Elf Jahre nach dem Tod John Castegnaros erscheint heute bei den Editions Le Phare die erste Biographie über den ehemaligen Gewerkschafter, Staatsrat und Abgeordneten. Verfasst wurde De Casteg – Ein Leben für die Anderen vom Tageblatt-Journalisten Robert Schneider und von John Castegnaros Sohn Guy, der die Idee dazu hatte. Während Guy Castegnaro im ersten Teil über den „privaten Casteg“ aus dem Nähkästchen plaudert und die Geschichte seiner Familie sowie den politischen Werdegang seines Vaters aus einem sehr persönlichen Blickwinkel erzählt, zeichnet Robert Schneider im zweiten Teil die „steile Karriere“ des „Naturtalents“ im Gespräch mit rund 20 Weggefährten nach – unter ihnen die CSV-Ehrenstaatsminister Jacques Santer und Jean-Claude Juncker sowie die früheren Gewerkschaftspräsidenten Jean Spautz, Marcel Glesener (beide LCGB), Josy Konz und Nico Wennmacher (beide FNCTTFEL). Die Biographie erhebt nicht den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, Archivarbeit haben die beiden Autoren kaum geleistet, allerdings hatten sie Zugriff auf John Castegnaros umfangreiche private Aufzeichnungen. Das Buch gewährt sehr persönliche Einblicke in das Leben und Schaffen des ersten OGBL-Präsidenten, der als einer der Väter des Einheitsstatuts und als Vollender des luxemburgischen Korporatismus gilt. Vervollständigt wird das mit vielen Bildern und einigen Zeichnungen ausgeschmückte 190-seitige Werk durch einen Anhang mit Zeitungsartikeln, Todesanzeigen und anderen Dokumenten.
Interessant sind aber vor allem die beiden Schriftbeiträge, die mit vielen Anekdoten über John Castegnaro und seine Weggefährten gespickt sind. Einen wichtigen Stellenwert im Buch nimmt der Bruderzwist zwischen John und seinem älteren Bruder Mario Castegnaro ein. Nach dem frühen Tod des Vaters hat die Mutter Léontine ihre drei Kinder alleine aufgezogen. Die Familie habe plötzlich ohne Einkommen dagestanden, Hunger gelitten und sei auf die Hilfe der Caritas angewiesen gewesen, berichtet Guy Castegnaro. Das Verhältnis zwischen John und seinem im Januar 2022 verstorbenen Bruder Mario, der eigentlich Gabriel hieß, war stets „sehr angespannt“. Guy Castegnaro führt diese Spannungen auch auf Marios Wutausbrüche zurück, die häufig zu Streit geführt hätten. Während Mario die Tarifverhandlungen in der Stahlindustrie leitete – damals einer der prestigeträchtigsten Jobs beim LAV –, wurde John 1970 zum Tarifverhandlungssekretär für die in der reinen Arbeitergewerkschaft bis dahin eher zweitrangige Mittel- und Kleinindustrie, das Baugewerbe und den öffentlichen Dienst ernannt. Weil die Gesellschaft in den 1970-er Jahren sich aufgrund der Stahlkrise und damit zusammenhängenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen jedoch strukturell veränderte, verlor der LAV an Mitgliedern und an Bedeutung. Um dem entgegenzuwirken, musste die Gewerkschaft sich für Beamte aus dem Privatsektor und dem öffentlichen Dienst öffnen.
Robert Schneider beschreibt die Bestrebungen des LAV, durch Fusionen mit den anderen Syndikaten eine Einheitsgewerkschaft für alle Beschäftigten zu gründen, ausführlich. Zeitzeugen wie der langjährige FEP-Präsident und spätere OGBL-Generalsekretär Jos Kratochwil berichten, dass diese Bestrebungen schon in den 1960-er Jahren unter Mathias Hinterscheid begonnen, von Antoine Weiss maßgeblich vorangetrieben und von John Castegnaro, der 1976 LAV-Generalsekretär wurde, abgeschlossen worden seien. Allerdings scheiterte der LAV mit seinen Plänen, denn LCGB, Landesverband und NGL entschieden sich schließlich gegen den Zusammenschluss, die Aleba spaltete sich von der FEP ab und wurde eigenständig. Durch die Integration von großen Teilen der FEP und des Lehrersyndikats FGIL war die neue Gewerkschaft OGBL jedoch wesentlich stärker als ihre Vorgängerorganisation LAV. John Castegnaro wurde 1979 ihr erster Vorsitzender. Während seiner 25-jährigen Präsidentschaft habe sich die Zahl der OGBL-Mitglieder „von 22.000 auf rund 50.000“ verdoppelt, schreibt Schneider, ohne jedoch auszuführen, wie dieser Zuwachs genau zustande kam. Er hängt wohl auch mit Castegnaros Bemühungen um die Aufnahme von Grenzgänger/innen und Arbeitsmigrant/innen zusammen. Während der potugiesischstämmige OGBL-Mitarbeiter Carlos Pereira bestätigt, „Casteg“ sei sich damals im Klaren gewesen, „dass portugiesische Einwanderer für den luxemburgischen Arbeitsmarkt immer wichtiger werden würden“, wird den Frontalieren im Buch vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt.
Vielleicht spannender als der gewerkschaftliche Werdegang John Castegnaros und die Vorgeschichte zur Gründung des OGBL, die in anderen gewerkschaftseigenen Publikationen bereits ausführlich behandelt wurde, sind die persönlichen Details, die die Leser/innen über die Protagonist/innen von De Casteg erfahren. Etwa, dass Mario Castegnaros große Leidenschaft italienische Opern waren, er Pavarotti liebte und deshalb mit seiner Frau regelmäßig nach Italien reiste. Oder dass Hi-Fi-Geräte seine zweite Leidenschaft waren, er „stets alle neuesten Modelle von Schallplattenspielern und später CD-Playern sowie alle möglichen Film- und Fotokameras“ besaß, während sein vermutlich nach dem Tarzan-Darsteller Johnny Weissmüller benannter Bruder „nichts, noch nicht einmal kaputte Elektrogeräte“ wegwerfen konnte. Vielleicht auch, dass Mario, der immerhin Direktor der Arbeiterkammer, Präsident des Wirtschafts- und Sozialrats und 1999 kurzzeitig Abgeordneter war, es nur schwer ertragen konnte, dass 2013 in Oberkorn eine Straße nach seinem Bruder benannt wurde.
Guy Castegnaros persönliche Erinnerungen (er schreibt über sich in der dritten Person) an seinen Vater sind zum Teil sehr emotional geprägt, manchmal klingen sie wie eine persönliche Abrechnung mit dessen politischen Weggefährten. So führt er die Beteiligung von John Castegnaro an der Gründung von Initiativen wie dem Pflegedienst Help oder dem Pflegeheim Elysis auf die „katastrophalen Bedingungen“ in dem Heim zurück, in dem Castegnaros Mutter ihre letzten Lebensjahre verbrachte, was seinen Vater sehr traurig gemacht habe. Er erzählt, dass er „weder Armut noch Elend“ ertrug und „nie gefühls- oder gar tatenlos an Bettlern, bedürftigen Kindern oder Erwachsenen im In- und Ausland vorbeigehen“ konnte. Und, dass er „unter der latenten Fremdenfeindlichkeit“, gelitten habe. „Mehr als einmal sei er als ‚Mafioso‘ beschimpft“ worden, schreibt Guy Castegnaro, ein Vorwurf, der aber möglicherweise nicht nur auf seine italienischen Wurzeln zurückzuführen war, wie die folgende Passage zeigt: „Beim Schlendern durch die Escher Hauptgeschäftsstraße wurde offensichtlich, wie bekannt und vor allem wie beliebt er war. Ständig wurde er gegrüßt und stets grüßte er zurück oder blieb sogar stehen, um sich die Sorgen des ein oder anderen anzuhören. Er holte dann ein Stück Papier und einen Stift aus seiner Tasche, schrieb die Anliegen auf und konnte den betroffenen Personen oftmals helfen. Auf diese Weise griff er vielen Menschen bei der Arbeitssuche oder einem Problem mit ihrer Rente unter die Arme. Einige waren ihm ihr Leben lang dankbar und zeigten sich erkenntlich.“
Als der noch in der Léierbud der Arbed ausgebildete Arbeiter John Castegnaro 2004 als OGBL-Präsident zugunsten des Lehrers Jean-Claude Reding zurücktrat und sein Amt im Staatsrat schon 2003 nach 18 Jahren hatte niederlegen müssen, schlug er eine politische Karriere ein. Bei den Kammerwahlen 2004 wurde er nur Fünfter auf der Südliste der Sozialisten, angesichts seiner Popularität ein enttäuschendes Resultat. Guy Castegnaro macht dafür Mars Di Bartolomeo verantwortlich, der ihn zu der Kandidatur überredet hatte. Während des LSAP-Kongresses nach den Koalitionsverhandlungen habe Di Bartolomeo „Casteg“ vor den LSAP-Delegierten „bloßgestellt und sehr scharf kritisiert“, weil dieser sich kritisch zu einer Koalition mit der CSV geäußert hatte. Daraufhin sei sein Vater ausgepfiffen und ausgebuht worden, was ihn bis zu seinem Tod sehr belastet habe. Guy Castegnaro erhebt noch weitere Vorwürfe an die Spitzenkandidaten der Düdelinger LSAP, für die sein Vater „zur Bedrohung“ geworden sei. Deshalb hätten sie (Alex Bodry und Mars Di Bartolomeo) den Düdelinger Wählern ans Herz gelegt, dem „LSAP-Kandidaten aus Rümelingen“ keine Stimme zu geben. Aus den Notizen seines Vaters gehe zudem hervor, „wie die damalige LSAP-Spitze sich regelrecht während der Koalitionsverhandlungen bei Juncker und Co. anbiederte, um unter allen Umständen eine Koalition mit der CSV zu bilden. Vor allem Jean Asselborn und Alex Bodry wollten unter keinen Umständen auf einen Ministerposten in der zukünftigen Regierung verzichten“, schreibt Guy Castegnaro, um zu schlussfolgern: „Im Gegensatz zu seiner Gewerkschaftswelt kamen in der Politik die unehrlichsten und skrupellosesten Gegner aus den eigenen Reihen.“
Im zweiten Teil des Buchs relativiert Mars Di Bartolomeo im Gespräch mit Robert Schneider diese Vorwürfe. Hintergrund des Streits auf dem LSAP-Kongress sei die Finanzierung der „Mammerent“ gewesen; als er Sozialminister wurde, habe er sich geweigert, diese über die Rentenkasse zu finanzieren – obwohl es so im Koalitionsabkommen festgehalten war –, danach sei der Streit beigelegt gewesen. John Castegnaros „weniger gutes“ Wahlergebnis in Düdelingen (er wurde dort immerhin Sechster) sei auf die Schließung der Düdelinger Walzstraße zurückzuführen: Mit Arcelor (bei der John Castegnaro Mitglied im Verwaltungsrat war) habe der OGBL 2004 ein Abkommen unterzeichnet, mit dem weder die Belegschaft noch die Gemeindeführung einverstanden war, woraufhin der Düdelinger LSAP-Schöffenrat mit seinem Bürgermeister Di Bartolomeo eine Protestkundgebung veranstaltet habe.
Anders als mit seinen Parteifreunden von der LSAP hatte John Castegnaro mit dem früheren CSV-Premierminister Jean-Claude Juncker ein „respektvolles, wenn auch kompliziertes Verhältnis“. Zeitweise telefonierten sie mehrmals wöchentlich oder gar täglich miteinander, wie Juncker Robert Schneider erzählt, und sie hätten eine „tugendhafte“ Absprache getroffen: Vor Castegnaros öffentlichen Erklärungen zu bestimmten Themen habe er Juncker über deren Inhalt informiert, während dieser sich vor jeder Erklärung zur Lage der Nation lange und intensiv mit dem OGBL-Präsidenten unterhalten habe. Umso größer sei „Castegs“ Enttäuschung gewesen, dass Jean-Claude Juncker sich während der letzten Monate seines Lebens nicht bei ihm gemeldet habe, schreibt Guy Castegnaro: „Vergebens wartete der todkranke Casteg monatelang auf Junckers Anruf, der genauestens über seinen kritischen Gesundheitszustand Bescheid wusste. Ein paar Tage vor seinem Tod erschien plötzlich der Name Juncker auf dem Handydisplay, doch Casteg hatte weder Lust noch die nötige Energie, um mit ihm zu reden, und ging nicht ans Telefon. Junckers letzter Anruf kam zu spät.“
Mit sich selbst geht Guy Castegnaro indes weniger hart ins Gericht. So beteuert er im vorletzten Kapitel seines Erfahrungsberichts: „Als sein Sohn Guy, in der Zwischenzeit Fachanwalt für Arbeitsrecht, entschied, nur noch Arbeitgeber zu beraten und zu verteidigen, war Casteg keineswegs empört oder verärgert. Für ihn war wichtig, dass sein Sohn seine Arbeit stets ehrlich, loyal, verantwortungsbewusst und mit einem Höchstmaß an Integrität ausübt.“