Eltern fordern, über die Orientierung ihrer Kinder zu entscheiden. Schulminister Claude Meisch (DP) gibt ihnen mehr Mitspracherecht – um es im entscheidenden Moment wieder zu begrenzen

Nicht Fisch, nicht Fleisch

d'Lëtzebuerger Land vom 08.04.2016

Eigentlich war für die Nagelprobe alles akribisch vorbereitet. Im Januar erhielten die rund 150 Grundschulen im Land genaue Anweisungen, wie sie mit den Testbögen für den Übergang von der Grundschule auf die Sekundarstufe verfahren sollten. Noch so ein Fiasko wie zuletzt mit School-Leaks 2015, als mehrere Lehrer Testfragen heimlich weiterreichten, damit Schüler die Antworten vorab üben konnten, wollte der Schulminister um jeden Preis vermeiden. Deshalb wurden die Sicherheitsprozeduren im Ministerium und insbesondere in den Schulen überholt. Koordinatoren sind jetzt dafür verantwortlich, die Testbögen pro Schule entgegenzunehmen, sicher zu verwahren und zu verteilen. Lehrer, die die landesweiten Prüfungen beaufsichtigen, sollten die Fragen nur am Morgen der Prüfung bekommen. Schulen wurden schriftlich angewiesen, die Testfragen bis zur Prüfung strikt unter Verschluss zu halten.

Am 7. März ging es los mit den Épreuves communes. In der Deutschprüfung lief alles wie geplant, außer gestressten Schülern keine besonderen Vorkommnisse. Anders beim Französischtest: „Zwanzig oder dreißig Minuten nach Beginn hieß es plötzlich, die Testfrage sei falsch, die Kinder müssten neu anfangen“, berichtet ein Mutter. Ihr Sohn hatte wie seine Klassenkameraden längst zu schreiben begonnen, doch der Lehrer kassierte die Bögen ein und händigte kurz darauf eine neue Frage aus. Etwas war schiefgelaufen; was genau, erfuhren die Eltern nicht. Weder die Schulleitung noch das Ministerium erklärten die ungewöhnliche Unterbrechung. „Als Vorsichtsmaßnahme wurden kurzfristig neue Testfragen an sämtliche Schulen verschickt. Das scheinen aber nicht alle Lehrer mitbekommen zu haben“, erklärt Myriam Bamberg, Pressesprecherin im Bildungsministerium, die Panne. In neun Klassen an fünf verschiedenen Schulen soll die Nachricht von der kurzfristig geänderten Testfrage nicht mehr rechtzeitig bei den Lehrern angekommen sein, so dass drei Klassen die alte Testfrage beantworteten, während sechs „en cour de route“ das Thema wechselten, bestätigte das Ministerium auf Land-Nachfrage.

Für die Betroffenen dürfte der Prüfungsstress somit noch größer gewesen sein, als ohnehin schon. Denn obwohl das Ministerium nicht müde wird zu betonen, dass die Leistungstests gegen Ende des vierten Zyklus nur ein Bestandteil in der Orientierung auf die Sekundarstufe (neben Zeugnissen, Lernbeobachtung durch Lehrer, Eltern und gegebenenfalls auch Psychologen) sind, herrscht in vielen Grundschulklassen jedes Jahr rund um die Prüfungen der Ausnahmezustand. Wochen, ja Monate vorher büffeln Schüler Vokabeln, Grammatikregeln und Mathe, um für den Tag der Wahrheit vorbereitet zu sein. Dass das Teaching to the test, das gezielte Lernen für die Prüfungen, pädagogisch fragwürdig ist, weil es einen realistischen Blick auf den Leistungsstand verzerren kann, wissen Lehrer wohl. Doch keiner will die Verantwortung dafür übernehmen, nicht alles probiert zu haben, und später enttäuschten Eltern erklären müssen, warum ausgerechnet ihr Kind die Erwartungen verfehlt hat.

Dass der enorme Leistungsdruck in Zukunft nachlassen wird, dürfte angesichts der Änderungsvorschläge von Minister Claude Meisch (DP) kaum der Fall sein. Ab der Rentrée 2016/2017 soll die Schulempfehlung künftig von Eltern und Klassenlehrer im „Accord commun“ erfolgen, wie es im Gesetzentwurf heißt, der dem Land vorliegt. Um die Potenziale eines Kindes frühzeitig realistisch einzuschätzen, sollen Mütter und Väter künftig ab der fünften Klasse, das entspricht dem Zyklus 4.1. in der Grundschule, vom Klassenlehrer in drei Gesprächen Details zu Lernverhalten und Leistungen ihres Kindes erhalten; im dritten soll eine – unverbindliche – Prognose über einen passenden Schultyp erfolgen. Dadurch sollen Eltern stärker in die Orientierung eingebunden, vor allem aber für den Lernprozess ihres Kindes in Verantwortung genommen werden. Nur im Konfliktfall, wenn sich Klassenlehrer und Eltern nicht einigen können, soll eine Orientierungskommission das endgültige Wort haben. Nebeneffekt: Nicht mehr jede Schule muss einen Orientierungsrat bilden, die neue Kommission wird regional unter Anleitung des Inspektorats organisiert. Das heißt, weniger Freistellungen für Lehrer, die anderweitig eingesetzt werden können.

Jutta Lux-Hennecke von der Elternorganisation Fapel ist dennoch enttäuscht. „Wir wollten, dass Eltern diese wichtige Entscheidung treffen, und nicht die Schule. Schließlich kennen sie ihr Kind am besten.“ Dass die Eltern bis zum eigentlichen Orientierungsgespräch mehrfach gehört werden, „sollte eigentlich selbstverständlich sein“, wundert sich Lux-Hennecke. „Aber wenn es darauf ankommt, haben die Eltern kein Mitspracherecht.“

Das stimmt nicht ganz. Eltern, die eine Empfehlung nicht akzeptieren wollen, sind künftig in der Orientierungskommission dabei, haben dort ein Stimmrecht und dürfen, wenn sie dies wünschen, einen Psychologen ihrer Wahl mitbringen. Neben dem Klassenlehrer, dem Schulpräsidenten sowie den jeweiligen „Orientierungslehrern“ aus Grundschule, und je einen aus dem Technique und dem Classique sitzt in der Kommission ein Schulpsychologe. Ein Nachexamen nach dem Verdikt der Kommission ist nicht länger vorgesehen. Eine Mutter, deren Sohn dieses Jahr auf die Sekundarstufe wechselt, bringt den Frust vieler Eltern auf den Punkt: „Es bleibt eine Bevormundung. Ich finde es schwer nachzuvollziehen, dass mir eine Behörde sagt, was für mein Kind gut sein soll.“ Sie bemängelt außerdem, dass Eltern keinen Einblick in die psychologischen Tests erhalten: „Warum steht mir das nicht zu? Es geht immerhin um die Entwicklung meines Kindes“, fragt sie empört. Vertrauen in eine gerechte Entscheidungsfindung klingt anders. Rund 14 Prozent haben 2015 die Empfehlung des aktuellen Orientierungsrates angefochten – zu viele, findet auch Minister Meisch.

Das Misstrauen der Eltern ist auch dadurch zu erklären, dass sich herumgesprochen hat, wie ungerecht die Luxemburger Schule bewertet, die soziale Schieflagen eher zementiert, als neue Chancen eröffnet. Ist ein Kind erst einem Schultyp zugewiesen, schafft es erfahrungsgemäß kaum mehr den Sprung auf eine höhere Stufe, da die Schulzweige untereinander wenig durchlässig sind. Anders ist das beim Régime préparatoire, der besonders lernschwachen Schülern durch kleinere Klassen und bessere Betreuung doch noch den Sprung ins Technique ermöglichen soll. Das klappt bei fast jedem zweiten Schüler, aber ob dieser dann am Ende die Schule mit einem Diplom verlässt, ist fraglich. Seit Jahren wächst der Anteil der Jugendlichen, die im Modulaire landen, zuletzt lag er bei erschreckenden 17,6 Prozent. Auch die Zahl der Schulabbrecher steigt wieder. Kein Elternteil wünscht sein Kind dorthin, weshalb gegen Empfehlungen ins Modulaire am häufigsten Einspruch erhoben wird. Generell gilt aber, dass Väter und Mütter aus sozial schwachen Verhältnissen sich seltener gegen Orientierungsbeschlüsse wehren. Untersuchungen zeigen, dass diese Eltern die schulische Autorität kaum aktiv anzweifeln, obwohl sie Gründe dafür hätten: Fehlentscheidungen kommen immer wieder vor.

Anders Mittelschicht-Eltern. Sie kämpfen oft erbittert, um ihr Kind im Classique unterzubringen, selbst wenn es ernsthafte Lernschwächen hat. Das ist nicht per se falsch, weil stärkere Schüler oftmals schwächere mitziehen. Aber gegen hartnäckige Lernschwierigkeiten hilft es nicht, dann droht die permanente Überforderung. „Kein Elternteil will sein Kind überfordern“, wendet Lux-Hennecke ein. Doch fast jeder Lehrer, der über einen Kippel-Schüler mitentscheiden musste, kennt überambitionierte Eltern, die partout nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind im Technique besser aufgehoben wäre. Auch deshalb warnen Bildungswissenschaftler davor, Eltern die Entscheidung zu überlassen. Das verstärke die soziale Ungleichheit in der Schule nur, sagen sie.

Doch auch wenn aus ihrer Sicht nachvollziehbar ist, dass Eltern nicht das letzte Wort bei der Orientierung haben sollten, wundert die Minireform doch. Meisch hatte von „punktuellen Anpassungen“ gesprochen, aber stets betont, den Eltern mehr Mitspracherecht zu geben. Nur: Was ist ein solches Recht wert, wenn im Streitfall doch die Schule entscheidet? Auf die verbindliche Orientierung zu verzichten und sie grundsätzlich zu hinterfragen, schien den Verantwortlichen keine Option: Im Motivenbericht heißt es kurz und knapp, die Instrumente hätten sich bewährt. Dabei geben nicht nur School-Leaks und das völlig übertriebene Teaching to the test Anlass zur Kritik: Statistiken aus dem Ministerium zeigen, dass viele Kinder am Ende der Grundschule teils erhebliche Lernverzögerungen aufweisen. Zum Teil betrifft ihr Leistungsrückstand ein Jahr und mehr. Insbesondere portugiesische und kapverdische Kinder müssen öfters einen Zyklus zu wiederholen. An dieser systematischen Ungerechtigkeit hat die Grundschulreform von 2009 nichts geändert.

Aber das scheint die blau-rot-grüne Regierung wenig zu bekümmern. Denn wenn die Orientierung am Ende der Grundschule ein zentraler Mechanismus ist, mit dem ungleiche Bildungschancen fortgeschrieben werden, wäre es höchste Zeit, sie grundsätzlich zu hinterfragen. Oder zumindest die Bedeutung der Sprachen in Grund- und Sekundarschule neu zu gewichten. Ihr Stellenwert bei der Schulempfehlung ändert sich mit der reformierten Prozedur aber nicht: Auch in Zukunft werden die sprachlichen und die mathematischen Leistungen ausschlaggebend für die Versetzungsempfehlung sein.

Die Gewerkschaft SNE wehrte sich anfangs erbittert gegen Meischs Pläne, wenngleich freilich aus anderen Motiven. Es gebe „keinen Handlungsbedarf“, befand die SNE-Führung vor einem Jahr. Bestätigt sah sich die Gewerkschaft durch eine Umfrage bei ihren Mitgliedern, derzufolge 89 Prozent gegen eine Reform waren. Dass die Gewerkschaft nun doch umschwenkt, liegt am Abkommen mit der Regierung: Um nicht als Blockierer da zu stehen, vor allem aber um Einschnitte in die Lehrer-Tâche und die Arbeitsbedingungen zu vermeiden, erklärte sich der SNE mit der neuen Orientierung einverstanden.

Aber ob das pädagogisch sinnvoll ist? Das Verfahren betont die Verantwortung der Lehrer, doch auch sie, das belegen Studien, bewerten nicht immer vorurteilsfrei. Denkbar wäre zudem eine Form von Gruppendruck, ähnlich wie bei den Tests: Um nicht derjenige zu sein, der die meisten Kommissionen „verursacht“, könnten Lehrer versucht sein, im Sinne der Eltern zu entscheiden, und so Konflikten ausweichen. Wenn die Verantwortung des Klassenlehrers zunimmt, bedeutet das zudem, dass der Anspruch an seine Diagnosefähigkeit und seine Überzeugungskraft steigen wird. Das Ministerium will Orientierungslehrer daher mit Fortbildungen auf ihre heikle Mission vorbereiten. Insofern ist verständlich, dass die Gewerkschaften vor „zu viel Druck“ auf Lehrer warnen und die Reform mit Sorge betrachten. Zumal sie die soziale Segregation wahrscheinlich keinen Deut mindern wird.

„Ich verstehe nicht, wozu die Orientierung reformiert wird, denn im Prinzip ändert sich nicht viel“, wundert sich CSV-Bildungsexpertin Martine Hansen, die gegen mehr Mitbestimmung der Eltern beim Übergang auf die Sekundarstufe ist: „Viele Eltern haben eine unrealistische Einschätzung von den Fähigkeiten ihrer Kinder“, ist die ehemalige Leiterin der Ettelbrücker Ackerbauschule überzeugt. Demnächst soll Erziehungsminister Claude Meisch die neue Prozedur im parlamentarischen Schulausschuss erklären. Vielleicht findet er bis dahin ja noch überzeugendere Argumente.

Ines Kurschat
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