Die Regierungskoalition beginnt zu entdecken, wie schwierig das ist mit dem Gratistransport. Erfrischenderweise führt das zu einer Politik der kleinen Schritte auch in aller Öffentlichkeit

Noch 13 Monate, und die Welt schaut zu

d'Lëtzebuerger Land du 25.01.2019

Diese Woche war das internationale Medienecho wieder da. France 3 war gekommen, der Südwestdeutsche Rundfunk, der Westdeutsche Rundfunk mit dem Brüssel-Korrespondenten der ARD. „Freie Fahrt in Luxemburg“ hieß es am Montag um 20.15 Uhr in der „Tagesschau“, aber nicht für Briefkastenfirmen oder für anrüchige Steuer-Rulings, sondern für den Gratistransport ab 1. März nächsten Jahres, erstmals in der Welt in einem ganzen Land. Dass der Gratistransport auch dem „Nation Branding“ dienen werde, hatte Premier Xavier Bettel (DP) schon kurz nach der Regierungsbildung gehofft.

Zum Glück jedoch verstand die Auslandspresse nicht alles, was auf dem kleinen Hochamt mit Mobilitätsminister François Bausch (Grüne) am Montagvormittag gesagt wurde. Sonst hätte jemand glatt melden können, bei der „freien Fahrt“ mache womöglich die Hauptstadt nicht mit, der Standort der Banken, Versicherungen und Investmentfonds. Bürgermeisterin Lydie Polfer (DP) schien noch am Mittwoch beim City Breakfast des Stater Schöffenrats sauer, weil Bausch das angedeutet und gesagt hatte, „ich würde mitmachen, wernn ich das zu entscheiden hätte“. Am Tag nach der Pressekonferenz war Polfer auf jeden Fall noch sauer: „Wir trafen“, erklärte sie dem Land, „letzte Woche François Bausch als Polizeiminister. Da erwähnte er die Pressekonferenz zum Gratistransport, sagte aber, er gebe dort vor allem das Datum bekannt. Hätte er mich eingeladen, hätte ich natürlich gesagt, dass auch wir mitmachen. Unser Busbetrieb AVL befördert immerhin 40 Millionen Passagiere im Jahr und hat 400 Busfahrer. Wir sind die Wirtschaftsmetropole, zu uns kommt das Gros der Pendler im Berufsverkehr.“

Die Frage, wer alles mitmacht und wer womöglich nicht, ist aber nach wie vor nicht ganz beantwortet – neben vielen anderen, die noch offen sind. „Lëtzebuerg gëtt dat éischt Land op der Welt, wou een den ëffentlechen Transport spontan oder geplangt ka notzen, eran an eraus klammen, wou ee wëll, ouni, dass ee sech muss Gedanke maachen, wéi een Abonnement een am beschte muss hunn“, hatte der Premier sich in seiner Regierungserklärung zum Antritt der neu-alten Koalition am 11. Dezember in der Abgeordnetenkammer die Zukunft vorgestellt. Ganz einfach ist die aber nicht zu haben: Drei Tage nach der Regierungserklärung verabschiedete der Gemeinderat der Hauptstadt das kommunale Budget für 2019. Finanzschöffe Laurent Mosar (CSV) klagte, noch sei nicht klar, wie der Staat der Gemeinde rund 24 Millionen Euro Einnahmenausfall erstatten werde, die durch den Gratistransport voraussichtlich auf sie zukommen. Spontan einsteigen wo man will, war damals für Luxemburg-Stadt noch nicht so sicher. Und ehe François Bausch den Schöffenrat am Montag unter Druck setzte, hatte der öffentlich nicht klar gesagt, man mache mit.

Politisch scheint das Problem nicht in erster Linie gewesen zu sein. Von den 24 Millionen Euro sind 17 Millionen Einnahmen von Busbenutzern – zur Hälfte aus Tickets und Abos, die der Busbetrieb AVL selber verkauft, die andere Hälfte fließt vom Staat, weil AVL-Busbenutzer Fahrschein oder Abo auch anderswo erworben haben können. Knapp sieben Millionen Euro erhält die Stadt, außerdem, weil der AVL auch Buslinien managt, die als Lignes coordonnées im RGTR-Überlandverkehr gelten und über die Grenzen der Stadt hinausführen. Zum Teil setzt der AVL dort auch seine Busse und Fahrer ein.

Ist jeder Dorfbus ein öffentlicher?

Die sieben Millionen stehen in Frage, weil noch nicht entschieden ist, ob die Lignes coordonnées das Ministerium übernimmt und der Hauptstadt nichts mehr bezahlt. Dass sie die 17 Millionen aus Tickets und Abos erstattet erhalten soll, „haben wir in den Koalitionsverhandlungen abgemacht“, sagt Lydie Polfer, die bei den Gesprächen dabei war. Das Problem ist nur, dass damit Verkehr gemeint ist, der allein auf dem Territorium der Stadt stattfindet. Gilt landesweit das Gratisprinzip, müsste rein lokaler Transport womöglich im Gemeindegesetz zu einer „kommunalen Mission“ erklärt werden. Dass François Bausch darüber am Montag öffentlich spekulierte, war ein versteckter Hinweis an Innenministerin Taina Bofferding (LSAP), diese Frage bald zu klären, damit das etwas wird mit dem „Nation Branding“. Doch würde lokaler Busverkehr zur Gemeindemission, könnte der Staat für jeden „City Bus“ aufkommen müssen, doch selbst der Mobilitätsminister weiß nicht genau, wie viele es landesweit gibt und wie sie finanziert werden. Aber wenn der Premier stellvertretend für die Regierung meint, man solle „spontan einfach so überall einsteigen“ können, und im Koalitionsvertrag steht, der öffentliche Transport werde gratis – sollen dann manche Dorfbusse künftig nicht öffentlich sein? Vom Innenministerium heißt es dazu ganz vorsichtig, „wir begleiten den Gratistransport natürlich, im Moment aber gilt weiterhin die Regel, dass lokaler Verkehr der Gemeindeautonomie unterliegt“. Soll heißen: Im Grunde könnte auch die Hauptstadt ihre Busse selber finanzieren müssen und entscheiden, die Passagiere bezahlen zu lassen. Doch das wäre, wie Lydie Polfer sagt, „Quatsch“.

„Geld, auch aus Deutschland“

Aber den Gratistransport im ganzen Land einzuführen, ist etwas so Neues und Komplexes, dass die Politikgestaltung dafür in vielen kleinen Schritten stattfinden muss, es immer mal wieder Änderungen gibt und nicht alles hinter verschlossenen Türen besprochen werden kann. Das ist durchaus erfrischend und wird vermutlich so bleiben. Auch die Aufmerksamkeit im Ausland ist groß – und „Nation Branding“ durch den Nulltarif nicht selbstverständlich. Darauf deuten zum Beispiel die Äußerungen der Parteien im saarländischen Landtag hin, von denen die Saarbrücker Zeitung am Mittwoch berichtete: „Neidvoll“ seien die Blicke nach Luxemburg gerichtet, und in den Fraktionsspitzen von CDU und SPD seien auch die Worte „Luxleaks“ und „Steueroase“ gefallen. CDU-Fraktionsvizepräsident Bernd Wegner sprach von „Geld aus anderen Ländern, auch aus Deutschland“, das nach Luxemburg geflossen sei. Daraus beziehe es „die finanzielle Kraft, den kostenlosen ÖPNV (öffentlichen Personennahverkehr, d.Red.) anzubieten“.

Fallen in Parlamenten jenseits der Grenze solche Sätze, müsste die Regierung umso vorsichtiger zu Werke gehen, damit der Gratistransport nicht zu einer weiteren Innovation wird, bei der die Grenzpendler zu kurz kommen: Das Gratisprinzip gälte ja nur auf Luxemburger Territorium. François Bausch gab sich am Montag sehr sicher, dass auch die „Kombi-Tickets“ im grenzüberschreitenden Berufsverkehr zumindest preiswerter würden. Nicht nur, weil der Luxemburger Anteil am Preis entfällt, sondern der Preis in den Nachbarländern ebenfalls sinke – was noch auszuhandeln bliebe. Doch so einfach ist das womöglich nicht: Die Presseabteilung der CFL will nicht einmal sagen, ob für den Schienenverkehr solche Verhandlungen von der Bahn geführt werden müssten oder von der Regierung. Bis auf weiteres äußert die Bahn sich überhaupt nicht zum Gratistransport: „Zu gegebener Zeit teilen wir Einzelheiten mit.“ Bis dahin würden Arbeitsgruppen, die der Minister eingerichtet hat, „die Modalitäten klären“.

Kilometerpauschale „ungerecht“

Zu den interessanten Entwicklung in der Politik rund um das Gratis-Vorhaben zählt die zur Reform der steuerlich absetzbaren Kilometerpauschale. Dass sie im Regierungsprogramm in einem Atemzug mit dem Gratistransport erwähnt wird, finden die Koalitionspartner nicht mehr so gut: So entsteht der Eindruck, der Nulltarif solle auf diesem Weg gegenfinanziert werden. Dass das so nicht gedacht sei, hatte Premier Bettel schon im Dezember, kurz nach der Regierungsbildung, im RTL Radio erklärt. Er sagte aber auch: „Wenn wir den öffentlichen Transport attraktiver machen, dann wollen wir nicht noch das Auto privilegieren, und wenn Landesplanung wichtig ist, wollen wir nicht begünstigen, dass Leute mitunter anderthalb Stunden zur Arbeit fahren.“

Bettel stellte damals „Diskussionen in den nächsten Wochen und Monaten“ in Aussicht, um denen entgegenzukommen, die „abends arbeiten oder nicht die Flexibilität haben“, auf öffentliche Verkehrsmittel zurückzugreifen. Mittlerweile hat die Regierung noch weiter zurückgerudert. Landesplanungsminister Claude Turmes (Grüne) betonte am Samstag vergangener Woche in einem „Background“ im RTL Radio mehrfach, wie „unsozial“ und „immens ungerecht“ die aktuelle Kilometerpauschalen-Regelung sei, weil die Entlastung durch die Pauschale umso stärker ausfällt, je höher das versteuerbare Einkommen ist. Die Regierung wolle die Kilometerpauschale „sozial gerechter“ machen, aber „dieses Jahr machen wir das nicht mehr“. Eigentlich wollte die Regierung schon kommenden Herbst so weit sein. Nun aber soll das mit dem Finanzministerium „in Ruhe geprüft“ werden. Vermutlich auch für Grenzpendler: Sie können auf ihrer Steuererklärung nur in Luxemburg zurückgelegte Kilometer geltend machen. Würde dem nicht Rechnung getragen und sänken die Preise für Kombi-Tickets im Berufsverkehr nicht stark genug, könnte sich für Frontaliers doch ein Zusammenhang zwischen Gratistransport und Kilometerpauschale ergeben – zu ihrem Nachteil gegenüber in Luxemburg Ansässigen. Politikern im Ausland fiele das wahrscheinlich irgendwann auf.

So gesehen, hat es seinen Sinn, wenn die Minister Turmes und Bausch so viel vom „Sozialen“ sprechen. Ob das bedeutet, dass die Grünen als Partei dabei sind, über dem Gratisprojekt das Soziale zu entdecken, bleibt abzuwarten. Bausch nannte am Montag den Nulltarif „die soziale Kirsche auf dem Kuchen einer gut ausgebauten Verkehrsinfrastruktur“. Schon nach den Koalitionsgesprächen hatte die grüne Parteispitze ihrer Basis erklärt, sie trage den Gratistransport mit, weil er eine soziale Maßnahme sei. Bausch ging am Montag noch einen Schritt weiter: Hatte er die Gratis-Idee der DP im Wahlkampf „Populismus“ genannt, weil es dringender sei, die Infrastruktur auszubauen und die Qualität zu sichern, meinte er am Montag fast schon begeistert, „sozial“ sei der Gratistransport auch, weil die Fahrtkosten ab 1. März 2020 „vollständig fiskalisiert“ würden. Wer höhere Einkünfte hat, trage durch die Progression in der Steuertabelle umso mehr zur Finanzierung des öffentlichen Tranports bei.

Vielleicht stellen grüne Politiker solche Gedanken im Laufe der Legislaturperiode auch in anderen Bereichen an. Vielleicht sind die Verweise auf das Soziale aber vor allem ein Mittel, um den Transportgewerkschaften Syprolux und FNCTTFEL Wind aus den Segeln zu nehmen, die beide nach wie vor gegen den Nulltarif sind. Einer Gewerkschaft steht es aber nicht gut zu Gesicht, gegen eine Politik zu sein, die „Mindestlohnempfänger entlasten“ soll, wie Bausch immer wieder betont.

Geisterbahnhöfe und weniger Zugbegleiter?

Doch Syprolux und FNCTTFEL verteidigen nicht nur das parastaatliche Eisenbahnerstatut, das sie durch das Gratisprinzip gefährdet sehen. Nicht zu Unrecht: Die jüngste Eisenbahn-Liberalisierungswelle in der EU hat auch die Binnenverkehre der Mitgliedstaaten für den Wettbewerb und öfffentliche Ausschreibungen geöffnet. Bahnbeamte könnten da eines Tages zu teuer erscheinen. Den Gewerkschaften ist der Nulltarif aber auch nicht geheuer, weil sie fürchten, selbst wenn François Bausch ein neues Berufsbild für Zugbegleiter ausarbeiten lassen und die „Präsenz“ von Bahnpersonal an Bahnhöfen verstärken will, könnte das „nur eine Momentaufnahme“ sein, wie Syprolux-Präsidentin Mylène Bianchi sich ausdrückt. Die FNCTTFEL forderte bei einer Kundgebung am Héichhaus vor der Pressekonferenz am Montag, auch im Gratisverkehr müsse es Fahrkarten geben: „Freifahrkarte“ müsse auf ihnen stehen, und sie müssten kontrolliert werden.

Weil die Diskussionen sich bisher stark um das Soziale drehten und der Mobilitätsminister insistiert, der Gratistransport sei eine „soziale Maßnahme“, war wenig vom „Was wäre, wenn“ die Rede, falls er für viele neue Nutzer sorgte. Die CFL seien darauf nicht vorbereitet, sagt Syprolux-Präsidentin Bianchi. Wie sollten sie auch, wenn für die nächsten fünf Jahre „eine Baustellenphase wie noch nie“ bevorsteht und die Bahn erst ab 2021 in Etappen neue Züge geliefert erhalten soll.

François Bausch hatte im Wahlkampf der DP vorgehalten, den Gratistransport einzuführen, ehe das Netz ausgebaut und neue Züge geliefert wären, könne bedeuten, dass Passagiere „auf den Dächern heute überfüllter Züge mitfahren“ müssten. Auf der Pressekonferenz am Montag sagte er dagegen immer wieder, „ich rechne nicht mit einem Benutzerzuwachs“. Sich beeilen zu müssen mit der Einführung des Nulltarifs begründete er damit, dass der „eine soziale Maßnahme“ sei.

„Die Nachfrage wird steigen“

Doch nicht alle rechnen damit, dass die Nachfrage bleibt, wie sie ist. Die Fleaa etwa, der Verband der privaten Busbetriebe, die im RGTR den Löwenanteil aller Verkehrsleistungen erbringen, ist überzeugt davon, dass sie steigt, wenn der Nulltarif gilt. „Zumindest im Berufsverkehr wird das so sein“, sagt Agnès Coupez, Fleaa-Beraterin bei der Handelskonföderation. „Die Transportkapazität wird entsprechend ausgebaut werden müssen.“ Mit dem Mobilitätsminister wolle die Fleaa darüber „in den nächsten Wochen“ sprechen.

Auch die Hauptstadtbürgermeisterin glaubt, der Nulltarif werde die Nachfrage steigern. „Ich hoffe das sehr“, sagt Lydie Polfer. Aber dann verweist sie darauf, dass „tagsüber, außerhalb der Spitzenzeiten, manche RGTR-Busse nicht nur schwach besetzt, sondern leer“ seien. „Das kostet doch!“ Die Gespräche zwischen Minister und Fleaa über einen Kapazitätsausbau könntenden demnach nicht so einfach werden. Zum Beweis, wie ein Gratisangebot neue Nutzer schafft, verweist Polfer auf ihre Gemeindeverwaltung: Die rund 4 000 Mitarbeiter erhalten auf Wunsche einen mPass erhalten – ein Jahresabo, das ein Betrieb bezuschusst. „Bis Ende 2017 mussten aber über 100 Euro zugezahlt werden, seit 1. Januar 2018 trägt die Gemeindekasse den mPass komplett. Seitdem hat die Zahl der Nutzer sich von 500 auf 3 000 erhöht.“ Für eine soziale Maßnahme hält Lydie Polfer das Gratisprinzip nicht: „Es macht die Benutzung des öffentlichen Transports einfacher.“

Ob beim Nulltarif ein Nachfrageschub in der Hauptstadt wahrscheinlicher wäre als im Rest des Landes, ist nicht klar. Vermutlich aber dürfte der Minister nicht insgeheim damit rechnen, dass die Nachfrage doch zumimmt: Käme es dazu und Infrastruktur, Züge und Busse wären überfordert damit, fiele das auf ihn zurück. Dass er am Montag akribisch auflistete, welch umfangreiche Investionen – 2,2 Milliarden Euro insgesamt – in den nächsten fünf Jahren in Verkehrswege und Verkehrsmittel gesteckt werden sollen, war auf jeden Fall berechtigt. Gratistransport, das haben alle Versuche gezeigt, die bisher damit gemacht wurden, ist ein politisches Bekenntnis: Beim Nulltarif müsste es auch bleiben, wenn bei schlechterer Konjunktur teure Neuinvestitionen nötig würden. Denn würde stattdessen das Angebot abgebaut, weil es ja gratis ist, oder erneut Tickets eingeführt, nähme die Autonutzung wieder zu.

Peter Feist
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