ArcelorMittal und der Emissionshandel

Durch die Hintertür

d'Lëtzebuerger Land vom 13.03.2008

Wenn sich dieser Tage die europäischen Staats- und Regierungschefs in Brüssel für ihren Frühlingsgipfel treffen, dann ist eines der wichtigen Themen wie schon letztes Jahr der Klimawandel. Im Januar hat die Kommission ihre Vorschläge darüber bekannt gegeben, wie die EU in der Zeit zwischen 2012 und 2020 am besten gegen den Treibhauseffekt und seine Folgen ankämpfen soll. Das zentrale Instrument in diesem Zeitraum soll, wie auch jetzt, der Emissionshandel sein, wonach die Unternehmen Verschmutzungsrechte brauchen, um ihre Produktion abzudecken. 

Dabei will die Kommission, um die ehrgeizigen Klimaziele der Union verwirklichen zu können, die Maßnahmen verschärfen. Erhielten die Firmen seit 2005 – das bleibt bis 2012 unverändert – die Kohlenstoffzertifikate zum allergrößten Teil gratis, so soll in Zukunft damit Schluss sein. Die Zertifikate sollen versteigert werden. Das war zumindest der Wunsch des Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso und des Umweltkommissars Stavros Dimas gewesen. Aber die energieintensiven Wirtschaftszweige malten gruselige Horrorszenarien vom Niedergang der europäischen Industrie an die Wand, der Abwanderung ganzer Industriesektoren und dadurch provozierte Massenentlassungen. Der für die Industrie zuständige Kommissar Günther Verheugen guckte aufmerksam zu. Er sah ein, dass es für Produkte  zum Kostennachteil kommt, wenn die Konkurrenz aus Ländern stammt, in denen es keine Verschmutzungsauflagen gibt.  So sollen sie einstweilig von der Ersteigerung der Rechte ausgespart bleiben. Die soll sich erst einmal auf Energieunternehmen beschränken, die im Vertrieb ohnehin geographisch eingeschränkt sind und auf dem europäischen Binnenmarkt tätig sind. 

Wer ausgespart wird, wollte die Kommission erst kurz vor Einführung der neuen Regeln bestimmen, in der Hoffnung, bis dahin internationale Abkommen abzuschließen, durch die gleiche Bedingungen für ein und denselben Sektor weltweit geschaffen werden könnten. Die Industrie allerdings will so lange nicht warten und verlangt sofortige „Planungssicherheit“. Denn wie auch René Winkin, Generalsekretär des Luxemburger Industrieverbands Fedil, kürzlich im Journal zitierte wurde: „Die Investitionen müssen jetzt getätigt werden und nicht erst 2011.“ Nicht nur Verheugen hat die Botschaft der Wirtschaft verstanden: nicht wenige Mitgliedstaaten fürchten eine Abwanderung der Industrie. Auch Luxemburg unterstützt das produzierende Gewerbe. Umweltminister Lucien Lux forderte beimTreffen der Umweltminister Anfang März, die Versteigerung der Verschmutzungsrechte dürfe nicht zur allgemeinen Regel werden, sondern müsse sich auf die Stromproduzenten reduzieren. Andere Wirtschaftszweige hätten nicht die gleichen Möglichkeiten die Zusatzkosten an die Kunden weiterzureichen. 

Ein Risiko für Kohlenstofflecks  – weiteres Argument der Wirtschaft – würde bestehen, wenn die Produktion energieintensiver Güter aus Europa ausgelagert werden müsse in Länder, in denen die Produktionsstätten nicht den neuesten und damit energieeffizientesten Standards entsprächen. Besser also im Sinne des Klimaschutzes – so machen die Industriellen Druck–, keine Mehrkosten für „saubere“ europäische Installationen zu verursachen, sonst wird die Produktion in „schmutzige“ Anlagen außerhalb der EU verlegt. Ein Argument, das Klimaschutzaktivisten und grüne Politiker wie der grüne Europaabgeordnete Claude Turmes für ein Schreckgespenst halten. Auch außerhalb Europas gebe es sehr effiziente Werke, meinte er in einer Stellungnahme.

Dabei kämpft der größte Stahlkonzern der Welt ArcelorMittal derzeit von der Öffentlichkeit relativ unbemerkt an einer weiteren Front gegen das Emmissionshandelssystem (EHS): vor Gericht. Am Dienstag war die Verhandlung über eine Vorabentscheidung vor dem Europäischen Gerichts­hof (EUGh). Der französische Staatsrat hatte vergangenes Jahr die europäischen Richter gefragt, ob das EHS das in den europäischen Verträgen festgeschriebene Gleichheitsprinzip respektiere, wenn – wie es derzeit der Fall ist – die Aluminium- und Plastikhersteller nicht miteinbezogen sind, also für ihren Kohlenstoffausstoß keine Zertifikate brauchen. Sind dies alte Kamellen, da die Kommissison ohnehin beide Sektoren ab 2012 ins EHS einbinden will? Die Mitgliedstaaten vergaben dazu in der Ver­gangenheit die Zertifikate dermaßen großzügig, dass kaum jemand welche hinzukaufen musste. Doch die Zeit der Großzügigkeit sei vorbei, meinte der Rechtsbeistand des Stahlherstellers. Chemie und Aluminium bleiben aber in der aktuellen Handelsperiode (2008-2012) von der Zertifikatpflicht befreit. 

Das findet man bei ArcelorMittal ungerecht. Der Anwalt Paul Lignières sagte am Dienstag vor Gericht, die Stahlbranche befinde sich  durch die aktuelle Lage eindeutig im Nachteil. „500 000 Tonnen Kohlendioxyd, die von einem Stahlwerk ausgestoßen werden, sind ebenso schädlich wie 500 000 Tonnen, die von einem Aluminium- oder Chemiewerk ausgestoßen werden.“ 

Im Kern der Sache geht es darum, weshalb die Kommission bei der Einführung des Systems beschloss, eben diese Industriezweige nicht dem Verschmutzungsrechtehandel zu unterwerfen. Denn, so argumentiert der Stahlhersteller, sie würden mehr Kohlendioxyd in die Luft jagen als zum Beispiel die Papier- und Zellstoffindustrie, die allerdings von Anfang an Zertifikate brauchte. Insgesamt 26 Megatonnen CO2 aus dem Chemiesektor, 16 Megatonnen jährlich aus der Verarbeitung von Nichteisenmetallen – dabei handelt es sich um Zahlen, welche die Kommission ihren Vorschlägen im Januar beilegte – sind nicht abgedeckt, gegenüber zehn Megatonnen, welche die Papier­industrie verursacht. Das sei nicht konsequent im Sinne der Direktive,  deren Ziel es sei, den Schadstoffausstoß zu reduzieren, so der Anwalt. Weshalb habe die Kommission diese Mengen 2003 für unerheblich befunden, wenn sie jetzt, im Jahr 2008 diese Sektoren, so steht es in den neuen Direktivvorschlägen, mit einbinden wolle? Zumal die Kommission in ihrem Bericht die Wettbewerbsverzerrung eingestehe. Dort heißt es: „On the EU internal market, aluminium competes with several other materials (such as steel) in transportation, the construction sector and as packaging material. As most of these competing materials are already included in the system, full inclusion of the aluminium sector could reduce the existing distortion of competition as this would better reflect the full carbon costs of competing materials.“ 

Die Anwälte der europäischen Institu­tionen hielten dagegen. Der Gesetzgeber habe das System von Grund auf erfinden müssen und dabei eine Pionierrolle übernommen, so Kristien Michoel, die den Ministerat vertrat, am Dienstag. Daher habe man sich auf ein Gas, nämlich Kohlendioxyd, und dessen Hauptverursacher beschränkt. „Es gab gute Gründe, vorsichtig zu sein“, so Michoel. Das bekräftigten Parlament und Kommission. Eine schrittweise Harmonisierung der Gesetzgebung sei der Kommission durchaus erlaubt, so auch der Rechtsbeistand der französischen Regierung, Ludovic Butel. Der Anwalt der EU-Exekutive meinte, hätte man diese Chemie und Aluminium von Anfang an miteinbezogen, „hätte das die Umsetzung des Systems beachtlich erschwert, mit dem Risiko, es bereits bei der Geburt zu ersticken.“ „Bestünde eine Diskriminierung, so wäre sie objektiv berechtigt“, fügte Jean-Baptiste Laignelot hinzu. 

Ob das so ist, werden natürlich die Richter entscheiden. Deren Berichterstatter stellte am Dienstag aber unangenehme Fragen an die Vertreter der Institutionen, die des Weiteren ar­gumentiert hatten, die beiden ausgeklammerten Produktionszweige wür­den auch andere, weitaus schädliche­re Gase ausstoßen, die vom Emissionshandel nicht abgedeckt würden. Eine Aussage, die für den juge rapporteur Thomas von Danitz nicht  rechtfertigen konnte, weshalb dennoch die Kohlendioxidemissionen nicht abgedeckt sind. Er wollte allerdings auch von ArcelorMittal bestätigt haben, dass sie 2006 mit dem Verkauf von Zertifikaten über vier Millionen Tonnen Profite in Höhe von 101 Millionen Euro machten. 

Das ist richtig, wie aus dem Jahresbericht 2006 hervorgeht. Insgesamt 5,6 Millionen Tonnen waren Arcelor zu viel zugeteilt worden. Nur, 2006 berichtigte die Kommission die nationalen Zuteilungspläne nach unten. Arcelor-Anwalt Wolfgang Deselaers erklärte: „Es gibt klare Indizien dafür, dass Arcelor Mittal in der zweiten Phase (2008-2012) Zertifikate erwerben muss.“  Nicht zuletzt am Beispiel der Lütticher Anlagen wurde dies vor kurzem veranschaulicht. 

Direktionsmitglied Michel Wurth hatte der wallonischen Regierung gedroht, den Betrieb dort nach 2009 stillzulegen, falls das Unternehmen die dafür nötigen Zertifikate erwerben müsste. Was die belgischen Gewerkschaften als pure Erpressung bezeichneten. Am Ende gaben beide Seiten nach. Die öffentliche Hand stellt den Großteil der Quoten, ArcelorMittal kauft die restlichen hinzu. Wie viele Zertifikate der Konzern bis 2012 hinzukaufen muss, weiß man nicht genau, erklärte Konzernsprecher Jean Lasar, da die Vergabe der Rechte noch nicht überall abgeschlossen sei. Ob irgendein Unternehmen gewillt ist, genaue Daten über die Bedürfnisse zu veröffentlichen, ist allerdings fraglich, weil dies die Produktpreise beeinflussen kann.

Die Herstellung einer Tonne Stahl generiere etwa zwei Tonnen CO2, sagte Michel Wurth im Rahmen der Diskussionen um Lüttich. Der Preis der Kohlendioxydrechte liegt dem norwegischen Analyseinstitut Point Carbon zufolge derzeit bei 22 Euro die Tonne. Die Experten von Point Carbon erwarten allerdings, dass der Preis in den kommenden Jahren erheblich ansteigt. Wie das Institut auf einer Konferenz in Kopenhagen vor wenigen Tagen mitteilte, betrug das Handelsvolumen vergangenes Jahr 40 Milliarden Euro, berichtete Verivox.de. Von 2006 aufs Folgejahr eine Steigerung um 80 Prozent. Das deutet an, dass die von der Kommission vorgenommene Korrektur bei den nationalen Zuteilungsplänen gegriffen hat, und die Luft für Verschmutzer tatsächlich seither dünner wird.Was erklärt, weshalb sich die Industriellen so vehement wehren, auch jetzt schon. Die damalige Arcelor hatte auf Kirchberg auch direkt gegen die Direktive geklagt. Mitte April, so Deselaers, wird verhandelt. Dann werden die Richter des Gerichts Erster Instanz auch andere Aspekte der Richtlinie prüfen müssen. Dort will man auch einen Anspruch auf Schadensersatz erwirken.

Geben die Richter Arcelor Recht, könnte dies weitreichende Folgen haben. Andere unzufriedene Unternehmen könnten dem Beispiel ArcelorMittals folgen. Die Kommission wäre zum Handeln gezwungen, denn gegen Wettbewerbsverzerrung, meinen Juristen,  gibt es zwei Maßnahmen: entweder die Regeln auf alle Beteiligten anwenden oder für alle aufheben. Wer müsste Schadensersatz entrichten? „Der europäische Gesetzgeber“, sagt Wolfgang Deselaers, das wären Rat und Parlament. Ob ArcelorMittal für den Fall, das Gericht befindet die Firma für schadensersatzberechtigt, davon Gebrauch machen möchte, will das Unternehmen nichts sagen. Just gestern allerdings fiel der Chef Lakshmi Mittal den Anwälten ein wenig in den Rücken. Hatten die vor Gericht noch argumentiert, es gäbe für die Stahlbranche keine Möglichkeit, die schädlichen Gase in absehbarer Zeit zu reduzieren, sagte Mittal gestern im Figaro, das Unternehmen sei im europäischen  Ulcos-Programm (Ultra Low CO2 Steelmaking) federführend. „Son objectif est de parvenir, d’ici quelques années, à une rupture technologique, avec des processus sidérurgiques émettant 50 pour cent de CO2 de moins qu’aujourd’hui“, sagte Mittal der Zeitung. Sind die Prozesse vor den europäischen Gerichten demnach als pure Lobbyismusanstrengung zu sehen? Abwarten. Lakshmi Mittal jedenfalls wiederholte für alle die heute in Brüssel zusammentreffen die Forderung nach einem globalen Abkommen für die Branche. Bis dahin will er Gratiszertifikate in Europa.

Michèle Sinner
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