Auf ihrem Nationalkongress in Junglinster bemühte sich die neue CSV-Spitze, Geschlossenheit und Dynamik auszustrahlen. Bis 2023 muss sie nur noch Parteibasis und Wähler überzeugen

Frau Origer aus Bartringen

d'Lëtzebuerger Land vom 30.04.2021

Atombombe Als die Vorsitzende der Wahlkommission, Martine Deprez, am vergangenen Samstag um 12.20 Uhr verkündete, dass 84,6 Prozent von 475 Delegierten dem Abgeordneten Claude Wiseler (61) ihr Vertrauen als neuer Parteipräsident ausgesprochen hatten, rechnete sein Vorgänger Frank Engel (45) gerade in der Sendung Riicht eraus auf Radio 100,7 mit seiner ehemaligen Partei ab, die er am Tag zuvor verlassen hatte. Bereits am Donnerstagabend hatte RTL einen Kloertext ausgestrahlt, in dem der designierte Generalsekretär Christophe Hansen (39) und die scheidende Vizepräsidentin Elisabeth Margue (31), Kandidatin für das noch durch eine Statutenreform zu schaffende Amt der stellvertretenden Parteipräsidentin, sich gegenüber ihrem Übervater Jean-Claude Juncker (66) rechtfertigen mussten. RTL hatte den selbsterklärten Erneuerungsskeptiker Juncker nicht ins Studio eingeladen, sondern ließ ihn als Orakel aus dem Off Sätze sagen wie „Hien an déi aner hätten dee Problem anescht kënne léisen. Ech war am Ufank rosen doriwwer, ech sinn einfach traureg. Muss dat sinn, ass dat néideg?“ Der katholische Publizist und Dräikinneksgrupp-Mitbegründer Pierre Lorang goss weiter Öl ins Feuer, indem er Mitgliedern der Fraktion vorwarf, „im übertragenen Sinn eine politische Atombombe“ gezündet zu haben, als sie Frank Engel im Rahmen der CSV-Frëndeskrees-Affäre bei der Justiz denunzierten, und warnte gleichzeitig vor den Folgeschäden dieser „Atombombe“. Das Team Wiseler startete am Samstag nicht unter den besten Voraussetzungen.

Das letzte Mal hatte die CSV im März 2013 im Mehrzweckzentrum Gaston Stein in Junglinster einen Nationalkongress veranstaltet. Damals war die Partei noch in der Regierung, hatte 26 Sitze in der Abgeordnetenkammer, Jean-Claude Juncker war noch Premierminister. Doch der parlamentarische Untersuchungsausschuss über den Geheimdienst hatte schon seine Arbeit aufgenommen und die CSV witterte einen Komplott zur Destabilisierung des Staatsministers. Parallelen sind also durchaus vorhanden, nur dass man damals davon ausging, dass Oppositionsparteien die CSV zu Fall bringen wollten, während in den vergangenen Wochen die CSV sich – ohne fremde Hilfe – selbst demontiert hatte.

Auf dem digitalen Erneuerungskongress am Samstag ging davon nur noch am Rande die Rede. Frank Engel blieb erwartungsgemäß fern, doch so ganz konnte das Team Wiseler ihn nicht ausblenden. Auch Jean-Claude Juncker trat in Junglinster nicht in Erscheinung. Nicht einmal im Off. Gastgeberin Elisabeth Margue verteidigte erneut die Abgeordneten, die Engel bei der Staatsanwaltschaft denunziert hatten, weil gewählte Politiker/innen die Augen vor strafrechtlich relevanten Sachverhalten nicht verschließen dürften. Um was es in der CSV-Frëndeskrees-Affäre genau geht, ist immer noch nicht vollends geklärt, denn laut Margue liegen nicht alle Fakten öffentlich auf dem Tisch. Details konnte sie aber wegen der laufenden Ermittlungen nicht verraten. Margue verteidigte auch den früheren Generalsekretär Félix Eischen und den ehemaligen Generalkassierer Georges Heirendt, die bei der Rückerstattung von Engels Sozialbeiträgen aus der Parteikasse zwar Überweisungen getätigt, aber nicht mitentschieden hätten. Wegen der rezenten Unstimmigkeiten hatte die CSV vor etwa vier Wochen ein Audit beim Wirtschaftsprüfer Baker Tilly in Auftrag gegeben. Laut dem scheidenden Kassenwart André Martins hat dieses Audit ergeben, dass die Parteifinanzen 2019 und 2020 konform zum Unternehmensgegenstand der CSV seien. Baker Tilly fand aber heraus, dass für 2019 und 2020 keine formalisierten Prozeduren vorliegen. Der Nationalvorstand habe den Wirtschaftsprüfern daraufhin versichert, dass solche Aufzeichnungen in den Jahren vor 2019 üblich gewesen seien, schreibt Baker Tilly. Allerdings unterstreicht das Unternehmen explizit, dass es diese Aussage des Nationalvorstands nicht überprüft habe, und rät der CSV, sich klare schriftliche Prozeduren für die interne Verwaltung zu geben.

Pafepartei Nachdem diese unangenehmen Details geklärt waren, präsentierte sich die neue CSV-Spitze vor den rund 60 Anwesenden im Saal – ausgewählte Mitglieder und Mitarbeiter/innen aus Nationalkomitee, Partei und Fraktion sowie technisches Personal – und den über 400 Delegierten vor dem heimischen Bildschirm jung, dynamisch und engagiert. Alle gaben sich Mühe, größtmögliche Geschlossenheit zu demonstrieren. Kongresspräsident Léon Gloden (48) forderte, dass jeder einzelne im neuen Team sich bis Mai und Oktober 2023 rund um die Uhr den Hintern aufreissen müsse („Let's do it“). Der neue Vorsitzende des Zentrumsbezirks, Vincent Reding (28), stellte fest, dass die CSV keine „al Pafepartei“, sondern eine junge, moderne Volkspartei sei, und der scheidende Generalsekretär und neue Vizepräsident Paul Galles (47) freute sich nach seinem Aktivitätsbericht auf eine „coole gemeinsame Zukunft“. Fast hätte Mariette Origer (66) aus Bartringen das dynamische Team Wiseler auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Doch ihre per E-Mail gestellte Gretchenfrage („Wéi wëll de Claude Wiseler mat senger Ekipp 2023 Wale gewannen, wou en 2018 versot huet?“) wurde als Off-topic abgetan und erst später von Wiseler selbst beantwortet. Es war die einzige Frage, die während des ganzen Kongresses gestellt wurde.

Sowohl Wiseler als auch der designierte Generalsekretär und EU-Abgeordnete Christophe Hansen, Cousin der Fraktionschefin Martine Hansen (55), plädierten für eine neue Diskus-sionskultur und eine Öffnung der Partei. Die Entscheidungsprozesse seien bereits in den vergangenen Monaten integrativer gestaltet worden; an den fünf Arbeitsgruppen, die im Herbst 2020 noch unter Frank Engel eingesetzt wurden, hätten sich über 200 Personen beteiligt. Eine weitere Arbeitsgruppe über Landesplanung und Infrastruktur soll bald gegründet werden. Unterorganisationen wie CSFraen, CSJugend, CSInternational, CSV Senioren oder CSGemengen werden künftig respektvoll Basisorganisationen genannt und sollen stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden werden. Auch externen Expert/innen und Nicht-Mitgliedern aus der Zivilgesellschaft will es Wiseler erlauben, bei der CSV mitzumachen. Ob diese Öffnung dazu dient, neue Mitglieder anzuwerben, ist nicht auszuschließen. Obwohl die CSV sich stets als größte (Volks-) Partei bezeichnet und sich dabei auf ihre 10 000 Mitglieder beruft, geht aus dem Kassenbericht hervor, dass 2019 und 2020 die jährlichen Beitragszahlungen bei jeweils rund 114 000 Euro lagen. Bei einem (durchschnittlichen) Jahresbeitrag von 15 Euro (Student/innen zahlen 10 Euro, Haushalte ab drei Personen 35 Euro, der Gönnerbeitrag liegt bei 250 Euro) käme man eher auf 7 000 bis 8 000 zahlende Mitglieder. Auf jeden Fall will die CSV aus den Fehlern der Vergangenheit lernen und als Team auftreten. Im Hinblick auf das Superwahljahr 2023 will die Partei politische Alternativen anbieten. Er selbst sei nicht Präsident geworden, um sich die Spitzenkandidatur zu sichern, diese Frage werde erst sechs Monate vor den Wahlen entschieden, betonte Claude Wiseler und antwortete damit endlich auf die Frage von Frau Origer aus Bartringen.

Inhaltlich hatte die CSV auf ihrem Nationalkongress noch nicht viel vorzuweisen. Am Vorabend des Kongresses hatte das Team Wiseler ein 17-seitiges Positionspapier mit dem Titel Eng nei Equipe fir eng nächst Etapp an die Mitglieder verschickt. Darin werden vor allem der neue Teamgeist beschwört und die Werte der Partei bekräftigt. Die CSV gab sich am Samstag überraschend sozial, berief sich auf die christliche Soziallehre mit ihren Grundprinzipien Solidarität, Wert und Würde jedes einzelnen Menschen, soziale Marktwirtschaft und Nachhaltigkeit. Unter Konservativismus versteht die CSV nun Umwelt- und Klimaschutz. Nicht zuletzt griff Wiseler wieder das qualitative Wachstum auf, das den politischen Diskurs bestimmt hatte, bevor Corona ihn vereinnahmte. Lediglich fünf bis sechs der insgesamt 17 Seiten enthalten konkrete Vorschläge, die bis auf die Forderungen im Zusammenhang mit Covid-19 fast alle schon in der Kongressresolution von 2019 zu finden sind. Die Resultate der fünf Arbeitsgruppen, die die Beteiligten in lockeren Gesprächsrunden vorstellen durften, lassen ebenfalls nicht darauf schließen, dass die programmatische Erneuerung der CSV schon weit vorangeschritten ist.

Mehrheit Am Ende wurde das neue Nationalkomitee mit großer Mehrheit bestätigt. Kassenwart Thierry Schuman erzielte mit 95,1 Prozent das beste Resultat, vor Vizepräsident Paul Galles mit 90,5 Prozent. Generalsekretär Christophe Hansen (89,7), die zweite Vize-Präsidentin Anne Logelin (86) und Präsident Claude Wiseler (84,6) blieben unter 90 Prozent. Die designierte stellvertretende Präsidentin Elisabeth Margue und die designierte stellvertretende Generalsekretärin Stéphanie Weydert sollen erst nach einer Statutenänderung auf einem außerordentlichen Kongress voraussichtlich im Herbst ihre jeweiligen Ämter offiziell antreten können.

Es sollte aber präzisiert werden, dass am Samstag lediglich 475 der insgesamt 786 Delegierten an der Abstimmung zur Wahl des neuen Parteipräsidenten teilnahmen (2015 war die Anzahl der Delegierten in einer Statutenreform von 500 auf rund 800 erhöht worden). Genau genommen schenkten also lediglich 51 Prozent aller Stimmberechtigten Wiseler ihr Vertrauen. Bei der CSV (und auch in anderen Parteien) ist es aber nicht unüblich, dass (aus welchen Gründen auch immer) nicht alle Delegierten zum Kongress erscheinen. Als Frank Engel sich 2019 bei der Wahl zum Parteipräsidenten mit 54 Prozent gegen Serge Wilmes behauptete, waren immerhin 533 Delegierte auf dem Kongress in Moutfort anwesend. Die Möglichkeit, den Kongress von zuhause aus zu verfolgen und digital abzustimmen, bestand damals noch nicht.

Luc Laboulle
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