Jean-Claude Juncker kommentiert die Beschlüsse des Eurokrisengipfels im Parlament. Überschäumende Begeisterung sieht anders aus

Knobelarbeit

d'Lëtzebuerger Land vom 16.12.2011
Ob man die Erklärung von Staatsminister Jean-Claude Juncker am Mittwoch im Parlament als Werbung für die Gipfelbeschlüsse von vergangener Woche bezeichnen kann? Denn wirklich begeistert äußerte er sich zu keiner der getroffenen Entscheidungen. Er wies vor allem auf Lücken und Tücken hin. Alles andere wäre an einem Tag, da der Euro gegenüber anderen Weltwährungen Tiefststände erreichte, ohnehin kaum glaubwürdig gewesen. Immerhin aber kamen die Luxemburger Parlamentarier so überhaupt einmal in den Genuss, die Ansichten des Regierungschefs zu hören, der sich in den vergangenen Monaten ansonsten darauf beschränkte, im majestätischen „wir“ die Ansichten der von ihm präsidierten Eurogruppe darzulegen.

Bis dahin wurden kaum Fragen oder Einschätzungen aus den Parteizentralen und Fraktionen zu den Gipfelbeschlüssen hevorgebracht, beispielsweise über die kurzfristigen wie langfristigen Folgen für den Luxemburger Haushalt, die Luxemburger Wirtschaft oder das Luxemburger Sozialmodell. Das Krisenmanagement Junckers und seiner sehr zerstrittenen, konservativen europäischen Kollegen wurde kaum angezweifelt. Allein auf den ungebrochenen Europa-Enthusiasmus der Abgeordneten ist das wohl kaum zurückzuführen. Eher darauf, dass auch sie nach dem siebten Eurorettungsgipfel, den vielfältigen Rettungsansätzen und den doch mitunter sehr divergierenden Äußerungen verschiedener Regierungsmitglieder ein wenig den Überblick über die Situation verloren haben könnten. Darüber, wo die Regierung steht und über die Fortschritte bei der Eurorettung insgesamt. So kommt die schärfste Kritik an den Gipfelbeschlüssen von Juncker selbst und von Zentralbankchef Yves Mersch, was nicht heißt, dass sich beide in allen Punkten einig wären.

Juncker bedauerte am Mittwoch, dass es den Staats- und Regierungschefs nicht gelungen ist, alle 27 Mitgliedstaaten der EU an Bord zu nehmen, um über eine Änderung der EU-Verträge die haushaltspolitische Überwachung zu verschärfen und die Koordination zu verstärken. Von Schadenfreude über die Isolation der Briten, die sich mit ihrem Veto selbst ins Abseits manövriert haben, wollte er nichts wissen. Ihn grämen praktische Ursachen: „Wie macht man das, um Artikel aus einem Vertrag zwischen 27 Parteien, außerhalb eines Vertrags zu 27, zu 26 so umzuändern, dass er sich auf 26 anwendet, ohne dass der 27. das in der Anwendung verhindern kann? Das ist mehr als eine Knobelarbeit“, gab Juncker zu bedenken. Dabei dürfte ihn auch die Sorge umtreiben, ob am Ende überhaupt noch 26 EU-Länder den zwischenstaatlichen Vertrag unterzeichnen werden, der in Ausarbeitung ist. Denn auch wenn vergangene Woche alle Regierungen außer der britischen die Teilnahme zusagten, ist nicht sicher, ob ihnen ihre nationalen Parlamente dafür grünes Licht geben. Yves Mersch sagte, er wolle erst einmal die Vertragstexte sehen, bevor er sich äußere, bislang habe man „nur Beschlüsse“.

Mersch, der am Mittwoch Morgen die wirtschaftlichen Analysen der Luxemburger Zentralbank (BCL) vorstellte, das Bulletin 2011-3, ließ sich nicht lange bitten und wies explizit darauf hin, dass auch Luxemburg – in den vergangenen Jahren Musterschüler bei der Einhaltung der Defizit- und Schuldengrenzen – die neuen Kriterien nicht einhalte. Denn während die Euroretter in Brüssel beschlossen, eine verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse oder goldene Regel einzuführen, nach der jedes Land, das den neuen Vertrag unterzeichnet, kein strukturelles Haushaltsdefizit von über 0,5 Prozent ausweisen darf, zeigte Mersch Tabellen, nach denen Luxemburg das in den beiden vergangenen Jahren nicht schaffte (2009: -0,6; 2010: -0,9), es dieses Jahr womöglich schafft (2011: 0,1), in den kommenden zwei Jahren hingegen wieder nicht (2012: -0,5; 2013: -1,1). Man könne nicht weiter den Spagat machen, in Brüssel Stabilität zu fordern, um dann für Luxemburger Sonderbedingungen geltend zu machen. Um zu sparen, so Mersch in Richtung Finanzminister Luc Frieden, reiche es nicht aus, nur die Investitionen zu verschieben.

Frieden, der bislang gerne die Mustergültigkeit der Luxemburger Staatsfinanzen in den Vordergrund stellte, musste sich auch vom Staatsminister die Leviten lesen lassen: „Ein Thema, das in Luxemburg kaum behandelt wird, ist, dass wir wegen der indirekten Verbindlichkeiten im Rentenwesen eigentlich immer einen Überschuss von 0,5 Prozent ausweisen müssen“, machte Juncker Spagat. „Nun haben wir gesagt, wir wollen bis 2014 einen ausgeglichenen Haushalt“, fuhr er fort. „Wir sind dabei, anderen zu erklären, die uns nicht so gut kennen, wie wir uns selber sehen wollen, dass wir diesen 0,5-prozentigen Überschuss in den Jahren 2015-2016 erreichen wollen.“

Weil die Schuldenbremse in, dem nationalen Recht übergeordneten, europäischen Verträgen festgehalten werden soll, findet Juncker deren Eintragung in die nationalen Verfassungen der Eurostaaten eigentlich überflüssig. Der Europäi-sche Gerichtshof werde nicht, wie von Deutschland auf „penetranteste Art“ gefordert, die Einhaltung der Schuldenbremse kontrollieren und einschreiten, sollten die Haushaltsregeln gebrochen werden, sondern lediglich prüfen, ob alle Mitgliedstaaten die Regel in nationales Recht umsetzen. Das werde Luxemburg natürlich tun, aber: „Ich bin aus übergeordneten staatspolitischen Ursachen dagegen, das in eine Verfassung zu schreiben. Ich bin mir mit dem Finanz- und dem Außenminister darüber einig, dass wir das in ein Gesetz schreiben, das nur mit einer besonderen Mehrheit geändert werden kann“, so Juncker. Ohnehin wolle man erst einmal die Vorlage eines einheitlichen Textes abwarten.

Eindeutig positiv bewertete der Staatsminister lediglich die Entscheidung, die privaten Gläubiger insolventer Staaten nicht von vornherein zur Kasse zu bitten. Im Falle Griechenlands sollen sie auf die Hälfte ihrer Forderungen verzichten. Das soll aber, anders als von der deutschen Kanzlerin Angela Merkel und dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy vor einem Jahr am Strand in Deauville beschlossen, die Ausnahme bleiben. Zwar machte Juncker deutlich, dass auch er es gerecht findet, wenn nicht nur das Steuervolk, sondern auch Banken, Versicherungen und Fonds bei Staatenrettungen in die Verantwortung genommen werden. Doch in der Praxis funktioniert diese Regel nicht. „Ich habe gelernt, dass wenn wir in der Eurozone das einzige Währungsgebiet in der Welt sind, in dem bei der Behebung einer Schuldenkrise die Privatgläubiger sich von vornherein und prinzipiell beteiligen müssen, das dazu beiträgt, dass kein Mensch mehr bereit ist, sich in irgendeinem Land dieser Währungszone zu engagieren.“

Weil der permanente Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), der den provisorischen Rettungsschirm EFSF ablösen soll, wie am Freitag beschlossen, nicht erst 2013 sondern bereits im Juli 2012, spätestens aber im Oktober 2012, für weitere Staatenrettungen einsatzbereit sein soll, müssten die Mitgliedstaaten die Einzahlung des ESM-Kapitals vorverlegen, erklärte Juncker. Insgesamt 80 Milliarden Euro Barkapital sollen sie einzahlen. Er sei der Meinung, die Summe solle integral 2012 eingezahlt werden und nicht in fünf Tranchen auf fünf Jahre verteilt. Im Oktober vergangenen Jahres hatte Finanzminister Luc Frieden die Beteiligung Luxemburgs am ESM auf 250 Millionen Euro beziffert. Beim Krisengipfel vergangenen Freitag hatten die Regierungschefs angedeutet, 700 Mil-liarden Kapital und eine tatsächliche Kreditvergabekapazität von 500 Mil-liarden Euro für den ESM könnten nicht ausreichen, man werde das im März 2012 prüfen. Was das für die Luxemburger Beteiligung bedeuten könnte und wann wie viel Geld für den ESM aufgebracht werden muss, und wie das mit den aktuellen Haushaltsplänen übereinstimmt, darauf ging Juncker nicht ein.

So bleibt auch nach der Regierungserklärung unklar, wie stark die Belastung der Luxemburger Staatsfinanzen durch die verschiedenen Rettungsaktionen ist. Denn die europäischen Staats- und Regierungschefs beschlossen vergangene Woche, die Mittel des Internationalen Währungsfonds (IWF) um 200 Milliarden Euro aufzustocken (davon entfallen 150 Milliarden auf die Eurostaaten), damit er mehr Geld für weitere Euro-Staatenrettungen zur Verfügung hat.

Am Mittwochmorgen hatte Yves Mersch noch gemeint, die Luxemburger Beteiligungssumme von 1,5 bis zwei Milliarden Euro, die er einem Interview mit dem „großen Luxemburger Premier in einer großen Luxemburger Tageszeitung“ entnommen habe, sei „umwerfend“, vielleicht handele es sich dabei um einen Druckfehler. Die Berechnungen der Zentralbank, über die das Geld an den IWF fließen wird, zeigten andere Resultate. Doch am Nachmittag wiederholte Juncker die Summe von 1,5 bis zwei Milliarden Euro und die Diskussionen zwischen Regierung und Zentralbank darüber, wie die Summe beschafft werden soll, versprechen interessant zu bleiben. Denn Mersch machte am Mittwochmorgen unmissverständlich deutlich, wo er steht: „Ich gehe ja nicht davon aus, dass irgendjemand hier meint, wir würden dieses Geld im Keller drucken.“ Und: „Ich kann nur sagen, ich drucke kein Geld, um Versprechen zu halten, die jemand anderes in Brüssel gegeben hat. Das mache ich nicht, dazu kann niemand mich zwingen. Mein Kapital steht, um den Euro zu verteidigen, das muss ich da stehen lassen.“ Die Zentralbank brauche ihr Kapital, um Verluste auf den Staatsanleihen abzudecken, die sie den Luxemburger Banken im Rahmen der von der EZB beschlossenen Sondermaßnahmen abgekauft habe. Man könne das Geld nicht zwei- oder dreimal ausgeben.

„Jemand anderes“ versuchte am Nachmittag, die Möglichkeiten aufzuzählen, ohne dem Zentralbankchef zu viel auf die Füße zu treten. So scheinen durch staatliche Garantien gedeckte Darlehen der Zentralbank an den IWF Junckers bevorzugte Lösung zu sein, die er mit Mersch diskutieren will. Doch auch wenn Juncker die Unabhängigkeit der Europäischen und der nationalen Zentralbank offiziell und betont in den Vordergrund stellte, gab er durch die Blume zu verstehen, dass er die Zeit für größere Zentralbankeinsätze für gekommen hält. Er habe sich dafür ausgesprochen, dass der EFSF eine Banklizenz erhalte, so Juncker. Dadurch könnte sich die Gesellschaft bei der Zentralbank refinanzieren. Damit plädiert der Staatsminister genau für die Lösung, gegen die sich Mersch wehrt: Dafür, dass die EZB die Notenpresse in Gang bringt. Das lehnte Mersch am Mittwochmorgen ab: Das Vertragsmandat der EZB, durch parlamentarische Mehrheiten abgesichert, sei die Inflationsbekämpfung. Wer vom europäischen Zentralbanksystem fordere, andere Aufgaben zu übernehmen, müsse dafür erst die notwendigen Mehrheiten finden. „Wenn man uns morgen sagt, wir sollen etwas anderes machen, dann machen wir morgen etwas anderes.“

Michèle Sinner
© 2024 d’Lëtzebuerger Land