„Esch atmet auf“, titelte am Mittwoch der Tageblatt-Chefredakteur in seinem Leitartikel über den Bürgermeisterwechsel in Esch/Alzette. Nachdem Georges Mischo (CSV), der 2017 die Herrschaft der LSAP beendet hatte, am 17. November als Minister für Sport und Arbeit in Luc Friedens neuer CSV-DP-Regierung vereidigt wurde, wählte der Gemeinderat am Mittwoch fast einstimmig den bisherigen So-zialschöffen Christian Weis zu seinem Nachfolger im Rathaus. Mit 37 Jahren ist er der jüngste Escher Bürgermeister seit Jean-Pierre Michels (1912-1917).
Georges Mischo hatte in den vergangenen Jahren Esch gespalten. Seinen Wahlsieg von 2017 betrachtete er auch als persönliche Revanche für 1999, als die CSV die Gemeindewahlen in Esch gewann, es 2000 aber nach internen Machtkämpfen und einem Korruptionssskandal um den CSV-Bürgermeisteranwärter Ady Jung und den früheren CSV-Gemeinderat und Georges Vater, Josy Mischo, zu Neuwahlen kam, aus denen die LSAP schließlich als Gewinnerin hervorging und der Traum der CSV, die Macht in Esch zu übernehmen, vorläufig platzte. Schon vor sechs Jahren hatte Georges Mischo im Wahlkampf polarisiert, als er der rot-grünen Mehrheit unterstellte, die für die Entwicklung Eschs wichtigen Projekte zu verschleppen. Eine große Koalition mit der fast gleich starken LSAP war für ihn weder 2017 noch in diesem Jahr in Frage gekommen, im Juni setzte er die Zusammenarbeit mit DP und Grünen trotz leichter Verluste noch am Wahlabend fort, ohne mit der LSAP Gespräche zu führen. In den vergangenen sechs Jahren hatten sich die Fronten zwischen den beiden großen Parteien verhärtet, was einerseits daran lag, dass die gekränkten Sozialisten lange brauchten, um sich mit ihrer Wahlschlappe abzufinden, andererseits aber auch mit Mischos autoritärem und überheblichem Auftreten gegenüber der Opposition zusammenhing. Vorschläge von LSAP und Déi Lénk im Gemeinderat lehnte er grundsätzlich und häufig ohne Begründung ab.
„Nach sechs Jahren hat Esch endlich wieder einen Bürgermeister“, sagt am Montag der linke Gemeinderat Marc Baum. Anders als sein Vorgänger kenne Weis die Stadt, ihre Menschen – und seine Dossiers. Der Fraktionssprecher der LSAP, Steve Faltz, will schon bei der letzten Gemeinderatssitzung am 20. Oktober, als der Erste Schöffe Pim Knaff (DP) die Rolle des stellvertretenden Bürgermeisters übernahm, weil Mischo wegen der Koalitionsverhandlungen zur Bildung der neuen Regierung fehlte, einen „anderen, humorvolleren Diskurs“ festgestellt haben. Von Christian Weis erwarten sich LSAP und Linke, dass er mit Vorschlägen der Opposition konstruktiver umgeht als sein Vorgänger.
Schon alleine wegen seines Berufs als Assistant So-cial (der Croix-Rouge) im interkommunalen Sozialamt der Speckgürtelgemeinden Mamer, Bartringen, Dippach, Kehlen, Kopstal, Leudelingen und Reckingen/Mess habe Weis ein sozialeres Profil als der Sportlehrer Mischo, urteilt gegenüber dem Land auch DP-Schöffe Pim Knaff, der ihn als kompromissbereit, doch geradlinig beschreibt und ihm die Fähigkeit bescheinigt, über sich selbst lachen zu können.
Politisch steht Christian Weis in der Tradition der „Herz-Jesu-Marxisten“. In der kleinen Bibliothek in seinem Büro stehen über den Standardwerken zur Geschichte der Stadt Esch eine Kennedy-Biographie, Das Kapital von Karl Marx, die von Gilbert Trausch herausgegebene Chronik der CSV im 20. Jahrhundert, der sozialkritische Graphic Novel Le Choix du chômage und Patterns of Democracy des Konsensusdemokraten Arend Lijphart. Weis’ Mutter Renée war Verkäuferin und später Hausfrau. Sein Vater Guy – Lehrer an der Escher Groussgaass-Schule, Chef der (katholischen) Grenzer Scouten und im Pfarrverband aktiv – schickte seinen jüngsten Sohn (Christians Bruder Marc ist 15 Jahre älter als er) in die Grundschule im Armenviertel Brill statt in die im Nobelviertel Dellhéicht und verkehrte regelmäßig mit Escher CSV-Größen. „Für mich war immer klar, dass wir zu dieser C-Familie gehören“, sagt Christian Weis im Gespräch mit dem Land. Mit 18 trat er der CSV bei, engagierte sich in der CSJ, mit 19 rekrutierte Frunnes Maroldt ihn erstmals als Kandidat für die Gemeindewahlen. Kurze Zeit später starb sein Vater, der lange an Multipler Sklerose gelitten hatte.
Jean-Claude Juncker habe ihn fasziniert, François Biltgen habe Einfluss auf ihn gehabt, die CSV habe stets für eine vernünftige Politik gestanden, die nicht unsozial, aber auch nicht liberal gewesen sei, begründet Christian Weis seine Parteiwahl. Nach dem Abitur am Escher Jongelycée absolvierte er eine Ausbildung zum Assistant social an einer Hochschule in Louvain, wo er anschließend an der katholischen Universität noch einen Master in Politikwissenschaften dranhängte.
In der CSJ kämpfte er an der Seite von Serge Wilmes, Fréd Ternes und Georges Weber für mehr Mitspracherecht; nach dem Regierungswechsel von 2013 war er bei der ersten Versammlung der im katholisch-konservativen Nordbezirk gegründeten Dräi-kinneksgrupp dabei, der auch Linkskatholiken wie Charel Schmit und Pierre Lorang angehörten. Die sich als „christlich-soziale Denkfabrik“ verstehende Gruppe setzte sich mit Leserbriefen und anderen Publikationen für die Erneuerung der CSV und eine breitere Beteiligung der Parteibasis ein.
Sie rannte damit offene Türen ein, denn auch der damalige Parteipräsident Marc Spautz und sein Generalsekretär Laurent Zeimet hatten das Bedürfnis nach Erneuerung erkannt. Sie beauftragten den Rechtsanwalt Marc Thewes und den früheren Wort-Chefredakteur Marc Glesener mit einer Mitgliederbefragung, um einen Zustandsbericht der Partei zu erstellen. Im Zuge dieses Prozesses betraute Spautz Christian Weis damit, zusammen mit der heutigen CSV-Ko-Generalsekretärin und Bürgermeisterin von Rosport-Mompach, Stéphanie Weydert, ein Modell für eine christlich-soziale Stiftung nach dem Vorbild der sozialistischen Fondation Robert Krieps auszuarbeiten. Das Stiftungsprojekt scheiterte an fehlendem Zuspruch, doch Weis freundete sich mit Marc Spautz an und wurde zu dessen Protegé.
Beide zählen sich zum sozialen Flügel der CSV, der seit dem Ausscheiden von Jean-Claude Juncker, François Biltgen und Marie-Josée Jacobs aus dem nationalpolitischen Geschehen an Bedeutung verloren hat. Trotzdem ist Christian Weis der Meinung, dass die CSV es bis heute fertigbringe, sozial- und gesellschaftspolitische Themen voran zu treiben. Politiker/innen wie Paul Galles, Maurice Bauer, Ricardo Marques oder die neue Gesundheits- und Sozialministerin Martine Deprez fühlten sich der christlichen Soziallehre immer noch verpflichtet.
Im Gegensatz zu Georges Mischo, der erst mit 36 Jahren der CSV beitrat und in weniger als zehn Jahren vom Gemeinderat zum Minister aufstieg, ist Christian Weis kein Parvenü. Er hat sämtliche Etappen und Parteigremien durchlaufen, sein politischer Aufstieg verlief schrittweise. Den größten Sprung machte er jedoch 2017, als er als Generalsekretär der Escher Sektion im Windschatten von Präsident Georges Mischo die wohl polemischste, doch zugleich erfolgreichste Wahlkampagne in der Geschichte der Escher CSV bestritt. Weil der Zweitgewählte Frunnes Maroldt kurz nach den Wahlen verstarb, erbte der Viertgewählte Weis dessen gesplittetes Schöffenamt, das er 2020 von der Grünen Mandy Ragni übernahm. Seitdem war er das sozialpolitische Aushängeschild der schwarz-blau-grünen Koalition: Wenn der Escher OGBL zu einer Table-Ronde lud, schickte die CSV ihn und nicht den heutigen Arbeitsminister.
Christian Weis’ politische Bilanz als Schul- und Sozialschöffe bleibt indes mager. Sein größtes Verdienst ist die Neuauflage des vor 20 Jahren vom linken Schöffen André Hoffmann eingeführten Rapport social. Die Oppositionsparteien bemängeln, dass etwa der Ausbau des Abrisud und die Renovierung der gemeindeeigenen Sozialwohnungen noch immer auf sich warten lassen, sehen ihm diese Versäumnisse jedoch nach, weil er erst seit drei Jahren im Amt ist.
Als Bürgermeister werden nun neue Aufgaben auf Christian Weis zukommen. Seit 2017 hatte die Stadt Esch nach Innenminister Dan Kerschs (LSAP) Gemeindefinanzreform wesentlich mehr Geld aus dem kommunalen Dotationsfonds erhalten (jährlich rund zehn Millionen Euro zusätzlich). Diese Zusatzeinnahmen investierten CSV, DP und Grüne in den vergangenen sechs Jahren etwas verschwenderisch in kulturelle Großevents wie Francofolies und Nuit de la Culture und in Prestigebauten, wie den Umbau des Ariston und der Konschthal, die Renovierung der Lallinger Sporthalle und den Bau einer großen Sportarena samt nationalem Sportmuseum, mit dem Sportlehrer Mischo sich ein Denkmal setzen will. Um Zeit zu sparen, wurden viele Projekte umgesetzt, ohne staatliche Zuschüsse zu beantragen.
Seit dem Ende der Corona-Pandemie seien die Ausgaben jedoch gestiegen und die Einnahmen zurückgegangen, sagt Weis, der am 8. Dezember dem Gemeinderat die Haushaltsvorlage für 2024 präsentieren will. Würden alle Projekte, die in den vergangenen Jahren geplant wurden, fristgerecht gebaut, müsse die Gemeinde noch in diesem Jahr eine Anleihe von 70 Millionen und nächstes Jahr eine weitere von 140 Millionen Euro aufnehmen. In der ersten Gemeinderatssitzung nach den Gemeindewahlen im Juni hatte die schwarz-blau-grüne Mehrheit schon einen Kredit von 70 Millionen Euro votiert, um bereits begonnene Bauprojekte fertig zu stellen. Überschuldung dürfe nicht das Ziel sein, sagt Weis.
Deshalb will er die Prioritäten neu definieren: „Sozialer Wohnungsbau, gleiche Bildungschancen für alle und Klimaschutz sollen künftig an erster Stelle stehen.“ Er sei „kee Fan vu grousse Bauprojeten“, sondern lege mehr Wert darauf, das wertzuschätzen, was die Stadt bereits hat. Bevor Esch neue Sozialwohnungen baut, sollten erst die bestehenden renoviert und genutzt werden. Um die zu verwalten, die die Stadt im neuen Viertel Rout Lëns von Eric Lux erworben hat, muss der Service Logement vergrößert werden. Leistungsfähige Gemeindedienste seien wichtig, unterstreicht der neue designierte Bürgermeister, der voraussichtlich am 7. Dezember von Innenminister Léon Gloden (CSV) vereidigt wird.
Sparen will Christian Weis vor allem bei Prestigeprojekten. Zwischen der geplanten Neugestaltung der Alzettestraße und der der Grand-Rue bis zur Place des Remparts müsse der Schöffenrat sich entscheiden – beide Projekte gleichzeitig seien kurzfristig nicht zu bezahlen. Ein Kulturzentrum werde es in den nächsten Jahren in Esch nicht geben, die Renovierung der Kulturfabrik könne nur mit Zuschüssen vom Staat bewerkstelligt werden. Gleiches gelte für die Sportarena und das Sportmuseum. Der Bau von weiteren Baumhäusern im Déierepark und die Renovierung des Ferienzentrums in Insenborn kämen derzeit definitiv nicht in Frage.