Der US-amerikanische Regisseur Brady Corbet avanciert mit der Auszeichnung als Bester Regisseur der diesjährigen Filmfestspiele von Venedig zu einem der angesagtesten Filmemacher des amerikanischen Kinos. Sein dort aufgeführter neuer Film, The Brutalist, wurde bereits nach seiner ersten Aufführung überaus wohlwollend und superlativisch besprochen – Brady Corbet, der eine Art Ziehkind des Festivals in Venedig ist, kommt nun der Status eines neuen Wunderkindes des amerikanischen Films zu.
Mit nur drei Filmen ist Brady Corbet als Regisseur nun in aller Munde, doch zum Film fand der US-amerikanische Künstler zunächst über das Schauspiel. Aufgefallen war der Schauspieler wohl dem österreichischen Filmemacher Michael Hanecke, der ihn 2007 für das überaus werkgetreue US-Remake seines Films Funny Games von 1997 castete. Mit seinem Regiedebüt 2015 nahm er sich einer Novelle von Jean-Paul Sartre an. Zusammen mit seiner Lebensgefährtin, der norwegischen Schauspielerin und Filmemacherin Mona Fastvold, verfasste er das Drehbuch zu Childhood of a Leader. Es ist eine Erzählung um die Genese einer faschistoiden Führer-Figur, die aus den Wirren der Nachkriegszeit um 1920 unmittelbar am Ende des Ersten Weltkriegs seinen Ausgang nimmt. In Versailles verhandeln die Großmächte den neuen Frieden. Unter ihnen befindet sich ein amerikanischer Sekretär (Liam Cunningham) aus dem Stab von Präsident Wilson. Dessen Frau und sein kleiner Sohn lassen sich derweil auf einem Landsitz nieder. In den eigenen vier Wänden zumindest will sich ein wahrer Frieden nicht wirklich einstellen, zu sehr geraten der eigenwillige und jähzornige Bescott (Tom Sweet), seine deutschstämmige Mutter (Bérénice Bejo) und eine Gouvernante aneinander. In äußerst beklemmenden, düsteren Bildern aus braun-grauen und spärlich beleuchteten Interieurs entwickelt Corbet hier eine Aufsteigerphantasie, die sich aus dem Akt des Aufbegehrens nährt: Immer wieder strukturieren Episoden des Ungehorsams gegenüber religiöser und erzieherischer Autorität das Geschehen. Der Junge lässt sich nicht in die soziale Ordnung einfügen, er folgt den Rollenbildern nicht, seine androgyne Erscheinung lässt obendrein Verwechslungen mit einem Mädchen zu. Brady Corbet entwickelt in Childhood of a Leader eine reine Fiktionsfigur, dessen Verankerung in der Historie aber eine subversive Dimension annimmt: Es ist die Entstehung eines fiktiven Führerkults um einen eigensinnigen Aufsteiger, der die historische Perspektive auf die Entstehung faschistischer Kräfte mitreflektiert. Corbet interessieren gerade die Kippbewegungen, wie ein System in ein anderes fällt, ja sich reproduziert, kaum merklich, bis die Grenze überschritten ist und eine Rückkehr unmöglich scheint. Und die Frage danach, wie Demokratien wieder in den Totalitarismus fallen können, ist heute vielleicht wieder virulenter geworden. In nahezu schwindelerregenden Kamerabewegungen setzt Corbet den Schrecken des Totalitarismus in seinem letzten Erzählabschnitt frei: Darin sehen wir nun Robert Pattinson in der Figur des erwachsenen Bescott, der zum Führer emporgeklommen ist, eine treue Schar an kratzbuckligen Vertrauten umgarnen ihn, doch der große Diktator spricht immer noch mit der kindlichen Stimme des einstigen kleinen Diktators. Das vergangene Ich und das gegenwärtige sind untrennbar miteinander verwoben. Eine weitere zentrale Leitidee für Corbet: Die Vergangenheit und die Gegenwart, die für die Zukunft konstitutiv sind, sind immer unlöslich miteinander verbunden.
Sein zweiter Film Vox Lux (2018) erforscht das Milieu der Popmusik: Auch da gibt es eine Aufsteigerin, eine Popikone wird geboren. Die junge US-Amerikanerin Celeste (Nathalie Portman) hat eine große Karriere im Showbusiness in Aussicht. Zunächst aber steht da eine traumatische Katastrophe: Ein Schulattentat, dem die junge Celeste nur knapp überlebt, eröffnet diesen Film. Auf einer Gedenkfeier trägt sie ein Lied vor, das der Grundstein sein wird für ihre spätere Karriere. Wie man aus Traumata Kapital schlägt, das ist eine weitere Leitfrage, die den 36-jährigen Regisseur umtreibt. Er beschaut seine Aufsteigerin hier mit sehr viel Zynismus und Ironie, lässt aber auch die perverse Komponente kapitalistischer Marktlogik sehr desillusioniert einfließen. Gerade das vergangene Trauma lässt diese Celeste – allein ihr Name verspricht den Glanz der Sterne – nicht mehr los. «Ich glaube, wenn du jemanden triffst, der eine wichtige Rolle in deinem Leben spielen wird, zwingt uns das auf die Vergangenheit zurückzublicken und damit in der Zukunft weiterzumachen» heißt es da an einer Stelle. Es ist der namenlose Musikproduzent (Jude Law), der die große Karriere und das große Geld wittert. Er wird Celeste zu einer Popikone formen, die aus einem Gewaltakt geboren wurde, der einem heute nahezu genuin amerikanisch erscheinen will. Es ist die ganz pervertierte Seite des amerikanischen Traums. Hat Celeste den Aufstieg dann vollzogen, kopiert sie die Machtmechanismen ihres Produzenten. Auch die Atmosphäre dieses Films ist überaus kalt, dreckige Farben, die viele Grau- und Blautöne aufweisen, bestimmen das äußere Erscheinungsbild von Vox Lux. Über diesen trostlosen Bildern liegt immer wiederkehrend die Erzählerstimme von Willem Dafoe, die dem Film das verstörend Märchenhafte verleiht.
So wie The Childhood of a Leader und Vox Lux zwei sehr unterschiedliche Aufsteigergeschichten waren, so spiegeln sich der kleine Diktator und die aufstrebende Popsängerin auf vielfältige Weise in dem ungarischen Architekten Lázlo Tóth (Adrien Brody), der der aufstrebende Protagonist seines neuen, dritten Films, The Brutalist, ist. Und da ist gleich zu Beginn die Kippbewegung der Kamera, die an die schwindelerregenden Aufnahmen am Ende von The Childhood of a Leader erinnert: Die Freiheitsstatue steht plötzlich Kopf, etwas stimmt mit diesem Amerika nicht, das Lázlo Tóth betritt. Er ist der jüdische Stararchitekt aus Ungarn, der in die Vereinigten Staaten übersetzt, um dort ein neues Leben zu beginnen. Und in diesem vielversprechenden Land wartet der mephistophelische Tycoon van Buren (Guy Pearce), eine Abwandlung des Musikproduzenten aus Vox Lux, der das Talent eigennützig fördern wird. Es geht um einen aufstrebenden Künstler und die Dekonstruktion der ikonischen Idee von Freiheit – The Brutalist ist einmal mehr eine Aufsteigerphantasie, die Corbet diesmal sehr aufwändig in Szene setzten darf. Alles an diesem Film ist der Idee von Größe verschrieben: Die Laufzeit von nahezu vier Stunden ist mit seiner epischen Breite überwältigend. Die Kostümierung, die Ausstattung, die Requisiten sind detailreich und verleihen dieses große Americana, die diese Künstlerbiographie über dreißig Jahre umspannt, den beanspruchten Wahrheitsgehalt, der keiner ist: Das Leben von Lázlo Tóth wird hier so eindringlich in Inhalt und Form vermittelt, dass man meinen möchte, es handle sich um eine historische Persönlichkeit der Kunstgeschichte. Aber wie in The Childhood of a Leader und Vox Lux sind die Biografien reines Fiktionsprodukt. Corbet schildert das Schicksal dieses jüdischen Architekten, der den Holocaust überlebt hat, indes sehr bewusst mit sehr viel Aufwand. Er zeigt, wie der einstige Häftling aufsteigt zu einem bedeutenden Künstler des Baustils des Brutalismus, der prägenden architektonischen Bewegung der Nachkriegszeit. Dabei wird Tóth selbst zu einem brutalen Machtmenschen: Er schreit auf der Baustelle, schikaniert und demütigt seine Angestellten. Subtil und ohne Direktverweise zeigt Corbet, wie ein einstiger KZ-Häftling die erlittenen Traumata und Machtasymmetrien in der NS-Zeit verarbeitet, in „dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ wiederum neue erleben muss und sie letztlich kopiert. Corbet beobachtet in seinen gerade mal drei Filmen überaus klarsichtig, wie Aufsteigerfiguren Machtsysteme reproduzieren unter neuen Verhältnissen. Dabei ist zu vermuten, dass der Schöpfer selbst, mit der Auszeichnung des Silbernen Löwen in Venedig, in Hollywood gute Aufstiegschancen hat.