Wie viel „Luft zum Atmen“ braucht ein Grieche? Die Luxemburger Regierung will sich da nicht so genau festlegen

Brieffreunde

d'Lëtzebuerger Land vom 27.02.2015
Der griechische Sieg ist semantischer Natur. Keine vier Wochen dauerte es, bis das konservativ dominierte Europa die neue linke Regierung in Athen in die Knie gezwungen hatte. Yanis Varoufakis, Finanzminister, Wirtschaftsprofessor und Rockstar, konnte weder ein Ende des verhassten Hilfsprogramms, noch einen während einer internationalen Schuldenkonferenz verhandelten Schuldenschnitt, weder einen Überbrückungskredit, noch eine Senkung des primären Haushaltsüberschusses verhandeln, den Griechenland vor dem Schuldendienst erreichen muss. Mit der Einigung der Eurogruppe am Freitag – vorher meinte der Luxemburger Finanzminister Pierre Gramegna (DP), „beide Seiten“ müssten „Wasser in ihren Wein gießen“, ohne auszuführen, was das konkret heißen solle – hat sich außer dem Vokabular nicht viel verändert. Auch deshalb ging es am Dienstag nach den zähen Tauziehen darum, ob Griechenland eine Verlängerung des zweiten Hilfsprogramms zu welchen Bedingungen beantragen würde, plötzlich ganz schnell, als die Liste der griechischen Reformvorschläge vorlag. Binnen Stunden hatten die „Institutionen“, formerly known as Troika, der Dreierbund aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF), die Reformliste für „sufficiently comprehensive“ gehalten, obwohl darin keine quantitativen Angaben über die Wirkung der Maßnahmen enthalten sind. Danach brauchten die Finanzminister der Eurogruppe nicht einmal die für ihre Telefonkonferenz veranschlagten eineinhalb Stunden, um grünes Licht für eine Verlängerung des Programms um vier Monate zu geben. Beantragt hatten die Griechen eigentlich eine sechsmonatige Erweiterung des „laufenden Arrangements“ – von Programm wollen sie nicht mehr reden –, um in der Zwischenzeit technische Arbeiten für einen „Kontrakt für Aufschwung und Wachstum“ zu starten. Denn dass dem aktuellen Arrangement ein weiteres folgen muss, das Griechenland erlaubt, eine Insolvenz abzuwenden und tatsächlich wieder zu wachsen, das schließt deutschen Medienberichten auch Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) nicht mehr aus, der in den vergangenen Wochen die Anti-Syriza-Front anführte und der frisch gewählten Regierung ein „Rendezvous mit der Realität“ versprach. Die schnelle Zustimmung der Institutionen und Euroländer am Dienstag konnte auch deshalb erfolgen, weil die Reformvorschläge über ein solches Rendezvous hinausgehen und in neoliberalen Luxemburger Kreisen Erregung auslösen dürften. Statt dass der griechischen Regierung Spielraum gewährt wird, ihre eigene Politik durchzusetzen, solange sie die übergeordneten Haushaltsziele einhält und verspricht, unter den abgemachten Bedingungen ihre Schulden zurückzuzahlen, muss Syriza die unter dem Begriff „Strukturreformen“ zusammengefassten wirtschaftsliberalen Maßnahmen durchführen. Eine kleine Kostprobe: „modernizing the income tax code and eliminating from it tax code exemp­tions and replacing them, when necessary, with social justice enhancing measures“. In Luxemburg nennt man das „große Steuereform“, und wenn die Abattements abgeschafft werden, gibt es für schlechter gestellte Haushalte sozial gestaffelte, selektive Sozialtransfers. „Review and control spending in every area of government spending (e.g. education, defense, transport, local government, social benefits). Work toward drastically improving the efficiency of central and local government administered departments and units by targetting budgetary processes, management restructuring, and reallocation of poorly deployed resources.“ Pierre Gramegna hat dafür den Begriff „kopernikanische Wende“ geprägt und kann mit Yanis Varoufakis Erfahrungswerte teilen, ob sich die Honorare von McKinsey bezahlt machen oder nicht. „Continue to work on administrative measures to unify and streamline pension policies and eliminate loopholes and incentives that give rise to an excessive rate of early retirements throughout the economy and, more specifically, in the banking and public sectors.“ Die großzügigen Vorruhestandsregelungen sind den Arbeitgebervertretern in Luxemburg schon lange ein Dorn im Auge – außer wenn sie ihnen erlauben, in ihren eigenen Betrieben Personal abzubauen. „Phasing in a new ‚smart’ approach to collective wage bargaining that balances the needs for flexibility with fairness. This includes the ambition to streamline and over time raise minimum wages in a manner that safeguards competitiveness and employment prospects. The scope and timing of changes to the minimum wage will be made in consultation with social partners and the European and international institutions, including the ILO, and take full account of advice from a new independant body on whether changes in wages are in line with productivity development and competitiveness.“ Man stelle sich mal vor, Lionel Fontagné hätte die Autorität zu bestimmen, ob die Löhne in Luxemburg steigen dürfen oder nicht. Im allerletzten Abschnitt seines Briefes an den „Dear President of the Eurogroup“ geht Varoufakis noch in wenigen Zeilen auf die humanitäre Krise ein, die er mit „highly targeted non-pecuniary measures (e.g. food stamps)“ bekämpfen will, und mit der Auswertung eines Pilotprojektes für ein garantiertes Mindesteinkommen, während gleichzeitig sichergestellt wird, dass „its fight against the humanitarian crisis has no negative fiscal effect“. Ausgerechnet IWF-Chefin Christine Lagarde, die als französische Finanzministerin 2010 gefordert hatte, „could those with surpluses do a little something? It takes two to tango. It cannot just be about enforcing deficit principles“, damit die Deutschen ihre Binnennachfrage ein wenig ankurbeln würden, um den Defizitländern zu helfen, findet die griechischen Vorschläge jetzt zu dürftig. In ihrem Brief an „Dear Jeroen“, schrieb sie am Dienstag, es fehle an „klaren Engagements“ in Bezug auf die wichtigsten Punkte. Am gleichen Tag meldete das Bundesamt für Statistik den größten deutschen Hauhaltsüberschuss seit 2000: 18 Milliarden Euro für 2014. Dass man sich trotz Bedenken seitens des IWF und auch der EZB darauf geeinigt hat, den Griechen Aufschub zu gewähren – zumindest bis sie Details ihrer Reformen bis Ende April nachreichen – ist ein Hinweis darauf, dass ein Austritt eines Eurolandes aus der Währungsunion immer noch ein Horror­szenario ist, dessen unbekannte Schrecken niemand in der Realität über sich ergehen lassen will. Über die Folgen eines Grexit gesprochen hat die Luxemburger Regierung im Vorfeld der Verhandlungen in Brüssel laut Aussage von Wirtschaftsminister Etienne Schneider (LSAP) nicht, „weil wir meinen, dass es keine Option ist für Griechenland“. „Ihre Schulden“, fügt Schneider hinzu, „würden dadurch nicht geringer und noch schwieriger zurückzuzahlen, weil sie in Euro gezeichnet sind, während sie eine Drachme haben, die wenig wert ist. Deswegen ist es für uns keine Option, darüber zu diskutieren, weil wir nicht davon ausgehen, dass weder Griechenland, noch sonst ein Land das will.“ Ob es denn eine weise Verhandlungstaktik war, Griechenland ein Ultimatum zu stellen, was dazu führte, dass auch diejenigen, die bisher die Nerven behalten hatten, ihre Konten räumten, damit fast das griechische Bankensystem an den Rande des Kollaps trieben und dadurch beinahe ein Unfall-Grexit riskiert hätten, dazu will sich Schneider „nicht äußern“. Der Wirtschaftsminister, der in der Vergangenheit vor Kameras gerne den Schulterschluss mit dem französischen Ex-Ministerkollegen Arnaud Montebourg übte und dafür plädierte, dass die europäische Austeritätspolitik gelockert werde, wollte am Dienstag weder den Erklärungen zur Regierungsposition vorgreifen, die Finanzminister Pierre Gramegna der parlamentarische Finanz- und Haushaltskommission nachreichen soll. Noch wollte der studierte Volkswirt bewerten, ob die Auflagen der Kreditgeber bisher die Grundlage dafür geschaffen haben, dass sich Griechenland wieder eigenständig finanzieren kann. „Ich meine aber persönlich immer noch, dass man im Bezug auf die Auflagen und das Timing den Ländern die Luft geben muss, die sie brauchen, um sich zu erholen und ihnen entgegenkommen muss.“ Aber: „Ein Schuldenschnitt kann nicht in Frage kommen. Ich weiß nicht, wie wir den Luxemburgern erklären sollen, dass sie 500 Millionen aufbringen müssen, für Schulden, die die Griechen gemacht haben.“ So bleibt der Regierungskoalition die Haut näher als das Hemd, auch wenn die grüne Fraktions­chefin Viviane Loschetter vergangene Woche in einer Mitteilung bekräftigte, „Griechenland ist nicht alleine Schuld an der Euro-Krise und dennoch haben dessen Bürgerinnen und Bürger in den letzten Jahren auf sehr viel verzichten müssen“. Dass die CSV-Fraktion am Dienstag die Motion der linken Abgeordneten Justin Turpel und Serge Urbany für eine Debatte im Parlament nicht unterstützte, ist ein Hinweis darauf, dass sie die Situation ähnlich sieht. Auch sie mag vom Mitterrand-Effekt gehört haben – seit dem Wahlsieg von Syriza sollen die Einlagen in den Luxemburger Banken merklich angestiegen sein, weil vermögende Griechen ihre Euros vor dem Einsetzen eventueller Kapitalkontrollen außer Landes bringen wollten. Nach der angekündigten Abschaffung des Bankgeheimnisses dürfte der unerwartete Geldsegen bei den Banken nicht unwillkommen sein und auch vom wirtschaftsnahen Flügel der CSV begrüßt werden. Wie genau Pierre Gramegna, der bisher nur vage Äußerungen von einem „ersten Schritt“ und Vertrauensaufbau gemacht hat, vor den Parlamentariern Stellung nehmen wird, bleibt abzuwarten. Dabei würde sich die detaillierte Auseinandersetzung mit den Reformvorschlägen der Griechen durchaus lohnen. Relativ weit oben auf der Liste stehen neben wettbewerbsfördernden Maßnahmen die Bekämpfung der Korruption und: der Steuerhinterziehung. „Work toward creating a new culture of tax compliance to ensure that all sections of society, and especially the well-off, contribute fairly to the financing of public policies. In this context, establish with the assistance of European and international partners, a wealth database that assists the tax authorities in gauging the veracity of previous income tax returns.“ Infrastrukturminister François Bausch (déi Gréng) hatte am Samstag gegenüber Radio 100,7 noch im Bezug auf Griechenland bekräftigt: „Wenn ich ein Steuersystem habe, das nicht funktioniert, und wo die Mentalität in Griechenland ist, wo die Leute einfach am liebsten keine Steuern zahlen und sich an der Steuer vorbeidrücken, dann heißt das auch, dass strukturell im Staat etwas nicht funktioniert und deshalb müssen Reformen gemacht werden.“ Ob Luxemburg einer der internationalen Partner sein will, die den Griechen beim Prüfen der Richtigkeit der Steuererklärungen helfen, wenn sie auf der Suche nach nicht-deklarierten Vermögen in der Rue de la Congrégation vorbeischauen, oder ob das nicht ein wenig viel des „Wassers in den Wein“ wäre, würde durchaus Stoff für eine interessante Diskussion bieten. Ebenso, was die Regierung genau unter „Luft zum Atmen“ für die Griechen versteht – das bleibt, während Athen die Details der angekündigten Reformen ausarbeitet und eventuell Verhandlungen über einen „Kontrakt für Aufschwung und Wachstum“ unter neuen Bedingungen beginnen, weiterhin relevant.
Michèle Sinner
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