Nach dem Hype um die Ausstellung La révolution de 1974. Des rues de Lisbonne au Luxembourg ist die kleinere, aber sehr sehenswerte Schau des Fotografen Alfredo Cunha, die derzeit parallel im MNAHA präsentiert wird, etwas in den Hintergrund gerückt. Auf einige seiner ikonografischen Pressebilder der Hauptausstellung trifft man auch hier, doch es gibt noch viel mehr zu sehen. „Die Ausstellungen ergänzen sich, wirken aber auch jede für sich“, so Isabelle Maas, Kuratorin der großen Schau über die Nelkenrevolution im MNAHA.
Insgesamt 70 von Cunhas Bildern sind in der Ausstellung im letzten Stockwerk des MNAHA zu sehen, inklusive eines Porträts des Fotografen– kein Selbstbildnis, sondern ein Foto von Clara Azevedo. Die Fotos wurden in Portugal von einer spezialisierten Druckerei gezogen, um eine hoch qualitative Ausstellung zu zeigen, die mit Spotlights auf verschiedene Momente der fotografischen Laufbahn Cunhas funktioniert. Zuerst waren die Aufnahmen an dem Haus von David Santos zu sehen, dem wissenschaftlichen Direktor des Museo de Neo-Realismo in Portugal, aus dessen Feder auch die Texte in der Schau stammen. Nun bringt er sie als Gast-Kurator in einer zweiten Phase nach Luxemburg. Eingefädelt wurde das Projekt von einer der beiden Presseverantwortlichen, Sonia da Silva, die den Kontakt zu Cunha hergestellt hatte und dessen Idee es war, die Ausstellung ins MNAHA zu holen. Hier mäandert die Schau nun zwischen künstlerischem, kunsthistorischem und geschichtlichem Zugang.
Bereits das erste Bild ist ein Blickfang, zeigt allerdings weder Kriege noch Kolonialismus. Es wirkt verspielt: der blonde Schopf eines im Wasser tobenden Mädchens – ein Porträt von Cunhas Tochter aus dem Jahr 1996, das die Gabe des Fotografen, intensive Momente mit seiner Kamera einzufangen, direkt belegt. Der 1953 geborene Alfred Cunha schoss leidenschaftlich gern Porträts – das Fotohandwerk erlernte er in den Ateliers von Vater und Großvater, die ein Fotostudio besaßen. Als junger Spund sah er in Paris Steichens The Familiy of Man, was ihn Zeit seines Lebens prägen sollte. Der humanistische Blick auf die Menschen wurde zentral in Cunhas Fotografien. Er arbeitete lange Zeit als Pressefotograf für verschiedene Zeitschriften, war ab den Achtzigern aber auch als offizieller Fotograf im Staatsdienst tätig, unter anderem für Mário Soares, von 1983 bis 1985 Premierminister und anschließend Präsident Portugals. Maria Antónia Palla, eine der ersten Journalistinnen Portugals und seine Chefin bei der Zeitschrift O Século Ilustrado, sollte seine künstlerische Entwicklung maßgeblich beeinflussen. Bei ihr lernte Cunha, sich seiner Arbeit als Fotoreporter bewusst zu werden, die Bedeutung des Augenblicks zu ermessen und die Menschen, die er porträtierte, zu respektieren. „Mit 19 Jahren wusste ich nicht, was ich tat. Sie hat mir die Augen geöffnet. [...] Es ist nicht so, dass meine Bilder bis dahin nicht gelungen waren, aber sie waren noch nicht mit der Wahrheit des Moments aufgeladen, es fehlte ihnen eine Seele.“
Cunhas fotografischer Blick prägt unsere Wahrnehmung der politischen Umbrüche, die er dokumentiert, nicht zuletzt die Nelkenrevolution. „Er nimmt sich schon Zeit, sein Sujet vor die Linse zu setzen. Aber er hat wirklich einen Instinkt für den Moment“, so Régis Moes, Co-Kurator der großen Schau über die Revolution. Einige seiner Bilder sind zu Bild-Ikonen geworden, etwa das Porträt des Offiziers Salguiero Maia (1974), das aus der medialen Berichterstattung über die Nelkenrevolution nicht mehr wegzudenken ist. Es hängt am Beginn der Ausstellung und zeigt ihn seitlich in die Kamera blickend. Salguiero Maia war maßgeblich an der Revolution beteiligt, ihm war es zu verdanken, dass es kaum Tote gab. Gewürdigt wurde der Offizier jedoch erst nach seinem Tod, das Foto wurde erst 20 Jahre danach publiziert. In den Fotografien der Nelkenrevolution spiegelt sich Ambivalenz wider: „Es war zugleich die Ruhe und Unruhe, die damals herrschte, die Cunha fotografisch eingefangen hat“, so Moes. Panzer und Maschinengewehre standen in den Straßen still.
In einem weiteren Teil der Ausstellung finden sich Arbeiten zur Dekolonisierung: „Eine direkte Folge der Nelkenrevolution“, so Isabelle Maas. Was in Portugal übrigbleibt, sind Kisten... Auf einem Foto von 1975 sieht man Kisten der retornados – der portugiesischen Siedler, die nach Portugal zurückgekommen sind – vor einem Monument. Die Folgen des Kolonialismus in Mozambique und Angola, zwei der ehemaligen portugiesischen Kolonien, sind auf Cunhas Pressefotografien nur zu erahnen. Auf einem Bild, das 1975 in einem Flüchtlingscamp in Angola entstand, sieht man die großen Köpfe dreier Kinder – ein Bildmotiv, das an Spendenaufrufe großer Hilfsorganisationen aus den Siebzigerjahren denken lässt. Daneben gestürzte Sockel von Denkmälern auf einem Bild aus Sao Tome von 1975. Koloniale Herrschaftssymbole wurden gestürzt, imperiale Nationalhelden wichen neuen Doktrinen.
Eine Reihe dokumentarischer Bilder zeugt von der Arbeit Cunhas als Kriegsfotograf. So etwa das Foto eines nach einem Bombenattentat verbrannten Autos (Irak, 2003), von dem nur noch Überreste der Karosserie übriggeblieben sind. Es erschien in zahlreichen Zeitungen. Die schwarz-weiße Ausleuchtung betont die Dramaturgie des Geschehens. Auf einem anderen (stark emotional aufgeladenen) Foto, ebenfalls aus dem Irak von 2003, wird ein toter Mann getragen, der kurz vor der Aufnahme wohl noch am Leben war und mit dem Fotografen gesprochen hatte. Ein Bild aus Rumänien von 1989 zeigt eine Menschengruppe um eine Leiche. „Die Auswahl konzentriert sich auf Momente, die politische und soziale Krisen widerspiegeln“, so Régis Moes. Zwei Bilder (von 1986) aus einer Haftanstalt ziehen die Blicke auf sich. Da fläzt ein Häftling im Innenhof des Gefängnisses in der Sonne, während auf dem Bild daneben eine Frau von hinten im Flur der Haftanstalt abgelichtet ist, rechts und links ein Kleinkind auf den Armen. Der Mann ist zwar inhaftiert, kann aber in der Sonne liegen, die Frau muss sich selbst im Gefängnis weiter um die Kinder kümmern. Auf Kontraste setzt Gast-Kurator David Santos auch, indem er etwa das Bild eines Marktes (von 1976) mit dem aus einer Fabrik von 1996 konterkariert: ein gelungenes Lichtspiel!
Eine weitere Reihe zeigt Persönlichkeiten aus der Kulturwelt Portugals, wie den Schriftsteller António Lobo Antunes oder João Paulo Cotrim, einen berühmten Verleger, der während der Corona-Pandemie verstarb. Den Literaturnobelpreisträger José Saramago hat Cunha mit dem Zeigefinger in der Luft dozierend und gestikulierend festgehalten. Es sind Auftrags-Porträts, aber auch Zufallsaufnahmen, wie die von David Mourão-Ferreira, dessen Gesicht nur schemenhaft hinter den Rauchschwaden seiner Pfeife zu erkennen ist. Daneben Maria Teresa Horta, eine der Autorinnen von Novas cartas Portuguesas, einem feministischen Schlüsselwerk im Kampf gegen die Salazar-Diktatur.
Alfredo Cunhas Fotografien haben eine unglaubliche Tiefe. Die Schwarzweißfotografie ist für ihn eine bewusste Entscheidung, die Farbe bestimmt die Form. Als Fotojournalist trennt er sich so gut wie nie von seiner Kamera. Er verfügt über einen riesigen fotografischen Fundus, der mehr als 50 Jahre umfasst und es ermöglicht, ein getreues Porträt des Landes zu zeichnen: die Menschen, die Bräuche, die Politik, die Landschaft, die Kultur.
Die Ausstellung im MNAHA verbindet Cunhas künstlerische Perspektive mit der internationalen Aktualität. Die Fotografien halten ein Portugal, das heute verschwunden ist, in nostalgischen Bildern im besten Sinne fest. Eine eindrucksvolle Foto-Schau, die komplementär zur großen Ausstellung über die Nelkenrevolution funktioniert und die man im nächsten halben Jahr nicht verpassen sollte.