ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Wirklich bedauernswert

d'Lëtzebuerger Land vom 27.01.2023

Vergangene Woche wurde Marc Angel zu einem der 14 Vizepräsidenten des Europaparlaments gewählt. Er verdankt seine Wahl drei Umständen: Zuerst der üblichen Abmachung zwischen christdemokratischer EVP und sozialdemokratischer S&D. Seit mehr als einem halben Jahrhundert teilen sie die Posten unter sich auf. Damit die europäische Kirche im globalen Dorf bleibt. So kam Marc Angel im zweiten Wahlgang auf 52 Prozent der Stimmen.

Bei den Kammerwahlen 2018 wurde Marc Angel Zweiter der LSAP im Zentrum. Er erklärte sich „natierlech bereet, fir an der Regierung matzeschaffen, fir d’Land weider no vir ze bréngen“ (RTL, 12.11.2018). Seine Partei lehnte dankend ab. Der quirlige Abgeordnetensohn zog sich aus der nationalen Politik zurück. Er kandidierte bei den Europawahlen.

Das Europaparlament ist ein Reservoir von Abgeordneten, für die in der nationalen Politik kein Platz mehr ist. Das beeinträchtigt seine Arbeit wenig. Denn es ist kein richtiges Parlament. In Luxemburg gab es eine solche Versammlung in der Mitte des 19. Jahrhunderts: Der Europäische Ministerrat hieß „König-Großherzog“, die Brüsseler Kommission hieß „Regierung“, das Straßburger Parlament hieß „Ständeversammlung“.

Das Europaparlament wird seit 1979 direkt gewählt. Aber es darf nicht frei entscheiden. Es darf bloß „mitentscheiden“. Es soll den nicht immer mehrheitsfähigen Entscheidungen des Rats, der Kommission, der Zentralbank, der Euro-Gruppe einen demokratischen Anstrich verleihen. Es soll Akzeptanz für den neoliberalen Durchmarsch auf Kosten der Schwachen schaffen.

Schließlich verdankt Marc Angel seine Wahl einem dritten Umstand: dass die bisherige Vizepräsidentin des Europaparlaments im Gefängnis sitzt. Eva Kaili und andere auf frischer Tat Ertappte sollen von ausländischen Regierungen Koffer voll Bargeld erhalten haben. Um die Arbeitsbedingungen der Wanderarbeiter in Katar und die marokkanische Besetzung der Westsahara zu beschönigen. Sie sind alle Sozialdemokraten. Ihre Solidarität mit der Arbeiterklasse und kolonisierten Völkern ist frei verkäuflich.

„Dee Skandal, da’s eppes Schreckleches. All Kéiers, wann ech et nees héieren, leeft et mer kal der Réck erof“, jammerte Marc Angel. „Et ass wierklech bedauernswäert, datt dat bei eis an der Fraktioun geschitt ass“ (RTL, 20.1.23). Er lieferte keine Erklärung, weshalb die Korruption ausgerechnet „bei eis an der Fraktioun geschitt ass“. Sind bestechliche Konservative, käufliche Liberale geschickter?

Eva Kaili gehörte der griechischen Pasok an. Die Partei hat eine jahrzehntelange Tradition der Korruption und des Klientelismus. In einem der Skandale wurde der ehemalige Premier Andreas Papandreou angeklagt. Sieben gegen sechs Richter fanden ihn nicht schuldig. Wirtschaftsminister Panagiotis Roumeliotis entging seiner Verurteilung. Indem er sich ins Europaparlament wählen ließ. Er war „bei eis an der Fraktioun“.

Die restlichen Verdächtigen stammen aus Italien. Der Partito Socialista Italiano hat eine jahrzehntelange Tradition der Korruption und des Klientelismus. Der ehemalige Premierminister Bettino Craxi gab vor Gericht zu, dass seine Partei 93 Millionen Dollar an illegalen Spenden erhalten hatte. Die Partei war „bei eis an der Fraktioun“. Nach dem Schiffbruch von PCI und PSI nun als Partito Democratico.

Zum Trost für ihre beschränkten Vorrechte erhalten die Europaabgeordneten großzügig Diäten, Spesen, Referenten und die parlamentarische Immunität. 45 Delegationen erlauben häufige Auslandsreisen. Daneben gibt es informelle Freundschaftsgruppen. Sie lassen sich von ihren Freunden zu Luxusreisen „aux frais de la princesse“ einladen.

Auch Luxemburger Europaabgeordnete reisen gerne mit. Ansonsten brauchen sie keine Geldkoffer und Lobbyregister. Sie haben die Anliegen von Soparfi, Arcelor-Mittal, RTL und SES als patriotische Pflicht verinnerlicht.

Romain Hilgert
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