Luc Frieden legt Wert aufs Protokoll. Gleich nach den Wahlen und als formateur der neuen Regierung berichtete er regelmäßig, wann er beim Großherzog war und was der Staatschef ihm mit auf den Weg gegeben hatte. In der Regierungserklärung des neuen CSV-Premiers am Mittwoch wurde der Großherzog ebenfalls an vorderster Stelle erwähnt. „Ech si mer bewosst iwwer déi grouss Verantwortung vun der Funktioun als Premierminister, déi de Grand-Duc mer als Konsequenz vun de Parlamentswale vum 8. Oktober ginn huet.“
Man mag das konservative Gesten nennen, es liegt aber auf einer Linie mit dem, wie Frieden die Regierung wahrgenommen sehen will und das, was sie in den nächsten fünf Jahren vorhat. Für „all Leit, déi hei am Land schaffen, egal wéi hir politesch Iwwerzeegunge sinn“. Die CSV-DP-Koalition sei eine aus der politischen Mitte. Das war die Koalition vor ihr auch. Mit der LSAP, in der viele mit dem „Arbeiter“ im Parteinamen hadern, aber wissen, dass sie auf die Stimmen der kleinen Leute angewiesen sind. Mit den Grünen, die Umweltpolitik in der Marktwirtschaft unterbringen. Die CSV-DP-Regierung hat dennoch ein eigenes gesellschaftspolitisches Projekt: Alle sollen einsehen, dass Zukunft nur Wettbewerbsfähigkeit heißen kann.
Man kann den Koalitionsvertrag so lesen, als verstünde die neue Regierung die Bürgerinnen und Bürger in erster Linie als Verbraucher. Der „État moderne“, mit dem der 209 Seiten lange Text des Koalitionsvertrags beginnt, habe als eine seiner wichtigsten Funktionen den „service aux citoyens“, die Gemeinden auch. Weil das offenbar vor allem durch Digitalisierung erreicht werden soll, geht es auf sieben Seiten weiter mit eWallet, landesweitem Wifi und Blockchain.
Zu den von Luc Frieden am häufigsten gebrauchten Begriffen in der Regierungserklärung zählte „Prozeduren“. Auf den 21 Seiten des ausgedruckten Textes kommt das Wort zehn Mal vor. Nimmt man „méi séier“, „méi efficace“ und „Simplification administrative“ hinzu, werden es der Erwähnungen von Bürokratieabbau noch ein paar mehr. Einerseits ist das nicht erstaunlich. Entbürokratisierung hatten Luc Frieden und die CSV schon im Wahlkampf versprochen: weniger Umweltprozeduren, „vernünftigen“ Naturschutz, schnellere Genehmigung von Bauvorhaben. Andererseits bietet der ausgiebige Verweis auf schnellere Verwaltungsvorgänge die Chance, um mit der Regierungserklärung ein paar Sympathien zu gewinnen. Vom Wahlkampfversprechen der CSV „Méi Netto vum Brutto. Entlaaschtung elo!“ ist erst einmal nur die Anpassung der Steuertabelle um vier Indextranchen Inflationsentwicklung zum 1. Januar übriggeblieben. Wovon zweieinhalb Tranchen schon die vorige Regierung in der März-Tripartite hatte beschließen lassen. Nach dem Leak des Koalitionsvertrags an die Presse vor einer Woche konnte jeder nachlesen, wie die neue Regierung sich das genau vorstellt mit der Stärkung der Kaufkraft, die Luc Frieden, als er sich Anfang des Jahres CSV-Bezirkskongressen als Spitzenkandidat in spe präsentierte, seine Hauptsorge nannte.
Dabei fällt zum Beispiel auf, dass die CSV gerade Niedrigverdiener mehr zu entlasten versprach, als die Regierung nun umsetzen will. Den Eingangssteuersatz von 11 265 auf 15 000 Euro besteuerbares Jahreseinkommen anzuheben, ist im Koalitionsvertrag nicht vorgesehen. Von einem Steuerkredit für Mindestlohnbezieher ist ebenfalls keine Rede. Wie Luc Frieden sich am Mittwoch ausdrückte, wolle die Regierung „vor allem die Mittelschicht entlasten“. Das helfe auch Handwerk, Handel und Gastronomie. „Andere Steuersenkungen, besonders für kleine und mittlere Einkommen“ würden im Laufe der Legislaturperiode vorgenommen, „parallel“ zu weiteren Inflationsbereinigungen der Steuertabelle.
Natürlich fiel das der LSAP auf, die in ihrem Wahlprogramm den Mindestlohn steuerfrei zu machen versprochen hatte und sich nach der großen Steuerdebatte vom Juli 2022 der CSV politisch nah fühlte. Damals hatte der Ko-Fraktionspräsident Gilles Roth „aus sozialer Verantwortung“ auch einen zusätzlichen Spitzensteuersatz von 45 Prozent auf Jahreseinkommen über 500 000 Euro vorgeschlagen, den die CSV im Wahlprogramm zwar auf 43 Prozent senkte, aber den Ansatz beibehielt. Für die Regierung kassierte ihn Luc Frieden am Mittwoch mit den Worten, Luxemburg müsse „attraktiv bleiben“. Wozu auch Prämien für „Talente“ sorgen sollen, und Körperschaftsteuer, die sinken soll, auch.
In vielen Hinsichten steht der Koalitionsvertrag in der Philosophie eines Ordoliberalismus, der Forderungen der Handelskammer aufgreift (siehe S. 4). Das sei „Ökonomie des 19. Jahrhunderts“, regte LSAP-Fraktionspräsidentin Taina Bofferding sich am Donnerstag in der Debatte zur Regierungserklärung auf. Darin stecke „keine Vision, keine lange Sicht“. Was wahrscheinlich nicht stimmt. Das „inklusive Wachstum“, zu dem die Regierung „steht“, hatte Frieden am Tag vorher erläutert, sei eines, „das dem Unternehmen selber, ihren Besitzern, ihren Mitarbeitern und der ganzen Gesellschaft zugute kommt“. Wie eine einzige große Sozialpartnerschaft, in der Klassengegensätze verschwinden, weil alle davon überzeugt worden sind, dass „nur gesunde Betriebe gute Arbeitsplätze schaffen und uns die Mittel für eine starke und wirksame Sozialpolitik geben. Nur starke Betriebe können für sich selbst und für den Staat die nötigen Mittel aufbringen, um die notwendige ökologische und digitale Transformation zu finanzieren“. Weil die Bürger, die Verbraucher sind, meinen, das führe zu mehr Kaufkraft. Taina Bofferding schalt gestern, das sei „Business first“. CSV-Fraktionspräsident Marc Spautz hatte zwei Stunden vorher gesagt, im Koalitionsvertrag sei „101 Mal von Sozialem, sozialer Kohäsion und Sozialdialog“ die Rede. Doch dass eine geschäftsfreundliche Regierung nicht wollen kann, dass im kleinen Land die Gesellschaft auseinanderbricht, versteht sich. Dazu passt die geplante Erhöhung des Revis oder das Bekenntnis zur regelmäßigen Anpassung des Mindestlohns.
Doch wer schon hat, soll noch mehr bekommen. Wer Geld hat, um in Start-ups zu investieren, soll steuerlich entlastet werden. Wer in eine private Rentenversicherung investiert, wurde in der Steuerreform 2017 schon entlastet; die neue Regierung will noch eins drauflegen. Die große Runde Steuergeschenke, die die Regierung an die Immobilienbranche ausreicht sowie an Investoren in Mietwohnungen (siehe Seite 28), geht gegen den Ansatz, den die DP in den vergangenen fünf Jahren gefunden hatte, weil sie fand, eine nachfrageorientierte Politik habe die Wohnungspreise steigen lassen. Nun redet sie sich zurecht: Die Maßnahmen würden „zeitlich befristet“, und Luxemburg sei in einer Krise, die vor drei Jahren niemand kommen sah, erklärte DP-Fraktionspräsident Gilles Baum. Also seien die Maßnahmen „antizyklisch“, und die DP trage sie mit.
Das seien ungedeckte Schecks auf die Zukunft, hielt die grüne Fraktionspräsidentin Sam Tanson der Regierung vor. Überhaupt die Steuerpläne im Koaltionsvertrag: Wie sie gegenfinanziert werden sollen, werde nicht gesagt, dabei würden die Anpassungen der Steuertabelle zum 1. Januar 880 Millionen Euro kosten. Eine Prioritätenliste für Infrastrukturprojekte gebe es nicht (die vorige Regierung hatte ihre in zwei Anhängen dem Koalitionsvertrag beigefügt). Und noch immer, stellte Tanson fest, werde das „populistische Narrativ“ gepflegt, dass der Umweltschutz „das Hauptproblem in der Baukrise“ sei. „Viel öfter“ seien Gemeindeprozeduren, die Grundstückspreise und die hohen Zinsen das Problem.
Verglichen mit Ex-Ministerin Bofferding war Ex-Ministerin Tanson in der Debatte die besser informierte und damit wirkungvollere Sprecherin aus der Opposition. Tanson äußerte sich nicht nur zu grünen Themen und über die Ressorts, für die sie früher verantwortlich war. Sie machte sich sogar den Spaß, Jean-Claude Juncker zu zitieren, der am 5. Dezember 2002 im Parlament darüber referiert hatte, wieso vermutlich nach den Steuersenkungen von 2001 weniger statt mehr konsumiert wurde: „Dat huet mat der Taille vun eiser Economie ze dinn, mat dem Behuelen vun de Lëtzebuerger Konsumentesoziologie, déi relativ vill vun deem, wat si u Kafkraaft gewënnt, ausserhalb vun de Landesgrenzen zum Asaz bréngt“.
Aber der Regierung dürfte klar sein, dass viele der Ankündigungen, die sie im Koalitionsvertrag macht, erst noch „studiert“, analysiert“ oder „geprüft“ werden sollen, Geld kosten werden und vielleicht davon wird abgesehen werden müssen. Wie eine regelrechte „Offensive“ im Wohnungsbau beschaffen sein und finanziert werden könnte, scheint CSV und DP ebenso wenig klar zu sein, wie DP, LSAP und Grüne vor fünf Jahren. DP-Fraktionschef Baum freute sich, dass der „Bürgerfonds“ zur Finanzierung von Wohnungsbau es in den Koalitionsvertrag geschafft hat, doch in dem der vorigen Regierung stand diese DP-Idee auch schon.
Die ADR scheint in der neuen politischen Konstellation eine marktradikale Rolle spielen zu wollen: Fraktionschef Fred Keup nannte die Steuererleichterungen, die den Wohnungsbau ankurbeln sollen, „gesund“; die Gesetzentwürfe für die Steuer auf Leerstandswohnungen und brachliegendes Bauland müssten weg. Die Piraten äußerten sich betont sozial, bis in Details zu Armutsbekämpfung und Behindertenpolitik. Marc Baum von den Linken fragte sich, was passiert, wenn die Steuerpolitik der Regierung „nicht aufgeht, was dann der Plan B“ sei.
Vielleicht geht die Regierung davon aus, dass die Anpassung der Steuertabelle, die Luc Frieden freimütig eine Entlastung „vor allem für die Mittelschicht“ nannte, ein klug kalkulierter Steuerausfall deshalb ist, weil der Anteil von Niedrigverdienern am Wahlvolk nicht groß ist. Unzufriedenheit mit CSV und DP vorzubeugen, die sich bei den Europawahlen im Juni äußern könnte, beugen vier Indextranchen Tabellen-Anpassung eher vor als etwa ein Steuerkredit für Mindestlohnbezieher. Nach den Europawahlen hat die neue Regierung Ruhe bis 2028. Und ist damit in einer bequemeren Lage als die erste DP-LSAP-Grüne-Regierung, die erleben musste, wie die Europawahlen 2014, das Referendum 2015 und die Gemeindewahlen 2017 einen immer größer werdenden Trend hin zur CSV ergaben.
Luc Frieden sagte am Schluss der Debatte, die Regierung konkretisiere ihre Politik natürlich noch. Sie habe ja erst angefangen mit ihrer Arbeit. Über den Wohnungsbau, schlug er vor, könne man in einer großen „nationalen Versammlung“ breit debattieren. „Wachstum“ sei tatsächlich der „schwarz-blaue Faden“ der Koalition. Er sei überzeugt, „dass wir Wachstum brauchen“. Was das impliziert, könne man ebenfalls mit der ganzen Gesellschaft breit diskutieren.
Dass solche großen Gesprächsangebote damit zu tun haben, dass Frieden achtgibt, den neie Luc zu geben, mag sein. Aber vielleicht ist der Grund noch mehr, dass er im Unterschied zu all seinen Vorgängern kein weiteres Amt bekleidet als das des Premierministers. In seiner Regierungerklärung sagte er, er werde die Arbeit der Regierung koordinieren und über die Einheit ihrer Tätigkeit wachen, wie Verfassungsartikel 91 das vorsieht. Im Alltag könnte sich daraus ergeben, dass politische Probleme und Fehlschläge schneller dem Premier angelastet werden könnten, als den Regierungschefs vor ihm. Die Vertrauensabstimmung ging mit den 35 Stimmen der Koalition gegen die 25 der Opposition aus.