um bei Löscharbeiten in der Provinz zu helfen. Jewgenijas Wandlung stellt keine Ausnahme dar. Aus der Asche der Großbrände erhob sich ein Engagement, wie es die russische Zivilgesellschaft lange nicht mehr erlebt hat. Die Untätigkeit des Staates und gefilterte Informationspolitik riefen den russischen Bürger auf den Plan, den es eigentlich nicht geben dürfte. Denn nach Lesart des Kreml sind die Bürger weder reif für Demokratie noch bereit, selbst Verantwortung zu übernehmen.
Auch Valentin gehört zu den freiwilligen Feuerwehrleuten. Statt die Ferien am Schwarzen Meer zu verbringen, entschied sich der 35-jährige Ingenieur, Feuer im Gebiet Rjasan zu löschen. In der Region, 300 Kilometer von Moskau entfernt, wüten noch immer so schwere Brände, dass der Kreml den Ausnahmezustand aufrechterhält. Valentin suchte im Internet nach Gleichgesinnten. „Ich bin bei Greenpeace gelandet, weil mir die Hilfe am professionellsten schien“, sagt Valentin. „Wenn ich die Bilder von brennenden Dörfern sehe, kann ich nicht baden gehen“. Mit 20 Helfern absolvierte er vor dem ersten Einsatz einen Löschkurs. Leute wie er, mit technischem Verständnis und handwerklichem Geschick, sind in der Katastrophe Gold wert.
Sieben Stunden braucht der Kon-voi für die letzten zwanzig Kilometer bis zu einem der Brandherde im Oka-Nationalpark. Im Biosphärenreservat gibt es weder Straßen noch Schotterwege. In den Schneisen, die schweres Militärgerät eilig in den Wald fräste, versinken selbst Offroader. Pickups mit schwerer Ausrüstung, Pumpen und Schläuchen sind den mächtigen Wurzeln nicht gewachsen. Valentin, der bärenstarke Ingenieur, bewahrt Ruhe. Er holt die Wagen aus jeder Senke und improvisiert, wenn Keilriemen reißen. Spaß am Abenteuer müsse sein, schmunzelt er. „Abenteurer brauchen wir hier aber nicht.“
Die Lage im Park ist ernst. Von 55 000 Hektar brennen immer noch 10 000. Am Abend entfacht Blitzeinschlag einen neuen Brandherd. Die trockenen Kiefern brennen wie Zunder. Das Oberfeuer ist besonders gefährlich, manchmal erreichen die brennenden Wipfel Temperaturen von 1 500 Grad. Kilometerweit tragen Winde das Feuer davon. Die Brandkugeln nähern sich mit infernalischem Lärm, was auf dem Weg liegt, zerfällt in Sekunden zu Asche. Drei Dörfer am nördlichen Rand des Nationalparks sind zum zweiten Mal bedroht. Gegen solche Brände können Helfer von unten nichts ausrichten. Nur aus der Luft gibt es noch eine Chance. Über Funk fordert ein Löschflugzeug die Helfer am Boden auf, in Deckung zu gehen. Erfolg ist nicht garantiert. Die 40 Tonnen Wasser im Tank können das Ziel verfehlen oder Aufwinde verursachen, die den Brand erst richtig anheizen. Es sei denn, Wladimir Putin ist der Löschpilot, scherzt einer der Helfer. Der Premier hatte sich neulich forsch ins Cockpit eines Flugzeugs geschwungen und hoch oben über dem Flammenmeer den entscheidenden Knopf gedrückt. 21 Tonnen Wasser sausten herab. „Das verängstigte Volk weiß seither, dass Putin anrauscht, wenn es brenzlig wird“, lacht der Freiwillige. Die Wasserladung, wollen Eingeweihte wissen, verfehlte jedoch das Ziel. Reine Verschwendung, die mehrere Tausend Euro kostete.
Außer Jewgenija sind die Helfer im Oka-Nationalpark zwischen 20 und 35 Jahre alt. Also Kinder der „Generation Putin“, der man bislang nachsagte, angepasst, zynisch und hedonistisch zu sein. Und ohne Sinn für das Gemeinwohl. Wer nicht direkt beim Löschen helfen will, kann sich in Moskau auch anders nützlich machen. Dutzende Initiativen sind dank der umtriebigen russischen Bloggerszene im Nu entstanden. Ein Koordinationszentrum ist die Nichtregierungsorganisation „sprawedliwaja pomoschtsch“ (Gerechte Hilfe), die die Ärztin Jelisaweta Glinka organisiert. Doktor Lisa wird sie nach ihrer Website www.doctorliza.ru auch zärtlich genannt. Die Ärztin nimmt Hilferufe aus dem ganzen Land entgegen, sammelt Sachspenden für obdachlose Brandopfer und sorgt dafür, dass sie bei den Bedürftigen ankommen. Alles wird gebraucht, von Bettwäsche über Lebensmittel bis zu Spaten, Taschenlampen und Motorsägen. Die Sägen sollten aber „möglichst nicht aus chinesischer Produktion stammen“ bittet Liza im Blog. Mehr als hundert Transporte schickte sie in einer Woche in die Notstandsgebiete. Eine Armada von freiwilligen Fuhrleuten mit eigenen PKWs stellte sich zur Verfügung. „Auch junge Frauen im Galadress übernehmen Fuhren in die Provinz“, freute sich Glinka im Livejournal.
Um sinnvollen Einsatz von Helfern kümmert sich auch Igor Tscherski, in dessen Blog Leute erfahren, wo Unterstützung gebraucht wird. Tscherski ist leitender Redakteur bei einem Moskauer Radiosender. Er sei aktiv geworden, weil 90 Prozent der Bevölkerung wegen der offiziellen Informationen keine Vorstellung über das wahre Ausmaß der Bedrohung hätten, meint er. Besonders überraschte ihn, dass nicht nur die Opfer Hilfe benötigten: „Wir mussten die Feuerwehr nicht nur verpflegen, sondern auch noch mit Äxten, Spaten und Schläuchen ausrüsten. Das sei so, „wie wenn die Polizei bei einem Raubüberfall den Bestohlenen bittet, ihm eine Kalaschnikow zu leihen“.
Über Tscherskis Blog gelangt der Nutzer auch auf das Portal russian-fires.ru. Ende Juli entstand die Idee, nach dem Vorbild des „Ushahidi“ ein Portal einzurichten, über das SMS, Blogs, Informationen aus Medien und sozialen Netzen gesammelt und visualisiert werden können. In Kenia und beim Erdbeben in Haiti hatte sich die Methode bewährt. Innerhalb von zwei Tagen nahm die russische Version die Arbeit auf. Russlands Bloggerszene reagierte mit operativem Geschick. Die heißgelaufene Staatsmaschine schien dem wenig entgegenzusetzen zu haben.
Alexander Posilnich, einer der Sicherheitschefs im Oka-Nationalpark, sitzt derweil in seinem Hauptquartier, einer windschiefen Hütte. Vor der Tür tuckert ein Dieselgenerator. Vier Kilometer waldeinwärts brennt es seit Wochen. Löschgerät besitzt er keins. „Wir warten auf den Winter“, sagt er resigniert. 1988 habe der Park vom Staat letztmals neues Gerät erhalten. 30 Jahre arbeitet Posilnich schon als Waldhüter an der Oka. Zum Fuhrpark gehört ein sowjetischer Traktor und ein Anhänger, der eine halbe Tonne Wasser fasst. Er hat noch eine elektrische Pumpe, doch sie ist zu schwach, um Wasser in den Tank zu fördern. Anfangs war Inspektor Posilnich noch misstrauisch gegen die Hilfe der angereisten neunmalklugen Städter. Von der neuen Pumpe, die sie mitbrachten, war er jedoch gleich begeistert. Später stimmte ihn auch die Einsatzbereitschaft der Freiwilligen um. Vier Kilometer mussten sie zu Fuß zum Einsatzort laufen. Zwei Schichten à fünf Stunden schoben sie jeden Tag. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Es gelang, den Brand auf anderthalb Kilometern einzudämmen. „Molodzy!“, sagt er erfreut – Pfundskerle seid ihr! Am liebsten würde er sie noch ein paar Tage da behalten.
Den Erfolg der Freiwilligen leugnet auch das Zivilschutzministerium nicht mehr. Noch Ende letzter Woche wollte es sie am liebsten nach Hause schicken, da man sie nicht mehr bräuchte. Nach einem Tag zog das Ministerium die Anweisung zurück. Der Staat reagiert nervös. Das „Vereinigte Russland“, Putins Staatspartei, sah sich nicht in der Lage, vergleichbare Hilfe zu organisieren. Stattdessen versucht sie jetzt, die Helferszene zu vereinnahmen. Jelisaweta Glinka geriet bereits in die Schusslinie. Als sie sich weigerte, über ihre Arbeit auf der Partei-Website zu berichten, bezichtigten sie aufgebrachte Kader, ein U-Boot der Opposition zu sein. Und wenn schon, den Bedürftigen ist es wohl egal.