Europa-Visionen

Dicke Bretter bohren

d'Lëtzebuerger Land vom 25.01.2013

Der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble ist das seltene Beispiel eines Elder statesman, der noch immer ein politisches Amt ausübt. Elder statesman deshalb, weil dieser zähe Politiker seit dem Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls im Jahre 1983 an vorderster Front der deutschen und europäischen Politik steht. Vor kurzem hat Schäuble am Alfred-Weber-Institut der Universität Heidelberg eine Vorlesung gehalten mit dem Titel „Institutioneller Wandel und europäische Einigung“. In der Stadt, in der Alfred Weber den Slogan ‚Politik sei das Bohren dicker Bretter‘ geprägt hat, lieferte der deutsche Finanzminister eine bemerkenswert pragmatische und selbstbewusste Sicht auf den Fortgang der europäischen Einigung.

Selbstbewusst ist Schäuble hier nicht als Individuum, sondern als Europäer. Seine erste Begründung für die Notwendigkeit einer fortschreitenden europäischen Einigung lautet, „dass eben diese den mit Abstand am weitesten entwickelten Ansatz für neue Elemente von Regierungs- und Ordnungsstrukturen bildet, die auch die globalisierte Welt als Ganzes entwickeln muss“. Für ihn ist die europäische Einigung nicht nur wichtig für den Frieden in Europa, sondern ein Beitrag von welthistorischer Bedeutung. Selbstbewusst ist Schäuble aber auch in anderer Hinsicht, denn er beschreibt Europa als „eine in der Welt immer noch einmalige Mischung von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, von demokratischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit“.

Wolfgang Schäuble sieht die immer stärkere Bürokratisierung der EU als direkte Folge der Tatsache, dass die Nationalstaaten weiterhin „die Herren der Verträge“ sind. Daran hat sich bekanntlich ja auch durch den Lissabonner Vertrag nichts geändert. Weil nicht die europäischen Bürger, sondern die Staaten die EU tragen, fesseln sie sich gleichsam selbst wie einst die Liliputaner Gulliver mit einer Unzahl an detaillierten gesetzlichen Regelungen im europäischen Primär- und Sekundärrecht.

Bei der Weiterentwicklung der europäischen Integration lehnt dieser Pragmatiker der Macht den großen Wurf hin zu den Vereinigten Staaten von Europa ab. Dies tut Schäuble nicht, weil er grundsätzlich gegen diese Vision wäre, er teilt das Ziel sogar, sondern weil er angesichts grassierender Europamüdigkeit überzeugt ist, dass die europäischen Bürger einer solchen Konstruktion die Legitimität verweigern würden. Ein noch stärkeres Hindernis sei jedoch der Widerstand der Mitgliedstaaten gegen eine völlige Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips, die ein solcher großer Wurf mit sich bringen würde.

Der englische Standpunkt, dass Kompetenzen von der EU an die Mitgliedstaaten zurückübertragen werden müssten, bringt Schäuble dazu, zwei Wege des Föderalismus zu beschreiben. Entweder gebe es die deutsche Möglichkeit, in der die föderale Ebene eine weitgehende Regelungskompetenz habe, die unteren Ebenen dafür im Gegenzug am Gesetzgebungsprozess beteiligt seien. Oder man mache es wie die Schweizer, deren politische Einheiten über genau abgegrenzte Kompetenzen verfügen, in denen sie weitgehend autonom handeln könnten. Europa sei eher nach dem deutschen Modell organisiert. Um Mehrheitsentscheidungen in diesem Modell akzeptabel zu machen, brauche es neben gemeinsamen Erfahrungen, Mythen und Bedrohungen vor allem eine gemeinsame Öffentlichkeit. Der deutsche Politiker sieht dabei die europaweite Diskussion über die Euro/Schuldenkrise als hoffnungsvolles Zeichen, dass diese nicht so weit entfernt sei, wie viele Skeptiker meinen.

Wolfang Schäuble spricht sich klar dafür aus, die Europäische Kommission über kurz oder lang zu einer echten europäischen Regierung weiterzuentwickeln. Schon vor längerem hat er deshalb vorgeschlagen, den Kommissionspräsidenten direkt wählen zu lassen. Eine europäische Revolution schließt er angesichts der schon weit vorgeschrittenen Verflechtung aus. Übrig bleibe unter den gegebenen Umständen allein „trial and error“ und notfalls die Weiterentwicklung der europäischen Einigung über „suboptimale“ intergouvernementale Verträge, wenn anders gar kein Fortschritt möglich sei. Flexibilität in allen Lebenslagen ist gleichsam sein Motto. Opt-out-Klauseln sind deshalb für ihn kein Teufelszeug, sondern potentielle Eintrittskarten für die Zukunft und der Fiskalpakt ein gelungenes Beispiel für suboptimale europäische Politik.

Christoph Nick
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