Charel Hary hält ein Nickerchen im Kassenraum seiner Autoscooter-Bahn. Seine Schwägerin Daniela Corbani nimmt das Geld von einer Oma entgegen, die zwei Fahrten für ihre Enkelin kauft. Dann weckt sie ihn. Im geräumigen Innenraum der Kasse steht eine Senseo-Kaffeemaschine, auf einem Stuhl liegt die Revue, von deren Cover RTL-Moderator LoÏc Juchem entgegenlächelt. Charel Hary, der bald in Rente gehen will, erinnert sich an die Fouer seiner Kindheit: „Heute gibt es ausgefallenere Spiele. Höher, schneller, bunter lautet die Devise.“ Als Kind zog er mit seinen Eltern im Wohnwagen von Kirmes zu Kirmes, um Süßwaren zu verkaufen und Schießbuden aufzustellen. An den jeweiligen Standorten – Mondorf, Remich, Echternach, Diekirch – ging Charel drei, manchmal vier Tage zur Schule. Schon früh half er im Familienunternehmen mit. Im Winter besuchte er die Schule in Arspelt, wo die Familie wohnte. Heute gibt es keine fahrenden Schaustellerfamilien mehr aus Luxemburg, Obwohl sie häufig unterwegs sind, sind sie mittlerweile das ganze Jahr über sesshaft.
Mit 18 Jahren ging Charel mit seiner eigenen Schießbude auf Tour, später kamen die Autoscooter hinzu. Heute besitzen er und seine Frau außerdem mehrere Süßwarenstände. Auf der Fouer arbeiten 14 Personen für ihn, sechs davon sind fest angestellt. Seine Tage sind lang: „Nachts gegen zwei fahren wir nach Hause nach Buschrodt. Wir gehen dann allerdings nicht sofort schlafen, sondern zählen die Kasse.“ Er sei kein Vielschläfer, morgens gegen neun seien sie wieder auf dem Limpertsberg, um die Verkaufsstände und Autoscooter zu reinigen. „Wien dee Beruff hei mécht, däerf d‘Stonnen net zielen. Et muss een d‘Kiermes am Blutt hunn.“ Die Schwägerin hilft nur gelegentlich an der Kasse des Autoscooters aus. Ihr gefällt die Atmosphäre, das Lachen der Kinder, die gute Laune, die man auf einer Kirmes erleben kann, sagt sie. Aber es sei nicht mehr so wie vor 15 Jahren, als sie begann, ihrem Schwager zur Seite zu Springen: „Der Andrang ist nicht mehr so groß. Auf der Fouer gibt es immer mehr After-Work-Partys und die Kinder stehen seltener im Mittelpunkt.“ Auch würden die Kunden ihr Geld zweimal umdrehen, bevor sie Tickets kaufen. Vor ihr kreisen sechs Kinder in neonfarbenen Knuppautoen und stoßen mit ihren Wagen zusammen. Die Eltern und Großeltern der Kinder stehen am Rand in der Sonne und winken ihnen zu. Es ist 15 Uhr. „Heute ist mehr los, weil es nicht regnet und es nicht zu heiß ist.“
Neben der Familie Hary stehen die luxemburgischen Familien Zellweger (mit dem Süßwarengeschäft Coné), Hülser (betreibt dieses Jahr auf dem Glacis einen Loona-Park) und Clement – dazu gleich mehr – in der Schausteller und Beschicker-Tradition. Daneben sind belgo-luxemburgische Familien hierzulande auf Kirmessen unterwegs, wie die Familie Pelzer (Betreiber des Pan-America-Kinderparcours) und Schmit aus Arlon, die den Take-Off besitzt und dieses Jahr auf der Fouer den Getränkestand Katy Coy aufgebaut hat. Bekannt ist zudem die belgo-luxemburgische Familie Vandervaeren, die Geschäftsführer von Jean La Gaufre. Jean-Marc Vandervaeren setzt sich gerne mit einer rot-weißen Pailletten-Jacke auf der Fouer und Facebook als Folklore-Charakter in Szene. In einem Interview mit RTL-Teleë sagte er, er habe noch nie in seinem Leben gearbeitet, seine Arbeit sei Urlaub. Er fällt zudem auf, weil er nicht besonders bescheiden auftritt – behauptet beispielsweise seine Tokyo-Waffeln, die er sich während einer Japanreise abgeschaut habe, würden von Japanern als dem Original überlegen betrachtet. Seine Großmutter war ähnlich direkt. In einem RTBF-Beitrag von 1979 bemängelte diese, Frauen würden nun auf ihr Gewicht achten, das sei schlecht fürs Geschäft. Die Namensnachfolge hat Jean-Marc Vandervaeren bei der Geburt seiner Söhne gesichert: Sie heißen Jean-Michel, Jean-David und Jean-Sébastien. Sein Großvater hieß Jean-Bapstiste, sein Vater heißt Jean-Paul, sein Bruder Jean-François. Ob einer seiner Kinder tatsächlich ins Waffelgeschäft einsteigen wird, ist allerdings noch nicht klar.
Charel Hary ist in fünfter Generation im Schaustellergeschäft tätig, bis ins 19. Jahrhundert hat der Historiker Steve Kayser seine Familie zurück verfolgen können. „Er kennt meine Familiengeschichte besser als ich. Ich bin nicht so nostalgisch“, kommentiert Charel Hary die Archiv-Recherche des Historikers. Seine Nachfolge ist gesichert; seine Tochter hat bereits begonnen seine Verkaufsstände weiterzuführen. Heute ist sie jedoch nicht auf der Fouer – sie bereitet den Schulbeginn mit ihren Kindern vor. Im Radio-Essentiel teilte Charel Hary stolz mit, dass seine Tochter ein Sekundarschulabschluss hat. Bildung ist der Familie wichtig, obwohl in ihrer Berufssparte keine formale Qualifikation erforderlich ist.
Steve Kayser hat in mehreren Publikationen herausgearbeitet, dass die Fouer im 19. Jahrhundert von der Industrialisierung beeinflusst wurde. Die Bedeutung mechanisch betriebener Karussells wuchs damals, sodass vermehrt Quereinsteiger in das Geschäft einstiegen, die sich an die neuen Techniken herantasteten. Die Familie Hary geht vermutlich auf diese Tradition zurück, meint der Geschichtslehrer gegenüber dem Land. In einer Publikation zeichnet Kayser nach, wie sich ab 1849 die Stadtverwaltung mit einem ungewöhnlich hohen Andrang konfrontiert sah und deshalb den Stadtarchitekten mit der Platzverwaltung beauftragte. Die politischen Krisen und die schwache Konjunktur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren überwunden. In der zweiten Hälfte blühte zudem eine Zeit intensiven naturwissenschaftlichen und technologischen Fortschritts auf: Es war die Zeit, in der Werner von Siemens die Dynamomaschine zur großflächigen Nutzung von Elektrizität entwickelte, Thomas Edison die Glühbirne erfand und Karl Benz motorisierte Fahrzeuge. 1892 zog die Fouer auf das Glacisfeld um. Im gleichen Jahr präsentierten die Brüder Lumière den Kinematografen und noch vor der Jahrhundertwende traf ein Wanderkino auf der Fouer ein. Das städtische Bürgertum und die ländliche Bevölkerung durfte sich über Gaukler und Muskelmänner wie Hercule Grün wundern oder den Cirque Requin besuchen, der neben dem Krimesplatz sein Zelt aufschlug. Man staunte über industrielle Neuerungen: landwirtschaftliche Maschinen und Erfindungen wurden auf der Fouer vorgeführt.
Bereits in den Jahrhunderten zuvor hatte sich die Fouer von einer Handelsmesse hin zu einem Unterhaltungsevent gewandelt, wie Steve Kayser in einem Sammelband analysiert. Da sich der Einzelhandel im Stadtzentrum etablierte und dieser nun Produkte anbot, die zuvor nur auf Jahrmärkten verkauft wurden, rückten Theaterdarbieten, Puppenspiele und Kuriositätenausstellungen im 18. Jahrhundert vermehrt in den Vordergrund. Das war zu den Anfangszeiten anders: Als Jang de Blannen, König von Böhmen und Graf von Luxemburg, 1340 einen achttägigen Jahrmarkt in Luxemburg-Stadt gründete, standen das Handwerk und der Handel im Vordergrund. Die Messe fand denn auch in der Nähe der Handwerker-Viertel außerhalb der Stadtmauern auf dem Heilig-Geist-Platz statt. Vor allem das Luxemburger Tuch wird damals als Qualitätsware gehandelt, das Händler aus dem Süden mit nach Antwerpen auf Herbstmessen nahmen. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wird der Markt auf Viehhandel erweitert. Rinder, Schafe, Ferkel, Pferde sind nun auf der Messe zu kaufen und da die Fouer auf den Agrarzyklus abgestimmt ist – sie findet nach der Ernte und vor der Weinlese statt – hatten die Bauern und Bäuerinnen Zeit sich auf dem Viehmarkt umzuschauen. Der Beginn des Jahrmarktes fällt jedes Jahr auf den 23. August, den Vorabend des Bartholomäus-Festes.
Auf der Terrasse der Friture Henriette erläutert Generalvikar Patrick Müller die religiösen Aspekte des Rummels. Seit 2001 ist er Fouer-Seelsorger, er hat das Amt von Emmanuel Reichling übernommen. „Kirmessen finden fast immer neben Kirchen und während des Kirchweihfestes statt, das auf den Jahrestag der Konsekration der Kirche festgelegt ist“, so Müller, der in weißem Hemd und weißem Kollar auf einer Bierbank sitzt. Zwischendurch kommt er mit einem ihm bekannten Bettler ins Gespräch und gibt ihm schließlich 10 Euro. An diesem Freitag organisiert er einen Gottesdienst für die Schaustellerfamilien, bei dem auch der verstorbenen Schausteller gedacht wird. Im Anschluss werden Blumen am Monument von Jang dem Blannen niedergelegt. „Einige luxemburgische Schaustellerfamilien sehe ich mehrmals im Jahr. Weil sie mich manchmal besser kennen als ihren Dorfpfarrer, rufen sie mich für Hochzeiten, Taufen oder Begräbnisse.“ Fast täglich geht Patrick Müller über die Fouer. Als Seelsorger spricht er mit den Schaustellern vor allem über kürzlich Verstorbene, Krankheiten und Schmerzen, aber auch über den anstehenden Papstbesuch und Personalprobleme. Er beschreibt ihre Religiosität als vergleichsweise lebendig. Ähnliches berichtet der reisende evangelische Pfarrer Thorsten Heinrich in einer Reportage im Domradio: Vieles sei unstet im Jahrmarktgeschäft, doch Gott reise mit und biete Beständigkeit. Charel Hary sagt seinerseits: „Wir sind nicht heiliger als der Papst, aber das Katholische gehört dazu.“ Als katholischer Priester führt Patrick Müller zeitweise ein in-sich-gekehrtes Leben, dennoch fühlt er sich auf dem lauten Rummelplatz zu Hause – es gebe eine Zeit zum Fasten und eine Zeit zum Feiern. „Das Feierliche ist Teil des Katholizismus.“
Steve Clement trägt ein schwarzes T-Shirt, hat stechend blaue Augen und schwarze Haare, die gepflegt nach hinten gekämmt sind. Wir sitzen in seiner Grill-Bar, der Pandorosa, die an ein texanisches Ranch-Flair anknüpft; Büffelhörner hängen über den Holztischen, Pferdesilhouetten dekorieren einige Tische. Letztes Jahr hat Patrick Müller den Stand mit einer Segnung eingeweiht. 1977 wurde Steve Clement geboren und er hat, wie Charel Hary, eine Kindheit in einer fahrenden Familie erlebt. Die ersten Jahre schlief er nachts ebenfalls auf der Fouer: „Wir Kinder sind abends im Wohnwagen eingeschlafen und es wäre verkehrt gewesen uns aufzuwecken, um zwei Kilometer zu fahren – nach Weimerskirch zu unserem Wohnsitz.“ Auf Limpertsberg ging er zeitweise in die Kindertagesstätte, die die Frau des ehemaligen Staatsministers Pierre Werner, Henriette Pescatore, für die Schausteller-Kinder gegründet hatte.
In seinen frühesten Erinnerungen sind der Break Dance und die Bayernkurve bereits fester Bestandteil der Fouer. „Damals gab es auch noch ein Karussell mit Ponys; ich habe mich immer gefreut, wenn ich mithelfen durfte, sie von der Wiese auf den Glacis zu führen.“ Seine Kirmeskind-Kindheit beschreibt er als „schéint Familieliewen“: auf dem Rummelplatz leitete seine Tante als Chefin zwei Entenstände, seine Großmutter backte Waffeln in der Schefferallee und seine Eltern betrieben das Scooby-Doo-Karussell. Seine Kindheit ist geprägt von einer frühen Selbstständigkeit und einem beständigen Kontakt zu beiden Elternteilen. Mit 24 besaß er sein eigenes Flugzeug-Karussell; später stieg er ins Brasserie-Geschäft ein und leitet heute die Pandorosa-Schenke. Seine neue Freundin ist dabei sich in ein Leben auf dem Kirmesplatz einzufinden. „Sie kommt nicht aus einer Schausteller-Familie,. Es ist nicht geschenkt, jemanden zu finden, der diesen Lebenstil mitmachen will.“ Seit er Kirmessen miterlebt, hat sich seine Arbeit gewandelt. Früher gab es in Luxemburg keine Weihnachtsmärkte, deshalb waren Fahrende bereits im Dezember damit beschäftigt ihre Fahrattraktionen zu reparieren oder neu anzumalen.
Obwohl das Geschäft noch bis Anfang Januar anhalten wird, werden etwa 60 Prozent der Einnahmen auf der Fouer erzielt. Charel Hary meint, Schausteller könnten gut von ihren Einnahmen leben, sie lägen über dem Mindestlohn; genauere Angabe macht er nicht. Allerdings lohne es sich nicht mit großen Fahrattraktionen auf Tournee zu gehen. Die Propeller, Schaukeln, Achter- und Geisterbahnen kosten um die drei Millionen Euro und es sei unwahrscheinlich, dass man als Luxemburger im Ausland an Stellplätze rankomme. Wer aber keinen Stellplatz hat, kann seine Ausgaben nicht ausgleichen. „Mit einer Autoskooter-Bahn ist man bei um die 500 000 Euro dabei“ erklärt er. Häufig werden Fahrgeschäfte und Schaubuden als Gebrauchtware gekauft oder an den Sohn oder die Tochter weitergegeben. Vor Fouerbeginn ist der Andrang groß, insgesamt 600 Bewerbungen gehen bei der Stadtverwaltung ein und rund ein Drittel darf sein Vergnügungs- oder Gastronomiegeschäft aufbauen.
Schlendert man von der Pandorosa mit der Menge Richtung Riesenrad, wummert links und rechts poppige Musik aus den Boxen; der Duft von gebrannten Mandeln, gebratenen Würsten und frittierten Pommes mischt sich in den Gassen auf dem 4,4 Hektar großen Gelände. Die Infinity-Schaukel rotiert in 65 Metern Höhe schreiende Jugendliche durch die Luft. Schließlich stößt man auf den Entenstand von Shirley Clement, der 25-jährigen Tochter von Steve Clement. Seit 2022 hat sie ihren eigenen Stand auf der Fouer. Mit zwölf hat sie nach der Schule bereits im Unternehmen ihrer Eltern ausgeholfen und wusste schon damals, dass sie in ihre Fußstapfen treten werde. „Es ist ein Privileg in einer Schausteller-Familie groß zu werden“, das sei nicht ordinär, die Stimmung auf den Kirmessen gut und man verkaufe Vergnügen. „Mir gefällt es, kein geregeltes Leben zu haben. Jeder Tag ist anders.“ Der Höhepunkt des Jahres sei die Fouer, das war als Kind schon so und auch heute. Shirley ist lässig, zugleich aber bestimmt. Mittlerweile hat sie zwei Entenspiele und eine Festangestellte, deren Einkommen sie sichern muss. Um nicht auf die Hilfe ihres Vaters angewiesen zu sein, hat sie zudem ihren Anhänger-Führerschein absolviert. Ihr Bruder Max betreibt eine Schießbude. Zur Polizei hingezogen hat es jedoch ihre jüngere Schwester Sheila. Trotzdem ist auch sie anwesend: Seit vergangenem Jahr patrouilliert sie durch die Gassen der Schueberfouer.
Während der Wandel der Arbeitswelt und Lebensabschnitt-Projekte zum Dauerthema werden, fallen Schausteller aus diesem Muster. Sie verbringen Zeit ihres Lebens auf dem Jahrmarkt, verbringen ihre Kindheit, ihre Freizeit und ihr Erwachsenenleben dort. Die Soziologin Daniela Schiek erläutert in einem Bericht der Universität Duisburg-Essen, dass sie auch hinsichtlich der Debatten über Work-Life-Balance nicht der Norm entsprechen: Fahrende zählen ihre Stunden nicht; Wochenende und Feierabende kennen sie nicht. Sie kennen auch kaum eine Trennung zwischen Privat- und Berufsleben. Und obwohl es eine Branche ist, in der kein Diplom verlangt wird, müssen sie viel können: Menschen unterhalten, Sicherheits- und Hygieneauflagen beachten, an Maschinen tüfteln, Anträge stellen, Waren einkaufen und das Gehalt für Personal auszahlen. Der Historiker Steve Kayser plädiert dafür, dass die Gesellschaft sich für den Erhalt dieses Erwerbszweiges offen zeigen soll: „Wenn Vereine Veranstaltungen organisieren, könnten sie bedenken, ob nicht auch Schausteller einbezogen werden könnten.“