Cringe „Ein provokativer Zeitgenosse könnte anmerken, dass es bei den kommenden Wahlen anscheinend darum geht, wer unter dem OGB-L Regierung spielen kann“, analysiert Chris-tian Reuter, stellvertretender Generalsekretär der Handwerkerföderation, in seinem Leitartikel in der Februar-Nummer der Verbandszeitschrift D’Handwierk die rezenten politischen Entwicklungen. Mit „provokativer Zeitgenosse“ meint er vielleicht seinen Generalsekretär Romain Schmit, der das letzte Wochenende damit verbrachte, an seinem Rechner Memes von OGBL-Plakaten zu basteln, um die Gewerkschaftskampagne mit „geistreichen“ Slogans wie „Mir sen deck Nulle-kackerten“ oder „Mir maachen d’Wirtschaft futti“ auf Twitter zu diskreditieren. Seine Freunde, UEL-Präsident Michel Reckinger und Jean-Jacques Rommes, Vize-Präsident des Wirtschafts- und Sozialrats, würdigten zwei der drei peinlichen Tweets wohlwollend mit einem Like. Im neokorporatistischen Luxemburg werden Sozialkonflikte nicht physisch auf der Straße, sondern verbal in den Medien und seit einigen Jahren zusehends in den sozialen Netzwerken ausgetragen.
Vor Tripartite-Sitzungen sind Balz- und Machtkämpfe nicht ungewöhnlich. Schließlich wollen die Sozialpartner sich im Vorfeld positionieren, um die öffentliche Meinung zu ihren Gunsten zu beeinflussen. Wenn am heutigen Freitag Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände sich mit der Regierung auf dem Gelände von Schloss Senningen treffen, wird jedoch soviel gar nicht auf dem Spiel stehen. Eigentlich geht es lediglich um die Modalitäten und die Dauer der im letzten Tripartite-Abkommen beschlossenen staatlichen Kompensation der vom Statec für den Herbst prognostizierten Indextranche. Sowie um eine eventuelle Verlängerung der Energiepreisbremse über den 31. Dezember hinaus und die staatlichen Beihilfen für Betriebe, für die die EU-Genehmigung ebenfalls Ende des Jahres ausläuft. Ob es dafür eine Tripartite gebraucht hätte?
Dieselbe Frage stellt sich für die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation, die OGBL, LCGB und CGFP vor zwei Wochen geschlossen forderten. Das Patronat hat wenig Interesse daran, die Anpassung zu verhindern. Die Regierung muss darüber entscheiden, ob sie das möchte, und wenn ja, wie sie es umsetzen will. DP-Finanzministerin Yuriko Backes hatte die von den Gewerkschaften gewünschte rückwirkende Anpassung der Steuertabelle für die letzten acht Indextranchen eigentlich schon ausgeschlossen. In ihrer Haushaltsrede Mitte Oktober meinte sie, massive Steuererleichterungen kämen einem „finanzpolitischen Harakiri“ gleich; noch vor zwei Wochen sagte sie im RTL Radio, eine Anpassung der Steuertabelle sei zurzeit unverantwortlich und sprach sich stattdessen für gezielte Steuerkredite aus. Die seien – im Gegensatz zu „strukturellen“ Maßnahmen – nämlich zu finanzieren mit den 546 Millionen Euro an Mehreinnahmen, die der Staat aus der Lohnsteuer bezieht und die wegen der kalten Progression höher als erwartet ausfielen. Würde die Steuertabelle an die Inflation angepasst, wäre der „Sputt“ künftig wesentlich geringer. Deshalb gab es in der Regierung eine Übereinkunft darüber, in unsicheren Zeiten wie diesen keine strukturelle Reform durchzuführen, sondern zeitlich begrenzte Steuerkredite zu beschließen, die den Staatshaushalt nicht dauerhaft belasten. Die neuesten Konjunkturprognosen des Statec sagen zwar ein Wirtschaftswachstun von 2,2 (2023) und 3,2 Prozent (2024) voraus, doch die geopolitische und wirtschaftliche Lage bleibt weiter angespannt.
Wahlkampfgetöse Umso überraschter waren die Koalitionspartner, als die Finanzministerin am Montag in einem Interview mit Le Quotidien verkündete, sie habe sich aus Prinzip nie gegen eine komplette Anpassung der Steuertabelle ausgesprochen und sei offen, über alles zu reden. Der frühere Vizepremierminister Dan Kersch (LSAP) nutzte diese Gelegenheit gleich für sich aus: Im RTL Radio zeigte er sich am Montag davon überzeugt, „dass een d’DP nach ëmgestëmmt kritt, fir mat op de Wee vun enger struktureller Entlaaschtung ze goen“. Von ihren Partei- und Ministerkolleg/innen wurde Backes daraufhin zurückgepfiffen, was dazu führte, dass sie an den Bipartite-Gesprächen am Dienstag nur schmollend teilnahm.
Kerschs Parteipräsidentin und Fraktionskollegin Francine Closener hatte schon vergangene Woche im Radio 100,7 erzählt, die LSAP wolle sich in der Diskussion um Steuererleichterungen nicht mit zeitlich begrenzten Steuerkrediten zufrieden geben. Da Vizepremierministerin Paulette Lenert und Wirtschaftsminister Franz Fayot innerhalb der Regierung jedoch gegenteilige Positionen vertreten und bei den Gesprächen am Dienstag so taten, als seien sie von der Forderung der Gewerkschaften völlig überrascht, müssen Aussagen wie die von Kersch und Closener als Wahlkampfgetöse abgetan werden.
Es liegt vor allem an den bevorstehenden Wahlen, dass die Tripartite von heute überhaupt zustande kommt – und das nicht nur, weil das aktuelle Abkommen am 31. Dezember ausläuft. Einerseits bietet die Tripartite dem Premierminister und den beiden anderen „designierten“ Spitzenkandidatinnen Paulette Lenert (LSAP) und Sam Tanson (Grüne) die Gelegenheit, sich medienwirksam als Krisenmanager/innen zu inszenieren (Tanson durfte bei der Bipartite am Dienstag in Abwesenheit von Vizepremierminister François Bausch an der Seite von Xavier Bettel sitzen). Andererseits sind die Koalitionspartner nur noch mit sich selbst beschäftigt und derart gespalten, dass sie es kaum noch schaffen, gemeinsame politische Entscheidungen zu treffen.
Im Regierungsrat am Mittwoch konnten sie sich nicht einmal darauf einigen, ob sie überhaupt mit den Gewerkschaften über die Anpassung der Steuertabelle an die Inflation verhandeln wollen, geschweige denn auf welcher Grundlage. Heute Morgen, unmittelbar vor Beginn der Tripartite, wollen die Minister/innen sich erneut treffen. Von den Fraktionsvorsitzenden der drei Mehrheitsparteien äußerte sich am Mittwoch lediglich Josée Lorsché (Grüne) auf Land-Anfrage zu den Verhandlungen. Die beiden anderen wollten sich offensichtlich nicht die Finger verbrennen: Gilles Baum (DP), immerhin Vorsitzender des parlamentarischen Sonderausschusses Tripartite, lehnte ein Gespräch ab, da er nicht wisse, was er sagen solle, weil er bei den Gesprächen ja nicht dabei sei; LSAP-Fraktionspräsident Yves Cruchten weilte diese Woche in Armenien und bekam „nicht viel mit“.
Verantwortung Die Regierung möchte am Freitag die politische Verantwortung an die Sozialpartner abgeben. Die haben offiziell kaum Forderungen. Damit, dass der Energiepreisdeckel verlängert wird, sind sowohl Arbeitgeber als auch Gewerkschaften einverstanden. Ob um zwei Monate oder vier, ist ihnen im Prinzip egal. Die UEL fordert, dass die Durchführung und Dauer der bereits im September vereinbarten staatlichen Kompensation der „dritten“ Indextranche vom Herbst 2023 geklärt wird. Eigentlich sollte die Regierung diese Frage in einer Bipartite mit den Arbeitgebern beantworten, genau wie sie mit den Gewerkschaften in einer Zweierrunde über Bedingungen und Umfang einer möglichen Anpassung der Steuertabelle an die Inflation verhandeln müsste. Es sei denn, die Regierung möchte alle Verhandlungspartner an einen Tisch bekommen, um als Gegenleistung für die strukturelle Reform der Steuertabelle die dritte Indextranche zu opfern oder zu verschieben. In diesem Fall würde sie die Unterstützung der Patronatsverbände benötigen. Weil es politisch unklug wäre, zu diesem Zeitpunkt schon eine Grundsatzdebatte über den Index zu entfachen, ist dieses Szenario aber unwahrscheinlich.
Zum politischen Showdown wird es wegen der Kammerwahlen im Oktober und der Sozialwahlen Anfang 2024 noch früh genug kommen. „La question de l’indexation des barèmes fiscaux n’est en fait qu’un sujet périphérique. Le sujet central, celui que notre sens des responsabilités devrait nous conduire à poser dans le débat public en cette période de forte inflation, c’est bien l’indexation automatique et intégrale des salaires“, schreibt der Direktor der Handelskammer, Carlo Thelen, diese Woche in seinem Blog. Weil der Index die Lohnunterschiede verstärke, hatte die Handelskammer in ihrem vor drei Wochen veröffentlichten Forderungskatalog für die Kammerwahlen vorgeschlagen, nur noch eine Tranche jährlich und den Index bis zum vierfachen Medianeinkommen voll und ab diesem Betrag degressiv auszubezahlen. Helfen würde das vor allem dem Banken- und Finanzplatz, wo hohe Gehälter gezahlt werden, nicht aber den kleinen Handwerks- und Einzelhandelsbetrieben, die laut Romain Schmit über 95 Prozent aller Betriebe in Luxemburg ausmachten. Schmit legitimierte diesen Widerspruch am Dienstag im Radio 100,7 mit dem Argument, dass die kleinen Handwerker sich mit den großen Unternehmen aus der Finanz- und Fondsindustrie solidarisch zeigten, weil sie es seien, die dafür sorgten, dass „d’Musék heiheem iwwerhaapt nach spillt“. Trotzdem revidierte die Handelskammer in dieser Woche ihren Deckelungs-Vorschlag und Thelen forderte, den Index nur noch bis zum anderthalbfachen Medianeinkommen voll, bis zum vierfachen über einen Pauschalbetrag und bis zum fünffachen degressiv auszuzahlen, wie RTL ausführlich berichtete.
Die Arbeitnehmerkammer CSL verschickte vor einer Woche eine Newsletter, in der sie Thelens Behauptung widerlegt. Dass die hohen Löhne in den vergangenen zehn Jahren wesentlich schneller gestiegen sind als die niedrigen, liege nicht am Index, sondern daran, dass Angestellte mit höheren Einkommen mehr individuelle Verhandlungsmacht gegenüber ihrem Arbeitgeber hätten als Beschäftigte mit niedrigen Löhnen, schreibt die CSL. Höhere Einkommen in Niedriglohnsektoren seien daher nur über Tarifverträge zu erreichen. Der Index sei nicht die Ursache für den Anstieg der Lohnunterschiede.
Der LCGB, zweitstärkste Kraft in der Arbeitnehmerkammer, scheint eher die Position der Handelskammer zu teilen. Wie die belgische Tageszeitung L’Avenir berichtet, sagte LCGB-Präsident Patrick Dury bei der Generalversammlung der Commission des frontaliers belges LCGB-CSC Ende Januar in Arlon: „L’indexation des salaires profite un peu aux bas et moyens salaires et beaucoup aux plus riches. Il va falloir prendre en compte et changer ces inégalités qui ne font que croître.“ Schließlich teilte Dury noch gegen die CGFP aus, die mit dem Gehälterabkommen ihr Wahlgeschenk bereits an Weihnachten erhalten habe. Sowohl OGBL als auch LCGB sind schon seit Wochen fleißig auf der Suche nach Kandidat/innen für die Sozialwahlen. Der OGBL hat nach den Karnevalsferien eine große öffentliche Kampagne lanciert, in der die Gewerkschaft sich als alleinige Verteidigerin des Indexmechanismus inszeniert. Sie basiert auf der Verweigerungshaltung des OGBL, als einzige der drei national repräsentativen Gewerkschaften das Tripartite-Abkommen vom März 2022 zu unterzeichnen, weil es die Verschiebung einer Indextranche beinhaltete. Einer Modulierung des Index oder der erneuten Verzögerung einer Tranche könnte der OGBL demnach unmöglich zustimmen.
CSV-Staat Auch die politischen Parteien werden sich in ihren Wahlprogrammen zum Index positionieren müssen. Manche Spitzenkandidat/innen haben das in den vergangenen Monaten bereits getan. Der Premierminister meinte im Neujahrsinterview mit RTL Télé, eine breite Diskussion über den Index zu führen, dürfe kein Tabu sein. Genau wie Paulette Lenert, die schon bei der letzten Tripartite das schlechte Gewissen plagte, nicht etwa weil sie fast das Siebenfache des Medianeinkommens verdient, sondern weil 2,5 Prozent von 24 000 mehr ergeben als 2,5 Prozent von 3 600. Die Grünen haben aus ihrer Sympathie für eine Deckelung noch nie einen Hehl gemacht.
Vielleicht ist die Diskussion über den Index aus wahltaktischen Gründen tatsächlich notwendig. Für die DP bestimmt und vielleicht auch für die zunehmend im Mittelstand um neue Wähler/innen buhlenden Sozialisten. Denn die Arbeitgeber scheinen zu ihrem historischen Alliierten DP immer mehr auf Distanz zu gehen und sich der CSV anzunähern, für die mit dem früheren Handelskammer-Präsidenten Luc Frieden nun einer von ihnen als Spitzenkandidat antritt. UEL-Präsident Michel Reckinger hatte schon während der letzten Tripartite im September in einem Paperjam-Interview vom patriarchalen Führungsstil der „Visionäre“ Pierre Werner und Jacques Santer geschwärmt. Und auch Christian Reuter von der Handwerkerföderation trauert inzwischen dem CSV-Staat nach: „Über die Juncker-Jahre gäbe es auch viel zu sagen, aber damals gelang es den Regierungen, sich die politische Lufthoheit zu sichern und die eine oder andere unpopuläre Entscheidung zu treffen, wenn es zum Wohl des Ganzen war“, schreibt er in seinem Leitartikel. „Damals“ war es vor allem Luc Frieden, der die unpopulären Entscheidungen traf.