Kaum hatten sich CSV und LSAP auf eine Koalition und ein provisorisches Regierungsprogramm geeinigt, kam es zum Eklat: Auf dem Bettemburger Sonderparteitag, der für die LSAP dem Bündnis zustimmen sollte, protestierte am 30. Juli 2004 die sozialistische Basis gegen die Finanzierung der Erziehungspauschale aus den Pensionskassen – angeführt von dem designierten Abgeordneten und Noch-OGB-L-Präsidenten John Castegnaro, der seiner eigenen Mehrheit eine „konstruktive Opposition“ im Parlament androhte.
Weil die Koalitionspartner diese Frage daraufhin für zwei Jahre aufzuschieben beschlossen, konnte Premier Jean-Claude Juncker fünf Tage später in der Abgeordnetenkammer dann doch das Regierungsprogramm einer großen Koalition vorstellen. Bedeutsam für diese war der Zwischenfall um die Mammerent trotzdem: Ihrer Einführung hatten die Sozialisten 2001 am Rentendësch nur unter der Bedingung zugestimmt, dass sie aus dem Staatshaushalt finanziert werde. Nun demonstrierten Juncker und die CSV, die aus den Wahlen vom 13. Juni 2004 mit 24 Abgeordnetenmandaten so gestärkt wie selten zuvor hervorgegangen war, ihre Dominanz gegenüber einer LSAP, die nur 14 Abgeordnetenmandate auf sich vereinigte und so schwach wie nie in Koalitionsgespräche gegangen war.
Der Zwischenfall sorgte aber auch für Dramatik. Gegen den Griff in die Pensionskassen wandten sich im Sommer 2004 auch sämtliche Patronatsverbände und alle Gewerkschaften. Der Konflikt darüber erweckte den Eindruck, die öffentlichen Finanzen hätten Entlastung und Neuorientierung nötig und litten womöglich an einem systemischen Problem. Er hätte das Vorspiel zur eigentlichen Auseinandersetzung der Legislaturperiode werden können: der über Änderungen am Sozialstaat, nachdem es ebenfalls eine CSV-LSAP-Koalition gewesen war, die 1999 das traditionelle Pensionssystem im öffentlichen Dienst abgeschafft hatte.Aber in den zu Ende gehenden fünf Jahre Schwarz-Rot gelang etwas Besonderes: Einerseits versuchte die Regierung, Luxemburg dem Wettbewerb der europäischen Regionen anzupassen, andererseits erweckte sie nach außen hin den Eindruck, dieser Wettbewerb betreffe Luxemburg nicht.
Moderatioun war ein Schlüsselbegriff in der an Naturmetaphern reichen Regierungserklärung des Premiers vom 4. August 2004 gewesen. Mäßigung sollte „Methode, Landkarte, Art und Weise und Kompass“ zugleich auf dem Weg in Richtung „Modernisierung, Integration, Transformation und Innovation“ sein.
Denn mochte die im Jahr 2000 von der EU verabschiedete „Lissabon-Strategie“, bis 2010 zum wettbewerbsfähigsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Welt aufzusteigen, in diesem Punkt nach dem Crash der Internet-Wirtschaft illusorisch geworden sein: Bei ohnehin anhaltender wirtschaftlicher Globalisierung hatte die zügige Erweiterung der EU um neue Mitgliedstaaten begonnen. Da in den allermeisten von ihnen vergleichsweise niedrige Lohnniveaus, wenn nicht gar noch Flat-tax-Systeme bestanden, war für die erweiterte Union absehbar, dass es künftig einen steten Wechsel von Aufschwungs- und Abschwungsregionen geben könnte – ähnlich wie in den USA. Und dass Aufschwung sich dann nicht nur an der Bildung innovationsfähiger „Branchen-Cluster“ entscheiden würde, sondern auch an der Möglichkeit, vor Ort preiswert investitieren zu können. In Ermangelung europäischer Sozialstandards hatte „Lissabon“ auch zum Wettbewerb um das „europäische Sozialmodell“ aufgerufen, das zwar immer wieder beschworen wird, das es aber bis heute nicht gibt.
Doch rückblickend blieb der große soziale Einschnitt zugunsten der Wettbewerbsfähigkeit des Standorts aus. Die Regierung griff nicht die Überlegungen auf, die im November 2004 der französische Wirtschaftsprofessor Lionel Fontagné angestellt hatte: Einführung eines reduzierten „Ausbildungs-Mindestlohns“ sowie die Verpflichtung, von fällig werdenden Index-Tranchen einen Teil zur individuellen Finanzierung von Aus- und Weiterbildung zu nutzen. Ebenso wenig machte sie Ernst mit den Ankündigungen des Finanz- und des Haushaltsministers: „Mittelfristig über eine Änderung bei den Sozialausgaben diskutieren“ wollte Luc Frieden im Oktober 2004 bei der Vorstellung des Haushaltsentwurfs 2005. Ein Jahr danach berichtete Jean-Claude Juncker in seiner ersten „richtigen“ Regierungserklärung am 12. Oktober 2005 – nach Abschluss der Luxemburger EU-Präsidentschaft und nur drei Tage nach den Gemeindewahlen –, der Staatshaushalt habe eher ein Ausgaben- denn ein Einnahmenproblem, „und das Phänomen der automatischen Ausgabensprünge [durch fällig werdende Sozialtranfers] erklärt dieses Problem fast ganz“.
Dennoch sind am Ende der Legislaturperiode die Eingriffe in die Sozialtransfers so groß nicht: Der Staatsanteil an der Finanzierung der Pflegeversicherung wurde von 45 auf 40 Prozent gesenkt. Die Rentenkassen übernahmen punktuelle mit den Pensionen verbundene Ausgaben aus dem Staatshaushalt. Am weitreichendsten war womöglich die dauerhafte Desindexierung des Kindergelds, die die Tripartite 2006 beschloss.
Hätte die Regierung in ihrer Lisbon Story doch versagt? Das kann nicht behauptet werden. Wirtschaftspolitisch ganz offensichtlich nicht: Abgesehen von den sektoralen Diversifizierungsbemühungen von Wirtschaftsminister Jeannot Krecké in Logistik, Biotechnologie und neuerdings auch Umwelttechnologien, wurde in Luxemburg das Standortmarketing regelrecht institutionalisiert – sowohl von Krecké für die Industrie und im Dienstleistungssektor, als auch von Luc Frieden für den Finanzbereich. Und die zuletzt fertiggestellten Infrastrukturprojekte zur Breitbandkommunikation haben dazu beigetragen, aus dem IT-Sektor einen Cluster-Hoffnungsträger zu machen, der hinausreichen könnte über den vom niedrigen Mehrwertsteuersatz begünstigten E-Commerce von Luxemburg aus.Innovation im weitesten Sinne ebenfalls nur begünstigen können die um mehr als das Dreifache gegenüber 2000 gestiegenen öffentlichen Forschungsausgaben und der Abschluss von Mehrjahres-Leistungsverträgen zwischen Staat und öffentlichen Forschungszentren. Das gilt auch für die von Bildungsministerin Mady Delvaux-Stehres betriebene Schulreform mit ihrem Fokus auf Schülerkompetenzen, Teamarbeit, die Öffnung des Punkte-Bewertunsschemas, die erhöhte Autonomie der Schulen und die ständige Bereitschaft, sich internationalen Rankings zu stellen.Dagegen war es die Regierung selbst, die für Verwirrung über die Mission der Tripartite sorgte, deren Abschlussdokument vom 30. April 2006 die meisten wesentlichen legislativen Entwürfe der noch verbleibenden Regierungszeit vorwegnahm. Denn was ursprünglich als Kompetitivitäts-Tripartite angekündigt worden war, sollte am Ende hauptsächlich das Defizit im Zentralstaat beseitigen. Kaum unerwartet erklärte der Patronatsdachverband UEL nach Abschluss der Tripartite, das könne es aber noch nicht gewesen sein.
Doch das bewies nur, dass die Leistung der Regierung und ihres Premiers im Diskurs lag. Sie hatten sehr wohl verstanden, dass im Wettbewerb der europäischen Regionen die wirtschaftliche Macht eines Staates sehr klein geworden ist – und noch mehr im globalen Wettbewerb, was zeitgleich zur Tripartite der beginnende Übernahmekampf von Mittal Steel um Arcelor demonstrierte. Statt den Index dem Patronat zuliebe in Frage zu stellen, bot die Regierung an, ihn im Rahmen einer zeitlich befristeteten kollektiven Verzichtsleistung zugunsten der öffentlichen Hand zu „modulieren“.
Doch wenn ein Vierteljahrhundert zuvor der Versuch, den Index abzuschaffen, noch zu einem neuntägigen Generalstreik geführt hatte, kam dessen zeitweilige Aussetzung mit Zustimmung der führenden Gewerkschaften OGB-L, LCGB und CGFP geradezu einem Epochenbruch gleich: Der heilige Gral der Sozialpolitik war keiner mehr. Künftig konnte keine Option mehr ausgeschlossen sein. Für die Regierung war die Lösung um so eleganter, als der Preis der Gegenleistung „Einheitsstatut“ für den Staat Null beträgt: Die Reform belastet den Staatshaushalt nicht, sondern hat im Gegenteil den Aufwand der Gesundheitskasse für Krankengeld gesenkt und damit auch den Beitragssatz, dem der Staatsanteil an der Krankengeldversicherung automatisch folgt.
Damit war eine ganz wesentliche Etappe auf dem Weg nach „Lissabon“ absolviert. En passant hatte die Tripartite eine den Arbeitgebern wichtige Kompetitivitätsfrage beantwortet: Im Spätsommer 2005 hatte die Handelskammer einen Gesetzesvorschlag im Parlament eingereicht, den Arbeitgeberanteil an der Krankenversicherung bis zum Ende der Legislaturperiode einzufrieren. Am Ende beschloss die Tripartite, dass bis auf Weiteres von Beitragserhöhungen abzusehen sei.
Weiter zu gehen, war anschließend nicht mehr notwendig. Da im Tripartite-Jahr 2006 das BIP-Wachstum schon wieder über sechs Prozent betrug und der Beschäftigungszuwachs in jenem und den beiden folgenden Jahren vier bis fünf Prozent, konnte man nun so tun, als betreffe der Wettbewerb der Regionen Luxemburg nicht. Außerdem ließen die erneut gewachsenen Steuereinnahmen die Finanzreserven des Staates so stark steigen, dass die CSV vor den Wahlen übermorgen erklärt, falls die Tripartite-Maßnahmen 2006 nicht mehr nötig gewesen seien, hätten sie dem Staat aber zu jenem „Apel fir den Duuscht“ verholfen, von dem man in der aktuellen Rezession gemeinsam zehre.
Sicherlich half es der Regierung beim Griff nach dem Heiligen Gral des Sozialstaats, dass im Dezember 2005 die CSV-Fraktion mit Michel Wolter an der Spitze während der Debatten zum Haushaltsentwurf 2006 Luc Frieden nachwies, ungeachtet aller Sparappelle einen zu hohen Ausgabenzuwachs geplant zu haben. Es düpierte den Haushaltsminister zwar, sorgte aber für Dramatik in der Sache. Wie auch die „kleine Regierungsumbildung“ im Februar 2006, als Premier Juncker Luc Frieden von der Zuständigkeit für die Verteidigung „entlastete“ und Arbeitsminister François Biltgen von Teilen des Kultur- und des Hochschulressorts. Fragt sich nur, ob beide Vorgänge inszeniert waren – falls ja, hätten CSV und LSAP ihre befreundeten Gewerkschaften gezielt in die Knie gezwungen. Es wäre politisch eine noch wesentlichere Etappe auf dem Weg nach „Lissabon“.