Mit der Eröffnungsfrage, was denn „gute Literatur“ sei, die der Moderator (und zugleich Literaturkritiker) Jérôme Jaminet stellte, ging es Mitte Juni in der BNL gleich in medias res. Konfliktpotenzial bahnte sich da noch nicht an, die drei Kritiker/innen stimmten darin überein, dass Literatur vor allem ihr Transformationspotenzial einlösen muss. Neben Jaminet anwesend waren Literaturkritikerin Sandra Kegel aus Deutschland und die Journalistin Sieglinde Geisel aus der Schweiz. Nicht einig wurden die drei sich hingegen bei der Gretchenfrage des Abends: „Wie hältst du’s mit Thomas Mann?“, fragt Jaminet seine beiden Gesprächspartnerinnen anlässlich des 150. Geburtsjahrs des Schriftstellers. Kegel ist der Meinung, die vielzähligen biografischen Zuschreibungen hätten den Blick auf seine Literatur verstellt, in Mann stecke „vielmehr David Bowie“ als das Bild des kalten und seine Homosexualität unterdrückenden Familienvaters, das die Forschung geschaffen hat, erkennen lasse. Geisel schließt sich „dieser steilen These“, wie Jaminet lachend kommentiert, nicht an, sondern attestiert Thomas Mann eine „Überwältigungsästhetik“, die der Leserin keine Freiheit lässt.
Besprochen werden anschließend die Bücher Wachs von Christine Wunnicke, Die Verlorenen von Tomas Bjørnstad und Daily Soap von Nora Osagiobare. Wachs erhält einstimmiges Lob, Daily Soap findet Jaminet zwar formal geschickt gemacht, bemängelt jedoch, dass das Format schnell repetitiv werde. Vorgelesene Auszüge sorgen beim Publikum dennoch für amüsiertes Gelächter.
Ambivalenter wird Die Verlorenen von Tomas Bjørnstad bewertet, ein Pseudonym, hinter dem sich der Luxemburger Schriftsteller Nico Helminger verbirgt. Das „Verwirrspiel mit Fakten und Fiktion beginnt bereits vor dem Buchdeckel“, hält Jaminet treffend fest, wie auch in der Vorstellung der „Nicht-Biographie“ Bjørnstads deutlich wird. Jaminet, der den Roman mitgebracht hat, findet ihn „formal unglaublich reizvoll“ und hebt das „Jonglieren mit Filmreferenzen und Genreklischees“ lobend hervor. Das Road-Novel durch die Pariser Banlieue sei ein „anarchischer Lesespaß“, der durch innovative Erzähltechniken hervorsteche. „Ceci n’est pas un film“, hält Jaminet treffend fest, eine Anspielung auf den Untertitel „bande non-dessinée“ und die postmodernistische Erzählweise des Romans. Auch Kegel hatte großen Spaß bei der Lektüre, wenngleich sie sich am Anfang „total verloren“ fühlte. Das Buch verlange den Leser/innen eine gewisse Mitarbeit ab, man müsse die zahlreichen intertextuellen Anspielungen und erzählerischen Verfahren nach und nach freilegen. Geisel fühlte sich ebenfalls gut unterhalten und hebt das partizipative Moment der Lektüre hervor. Aufgrund der fehlenden „Regieangaben“ müsse man aus der Sprache und dem Benehmen der Figuren erkennen, wer gerade spreche: „Man muss mitspielen.“
Zum Abschluss stellt Geisel die Frage, ob der Roman denn sein Transformationspotenzial erfüllt habe und man nach der Lektüre klüger geworden sei. Die Kritiker/innen verneinen das, kommen jedoch einstimmig zu dem Schluss, dass man sowohl unterhalten als auch stimuliert aus der Lektüre hervorgehe – was auch ein Merkmal guter Literatur sei.
Das Format „Literatur hoch drei“ fand am 12. Juni in der BNL zum dritten Mal statt; die 90 Minuten gestalteten sich kurzweilig und abwechslungsreich. Als Zuhörerin fühlte man sich gut unterhalten von dem „Literarischen Quartett“-Flair in der BNL und ist gespannt auf die nächste Ausgabe von „Literatur hoch drei“ im Dezember im Centre national de littérature.