Finanzaufsicht

Des Bankiers neue Weitsichtbrille

d'Lëtzebuerger Land vom 19.03.2009

„Die Arbeit muss sofort beginnen.“ Mit diesem Notruf endet der Bericht der so genannten de Larosière-Gruppe, benannt nach ihrem Vorsitzenden Jacques de Larosière, die im Auftrag der Europäischen Kommission Empfehlungen ausgearbeitet hat, wie man Lücken in der Regulierung der EU-Finanzmärkte schließen und die Finanzmarktaufsicht verbessern könne. Diesen Auftrag hat die Expertengruppe um den ehemaligen Chef der französischen Zentralbank und Direktor des Internationalen Währungsfonds erfüllt. Ende Februar legte sie einen 85 Seiten dicken Bericht vor, der 31 Empfehlungen enthält. Beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs die­ses Wochenende werden sich die Entscheidungsträger der EU damit auseinandersetzen, ob und in wie weit sie die Vorschläge der Gruppe zurückbehalten wollen, auch im Hinblick auf den G-20-Gipfel Anfang April in London. 

Dabei werden manche der Ideen wahrscheinlich eher Zustimmung finden als andere. Der Präsident der EU-Kommission José Manuel Barroso hat auf Basis des Berichtes bereits damit begonnen, neue Rechtsvorschriften auszuarbeiten, zum Beispiel, was die Eigenkapitalbestimmungen der Banken, eine höhere Transparenz der Derivatmärkte und auch die Gehälterpolitik in der Finanzbranche betrifft. Zudem soll bis Mitte April ein Direktivenvorschlag auf dem Tisch liegen, der Hedge- und Private-Equity-Fonds einen geregelten Rechtsrahmen geben soll. 

Wer sich an die Lektüre des Expertenberichtes traut, kann mit Genugtuung feststellen, dass die Empfehlungen vor allem auf einem Prinzip beruhen, nämlich dem der Rückbesinnung auf den „gesunden Menschenverstand“. So machen Larosière und Co. unter anderem auf folgende Missstände aufmerksam: Die Rating-Agenturen, die in den vergangenen Jahren undurchsichtige Finanzinstumente mit besten Bonitätsbewertungen versahen, aber auch die Manager der Banken, die in solche Papiere investierten, verstanden offensichtlich nicht ausreichend, welche Risiken sich hinter den verbrieften Schuldverschreibungen verbargen. Problematisch ist auch der Umstand, dass die Rating-Agenturen bisher von denjenigen bezahlt werden, die solche Instrumente zusammenstellen und verkaufen, nicht von den Käufern. So, als ob der Shampoo-Hersteller den Tüv bezahlen würde, damit er dem neuesten Haarpflegeprodukt ein „sehr gut“ ausstellen würde. Die Agenturen, wie Moody’s oder Fitch, hatten also kein Interesse daran, solchen Papieren eine schlechte Bewertung zu geben, weil ansonsten die Kunden auf der Suche nach der gewünschten Bestnote einfach zur Konkurrenz abgewandert wären. Die Experten schelten aber auch die Bankiers, die sich bisher zu sehr auf die Bewertungen der Rating-Agenturen, verlassen haben anstatt die Finanzprodukte, in die sie investierten, selbst zu überprüfen und sich eine eigene Meinung über deren Tauglichkeit zu bilden. 

Deshalb empfiehlt die Expertengruppe, künftig auch die Agenturen der Finanzaufsicht zu unterstellen. Deren Aufgabe soll es dann auch sein, zu überprüfen, wie gut sie ihre Arbeit machen, also wie oft sie sich in ihren Bewertungen irren. Ihre Bezahlung müsse künftig von den Käufern gewährleistet werden, nicht von den Verkäufern von Finanzprodukten. Den Bankiers empfiehlt die Arbeitsgruppe, ihre Brille zu putzen und sich die Produkte, die sie kaufen möchten, selbst wieder genauer anzusehen. Deswegen müsse in Zukunft sichergestellt werden, dass die Entscheidungsträger der Kreditinstitute tatsächlich für ihre Aufgaben qualifiziert sind. Und die Risikomanager in den Banken auf der oberen Entscheidungsebene ein angemessenes Mitspracherecht haben, dazu gehöre eine ebenso angemessene Bezahlung. Kurz gesagt: Diejenigen, die versuchen, das Risiko für ihre Banken einzudämmen, sollen genauso gut verdienen, wie diejenigen, deren Aufgabe es ist, Risiken einzugehen. Das klingt einleuchtend, der ausdrückliche Hinweis der Experten deutet allerdings darauf hin, dass dem bisher nicht so war. 

Damit ist es aber noch nicht getan mit den einleuchtenden Hinweisen in punkto Bezahlung. Wenn die öffentliche Aufregung in den vergangenen Wochen – aus verständlichen Gründen –, wie die Experten schreiben, vor allem der Höhe der Bonuszahlungen galt, so stören sie sich eher an der Gestaltung der Gehaltsstruktur in Banken und Finanzkreisen. Zu allererst sollten Boni erst einmal tatsächliche Leistungen würdigen – es kann also keine von vornherein vertraglich zugesicherte Zahlungen geben, die auch dann anstehen, wenn Verluste eingefahren werden. Diese Leistung solle in Zukunft zudem über einen längeren Zeitraum gemessen werden, sprich über fünf Jahre oder die ganze Dauer eines Wirtschaftszyklus. So sollen kurzsichtige Bankiers zu weitsichtigem, längerfristigem Handeln angestiftet werden. 

Der Rechtsrahmen der Finanzbranche insgesamt müsse künftig Anlass zur Weitsicht geben. Der Bericht empfiehlt ein Überdenken der geltenden Buchhaltungsstandards aus mehrerlei Gründen. Da ist einerseits die Wirkung der Buchhaltungsnor­men auf das Geschäftsmodell. Die müsse eigentlich neutral sein, sagen die Experten, damit die Institute deswegen nicht die Geschäftstaktik ändern. In der Tat fällt das Resultat, je nachdem welche Buchhaltungsregeln befolgt werden, unterschiedlich aus. Die BGL gab beispielsweise vor wenigen Wochen bekannt, sie habe 2008 mit einem kleinen Gewinn von rund 30 Millionen Euro abgeschlossen – nach den Luxemburger Buchhaltungsregeln LuxGaap berechnet. Wenn die Bank in Kürze ihre Bilanz nach den international geltenden IFRS-Normen hinterlegt, wird jedoch unterm Strich eine rote Zahl stehen. 

In der Kritik steht auch das so genannte mark-to-market-Prinzip, demzufolge in Wertpapiere in der Bilanz mit dem Preis oder Wert ausgewiesen werden müssen, die der Markt dafür bezahlen würde. Was passiert, wenn der „Markt“ zusammenbricht und die Produkte nicht mehr „vermarktet“ werden können, ließ sich in den vergangenen Monaten beobachten. In Echtzeit mussten alle Finanzinstitute den Wertverlust der verbrieften Schuldpapiere, der subprimes, in ihren Bilanzen verbuchen, was den Zusammenbruch des Marktes dafür beschleunigte und zur Zuspitzung der Krise führte. Die Möglichkeit, den Wertverlust über einen längeren Zeitraum abzuschreiben, bestand schlicht nicht. Außerdem erlauben es die IFRS-Regeln beispielsweise nicht, eine ganze Reihe von Rücklagen zu tätigen, die unter Vorgängersystemen möglich waren. Die Konsequenz: Es werden weniger Reserven für Krisenzeiten angelegt. Dafür hat man in der Krise schnell ein Liquiditätsproblem.

Daher fordern die Experten auch eine Nachbesserung der erst Anfang 2008 in Kraft getretenen Basel-II-Regeln für Banken. Basel II galt unter Bankiers lange als bürokratisches Monster. Nun wünschen sich wohl manche, die Eigenkapitalregeln seien früher – und in den USA überhaupt schon – in Kraft getreten. Die Basel-II-Regeln, die, vereinfacht ausgedrückt, bestimmen, über wie viel Eigenkapital ein Kreditinstitut im Verhältnis zu den von ihm vergebenen Krediten verfügen muss, beruhten aber auf zu rezentem statistischem Material. Anders gesagt: Das System funktioniert, solange sich der Wirtschaftszyklus, wie in den vergangenen Jahren, in der Aufwärtsbewegung befindet. Dann nämlich zahlen die meisten Kreditnehmer ihre Raten zurück, und wenn es wenig Ausfälle gibt, braucht man wenig Eigenkapital, um solche zu decken. Was aber, wenn es zu massiven Ausfällen kommt, wie sie die Pleite von Lehman Brothers bei ihren Kreditgebern provoziert hat? Dafür ist das System nicht vorgesehen, warnen die Experten, und das müsse sich schnellstens ändern, die Eigenkapitalanforderungen angehoben werden. 

Auch für diejenigen, die dafür Soge tragen, dass diese und andere Rechtsvorschriften eingehalten werden, müsse es zu Änderungen kommen: der Blickwinkel soll erweitert werden. Wie das zu verstehen ist? Aufgabe der nationalen Aufsichtsbehörden wie der hiesigen CSSF war es bisher, die einzelnen Finanz- und Kreditinstitute zu überwachen – die Mikro-Aufsicht. Für die Überprüfung des großen Ganzen, also des Finanzsystems insgesamt, war bislang niemand zuständig. Eine Makro-Aufsicht war inexistent. 

Wessen Aufgabe ist es demnach, etwas gegen unvertretbare Kreditausweitungen, so gesehen in den Immobilienmärkten der USA, aber auch Irlands und Spaniens, auch Immobilienblase genannt, zu unternehmen. Oder zumindest davor zu warnen? In der EU soll es ein neues Gremium, das European Systemic Risk Council (ESRC), unter Führung der Europäischen Zentralbank sein. Dem ESRC sollen die Zentralbankchefs des Eurosystems angehören sowie die Vertreter der Gremien, in denen die europäischen Aufsichtsbehörden für Banken (EBS), Pensionsfonds und Versicherungen (CEIOPS) und Wertpapieren (CESR) vertreten sind. EBS, CEIOPS und CESR sollen außerdem den Status von EU-Agenturen erhalten und damit eine angemessene rechtliche Basis, die ihnen erlaubt, tatsächliche Entscheidungen zu treffen. Vor wenigen Monaten, als an den Börsen von Montag bis Freitag alle Wochentage schwarz waren, war der Versuch, sich auf Ebene des CESR auf ein Verbot von Leerverkäufen zu einigen, noch gescheitert. 

Das Gründen einer einzigen, paneuropäischen Aufsichtsbehörde, wie sie in den vergangenen Monaten immer wieder angedeutet wurde, scheidet damit aus. Und die Europäischen Zentralbanken bleiben bei der Mikroaufsicht weiterhin außen vor. Das dürfte vor allem die Luxemburger Bankenvereinigung ABBL freuen, deren Direktor Jean-Jacques Rommes noch kürzlich erklärt hatte, die Luxemburger Banken befürworteten eine nationale Aufsichtsbehörde, die sich für nationale Interessen stark mache. Der Luxemburger Zentralbankchef Yves Mersch sagte vergangenen Dienstag bei einer Veranstaltung der AmCham ebenfalls, ihm gefalle, was er da lese. Weil die Aufsicht um die Dimemsion der makroökonomischen Komponente erweitert wird. Da die Zusammenarbeit der europäischen Aufsichten verbessert  werden müsse, sei die Regierung im Prinzip mit den Vorschlägen einverstanden, so Budget- und Tresorminister Luc Frieden am Dienstag beim Gipfel des Fondsverbandes Alfi. Der designierte CSSF-Chef Jean Guill sprach den Vorschlägen anlässlich des Deutsch-Luxemburgischen Wirtschafts­forums vergangene Woche seine Zustimmung aus. Weil die Zusammenarbeit unter den nationalen Aufsichtsbehörden verstärkt werde, ohne dass diese ihre Kompetenzen in der Mikro-Aufsicht aufgeben müssen. 

Guill dürfte vor allem gefallen, dass sich de Larosière ein Problem zu Herz nahm, das im Laufe der Verhandlun­gen um das Solvency-II-Packet über die EU-Eigenkaptialregeln für Versicherungsgesellschaften aufgetreten war. Solvency II sah vor, dass die „Heimataufsicht“ transnationaler Versicherungsgruppen die Führungsrolle übernehmen sollte  (lead supervisor). Die Aufsichten in den Ländern ihrer Filialen, sollten hingegen eine untergeordnete Rolle spielen. Wer hätte sich dann zum Beipiel im Falle der Insolvenz einer französischen Versicherungsgesellschaft für die Interessen der Luxemburger Versicherten stark machen können? Wäre das Commissariat aux Assurances zuständig geworden, die Aktivitäten des hier ansässigen Versicherungsriesen Swiss Re in der ganzen EU zu überwachen? Für die Bankenbranche stellt sich das gleiche Problem: Nach dem System der lead supervisor hätte die CSSF nur noch wenigen Banken am Standort Luxemburg etwas zu sagen gehabt. Der Bericht spricht sich nun dafür aus, zur Überwachung von grenzübergreifend tätigen Banken, wie auch Versicherungen, Aufsichtkollegien zu gründen – und zwar bis Ende 2009. Rolle der neuen Agenturen, die bis Ende 2010 eingerichtet sein sollen, wäre es dann, im Streitfall in den Kollegien zu vermitteln. 

Eine Reihe von Kompetenzen müssten die nationalen Aufsichten dennoch aufgeben, beziehungsweise soll eine größere Konvergenz der geltenden Regeln herbeigeführt werden, die Standortpolitik seitens der Aufsichtsbehörden künftig unterbinden soll. Unter anderem sollen die Eigenkapitalregeln vereinheitlicht werden: Welche Finanzprodukte darf man hinzuzählen, welche nicht? Welche Strafen werden im Falle von Fehlverhalten verhängt? Das Strafspektrum für Insiderhandel reicht innerhalb der EU von geringen Geldstrafen bis mehrjährigen Haftstrafen. Ob also künftig aus Gründen der beruflichen Unabhängigkeit die EU vorschreibt, dass in Luxemburg das Recht, eine Bankenlizenz zu entziehen, der CSSF zusteht und nicht dem Budget- und Tresorminister vorbehalten ist? Vor allem aber sollen die neuen Agentur­en, die in einer zweiten Phase zu einer einzigen zusammenwachsen sollen, in Krisenzeiten das Gremium sein, das die Kommunikation zwischen nationa­len Aufsichten sicherstellt und auch die Leitung zum neuen ESRC-Gremium offen hält.

Dieses Wochenende wird sich zeigen, welche Vorschläge die Staats- und Regierungschefs der EU zurückbehalten und wie schnell sie die Reformen vorantreiben wollen. Dabei darf man vor allem auf die Haltung Großbritanniens gespannt sein, das 2009 der G20 vorsitzt. Der britische Schatzkanzler Alistair Darling hat in einem Brief an seinen EU-Kollegen bereits angedeutet, dass er starke Vorbehalte gegen die Einrichtung einer Makro-Aufsicht unter Führung der Europäischen Zentralbank hat. 

 

Michèle Sinner
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