Die erste EU-Kommissarin für Justiz, Grund- und Bürgerrechte

Die Schwäche, die fordert Gewalt

d'Lëtzebuerger Land vom 14.01.2010

Mit ihrem unnachahmlichen Talent zum Selbstlob und zur Bedienung ihres Publikums mit dem, was es gerade hören will, stellte sich die Luxemburger EU-Kommissarin ­Viviane Reding am Dienstag ihrer Anhörung im Europaparlament. „Ich bin auch sehr stolz, zum ersten Mal in diesem starken Moment der Demokratie vor Ihnen zu stehen als die erste designierte Kommissarin überhaupt für Justiz, Grund- und Bürgerrechte“, freute sich die christlich-soziale Politikerin. „Denn es ist auf diesen Gebieten, wo die Bürger sehr viel von uns Politikern erwarten, in der Kommission, im Rat und vor allem im Europaparlament. Oh, weshalb? Weil sie sehr oft enttäuscht wurden.“

Doch mit dem am 1. Dezember in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon sei das nun anders, habe die Union neue Zuständigkeiten erhalten. „Ich bin überzeugt, dass der Vertrag von Lissabon nun eine ganze Umorientierung unserer Politik auf den Gebieten der Justiz, Grund- und Bürgerrechte bedeutet. Nicht nur eine Umorientierung im Denken, sondern auch eine Umorientierung der Resultate. Denn es gibt keinen Frieden ohne gerechte Sicherheit, und es gibt keine Sicherheit ohne Recht. Aber in dem zurückliegenden Jahrzehnt wurde sich auf die Sicherheit konzentriert, und das Recht wurde vernachlässigt.“

Dass Luxemburg mit der ehemaligen Kommissarin für Kommunikation und Medien der Europäschen Union die beste Verteidigerin des Rechts gegen das Übergewicht der Sicherheit geschenkt haben soll, kommt für manche ihrer langjährigen politischen Weggefährten überraschend. Denn in ihrer beruflichen und politischen Laufbahn gehörten weniger rechtsstaatliche Prinzipien als markige Law-and-­order-Sprüche zu ihrem Geschäftsfundus, mit dem sie ihre sehr konservative Wählerschaft erfolgreich hofierte.

Als Redakteurin des Luxemburger Wort schrieb sie sich mit Beiträgen für eine autoritäre Staatsgewalt und gegen die links-liberalen Feindbilder des Blatts in die Herzen ihrer Vorgesetzten und Wähler. Dazu gehörten reißerische Kampagnen gegen die vom sozialistischen Justizminister Robert Krieps angestrebte „Humanisierung des Strafvollzugs“, selbst als Krieps 1984 Justizminister einer CSV/LSAP-Koalition geworden war. Als Gemeinderätin in Esch-Alzette zählte Reding zur reaktio­nären „Stahlhelmfrak­tion“ der CSV.

Im Parlament fasste die Abgeordnete Reding ihre Vorstellungen über Justiz, Grund- und Bürgerrechte vielleicht nie so beeindruckend zusammen wie während der historischen, von der Brigade mobile de la gendarmerie herbeigebombten „Debatte über die Probleme im Zusammenhang mit der öffentlichen Sicherheit“ vom 27. bis 29. Mai 1986. Reding scheute vor keinem Topos rechter Panikmache zurück, um Recht und Sicherheit gegeneinander auszuspielen: „Da wird ein Gauner von der Polizei oder Gendarmerie festgenommen und bei der Justiz abgeliefert. Und was geschieht? Nach ein paar Stunden läuft er wieder frei über die Straße. [...] Bei schwerwiegenderen Verbrechen, wenn die Verbrecher ins Gefängnis kommen (und man muss es schon schlimm treiben, um hier in Luxemburg ins Gefängnis zu kommen), was geschieht dann? Dann kommen sie nach einer gewissen Zeit in den Genuss von Strafurlaub oder kommen wegen guter Führung vorzeitig heraus.“

Entschieden plädierte sie dafür, die wenige Jahre zuvor begonnene Modernisierung des Strafrechts zurückzurollen, auch aus Rücksicht auf die Lynchjustiz: „Durch solche Gesetze bringen wir es bloß fertig, dass die Kriminalität nicht abnimmt, sondern sie auf einen Schlag steigt. Aus einem Leserbrief aus dem Luxemburger Wort zitiere ich noch Folgen­des: ‚Denn mit solchen Vorstellungen vom Strafvollzug, wie sie augenblicklich bei uns bestehen, brauche man sich nicht zu wundern, wenn die Bürger dieses Landes, wenn ihnen der Kragen platzt, ihre Verteidigung selbst in die Hand nehmen.’“ Denn, so die Abgeordnete, „das Volk hat vielleicht mehr gesunden Menschenverstand als wir hier. [...] Was hat der Polizist, der von einem Strafurlauber erschossen wird, davon, dass das nur ein Ausnahmefall ist?“

Schuld sind Mai ’68 und Matthäus 5, 38-39: „Wenn unsere Gesellschaft angesichts der Kriminalität nach dem Motto vorgeht ‚wenn ich eine Ohrfeige erhalte, halte ich auch noch die andere Wange hin, weil die armen Straftäter, es ist ja nie ihre eigene Schuld, dass sie das tun, es ist nur meine Schuld, weil ich ein Mitglied einer Gesellschaft bin, welche die Kriminalität herausfordert’, dann freuen sich natürlich die Gauner über die Schwäche, und sie gebrauchen diese Schwäche der Gesellschaft, um noch aktiver in ihrem Beruf zu werden.“

Deshalb verlangte die designierte Kommissarin für Justiz, Grund- und Bürgerrechte einen gnadenlos starken Staat: „In Sachen Kriminalität, meine Damen und Herren, ist es meiner Meinung nach genauso wie in Sachen Terrorismus. Wenn man nur die Ursachen untersuchen will und dann bei den Aktionen Glacéhandschuhe anzieht, was geschieht dann? Dann schafft man den richtigen Nährboden für Gewalt! Die Schwäche, die fordert Gewalt, die Schwäche bewirkt, dass die Gewalt immer größer wird, dass sie herausgefordert wird.“

Mit einem Churchill-Zitat machte Reding jede Liberalisierung des Strafrechts zur feigen Appeasement-Politik: „Unsere Lage mit der Gewalt, meine Damen und Herren, ist ähnlich. Wir haben die Unehre gewählt, wir haben schon lange die Gewalt, und ich hoffe, dass wir nicht auch noch den Krieg verlieren.“

Romain Hilgert
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