ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Einen Schoki gönnen

d'Lëtzebuerger Land vom 06.01.2023

Am 1. Januar 2015 erhöhten DP, LSAP und Grüne drei Mehrwertsteuersätze – um zwei Prozentpunkte. Das brachte ihnen wenig Sympathie ein. Diese Woche senkten sie die TVA-Sätze. Bis zum Ende des Wahljahrs.

Die Regierung diktierte die TVA-Senkung ins Tripartite-Abkommen. Das Abkommen erlaubt den Geschäftsleuten, einen Prozentpunkt TVA weniger abzuführen. Es lädt sie ein, im Gegenzug ihre Verkaufspreise zu senken. Das soll das Preisniveau des Indexwarenkorbs beeinflussen. Und die nächste Indexanpassung verzögern. Oder auch nur das Staatsdefizit vergrößern.

Jeder Handel fußt auf einem heiligen Gebot. Es lautet: Billig einkaufen, teuer verkaufen. Das kleine Prozent verschwindet in den Preisänderungen und Solden zum Jahreswechsel. Bei billigeren Waren wird es aufgerundet. Kleinere Geschäftsleute schenken sich die Umetikettierung. Größere Kaufhäuser üben Vertrauenswerbung und Kundenbindung.

Die September-Tripartite überließ es dem Mittelstand: Ob er seinen Kunden einen Nachlass gewährt. Oder ob er das Prozent TVA in die eigene Tasche steckt. „D’Verwaltunge vum Stat hu keng Méiglechkeeten, fir d’Entreprisen heizou ze zwéngen.“ Bedauerte Finanzministerin Yuriko Backes am 20. Oktober. Sie ist seit einem Jahr Mitglied der Mittelstandspartei DP.

Die Verwaltungen haben keine Möglichkeiten. Die Gesetze schaffen ihnen die Möglichkeiten. Doch das TVA-Gesetz vom 26. Oktober verzichtet auf alle Vorschriften, Kontrollmöglichkeiten, Strafbestimmungen. Die gewährleisten würden, dass der Steuerausfall von 270 bis 317 Millionen Euro seinen Zweck erfüllt.

Der Staatsrat liebt bindende Rechtsnormen. Er liebte den Mittelstand mehr. Er verlangte keine Vorschriften, Kontrollmöglichkeiten, Strafbestimmungen. Dagegen werden Arme grundsätzlich des Missbrauchs verdächtigt: Für jeden Euro Sozialhilfe werden sie aktiviert, kontrolliert, sanktioniert.

Die Tripartite machte den Bock zum Gärtner. Sie gab sich mit einem frommen Aufruf zufrieden: „Le Gouvernement et l’UEL appellent les entreprises à ce que cette baisse de la TVA soit répercutée sur les prix des produits et services.“

Auch die Grünen sind liberal. Sie wollen keine Verbotspartei sein. Fraktionssprecherin Josée Lorsché hält gesetzliche Vorschriften für überflüssig. Sie wollte lieber „e Bléck an Däitschland geheien“ (20.10). Dort waren 2020 „d’Präisser vun de Liewensmëttel direkt no der TVA-Senkung däitlich erofgaangen“.

Der treuherzige Blick zu Robert und Annalena täuscht. In Deutschland wurde die Mehrwertsteuer auf den Lebensmitteln gesenkt. Hierzulande nicht. Hierzulande wurden nur drei von vier TVA-Sätzen verringert. Der super-ermäßigte Satz von drei Prozent auf Nahrungsmitteln blieb unverändert. Wer einen Porsche kauft, spart 1 000 oder 2 000 Euro Mehrwertsteuer. Wer ein Kilo Kartoffeln kauft, spart keinen Cent.

„Dat wor effektiv e Kompromëss dann och an de Verhandlungen. Fir de Käschtepunkt hu mer jo awer och trotzdeem missen e Bësse kucken.“ Erzählte die Finanzministerin dem Parlament (20.10.). Die Kammer nickte verständnisvoll mit 60 von 60 Stimmen.

Die Mehrwertsteuer wurde sozial selektiv gesenkt: Zugunsten der Vermögenden und zulasten der Besitzlosen. Die Verwaltung von Investitionsfonds durch Depotbanken, die Anlageberatung, die von den Big Four und Anwaltskanzleien organisierte Steuerflucht sind nun ein Prozentpunkt niedriger besteuert. Diese Dienste werfen ein Drittel aller staatlichen TVA-Einnahmen ab (CES, Analyse des données fiscales au Luxembourg 2021, S. 155).

So sparen die Inhaber durch Luxemburg geschleusten fiktiven Kapitals 75 Millionen Euro. Bei der Mindestlohnanpassung am 22. Dezember lobte die grüne Abgeordnete Djuna Bernard: „74 Euro respektiv 88 Euro de Mount méi [...] si vill Geld. Si kënnen den Ënnerscheed machen, ob ee méi gesond Liewensmëttel ka kafen, ob ee mat de Kanner nom Trëppele kann e Schocki drénke goen.“

Romain Hilgert
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