Luxemburgensia

Die große Verletzung

d'Lëtzebuerger Land vom 10.11.2023

Die in Rostock geborene und seit 40 Jahren in Luxemburg lebende Autorin Margret Steckel hat 2023 den Prix Batty Weber für ihr Lebenswerk erhalten – zahlreiche Erzählungen, Novellen und Romane mit teils autobiografischen und historischen Referenzen auf die Wendemomente des 20. Jahrhunderts – sowie, so die Jury, für „eine schriftstellerische Haltung, die sich, in der Beschreibung der schmerzhaften Wirren der Geschichte, stets für humanistische Werte und die Würde des Einzelnen einsetzt“.

Zeitgleich erschien dieses Jahr ihre knapp 50 Seiten umfassende Novelle Mutterrache bei Capybarabooks, in der es um die vereinsamte Ich-Erzählerin Eva geht, die durch die Straßen Berlins wandert, um sich ihrem beengenden Zuhause zu entziehen, in dem all ihre Gedanken nur um eines kreisen: Ihre mittlerweile erwachsene Tochter Emily meldet sich seit Jahren nicht mehr, hat jeden Kontakt zu ihr abgebrochen … und dennoch wartet Eva jeden Abend sehnsüchtig auf einen Anruf.

So auch an Heiligabend, der Tag, an dem wir Eva begegnen; einem Tag, der eigentlich den Familienfesten gehört und an dem die Einsamkeit besonders grausam zuschlagen kann; in einer Jahreszeit, die Eva an die Nachricht über den Tod des Vaters ihrer Tochter erinnert. In Mutterrache geht es um das bittere Ringen mit der Einsamkeit und den eigenen Ängsten, um die Verzweiflung der sich im Kreis drehenden Gedanken, wenn keine Kommunikation mehr möglich ist und man nur noch rätseln kann, woran es gelegen haben könnte. Ihr Mann ist tot, ihre Tochter schweigt – und Eva scheint die Welt nicht zu verstehen. Es geht um all die kleinen und großen Entscheidungen, von denen wohl die ein oder andere die Erzählerin an diesen unglücklichen Punkt geführt haben muss, von dem aus es keine Zukunft mehr zu geben scheint, sondern nur den Blick zurück auf etwas Unbegreifliches, eine große Verletzung. Die Introspektion ist hart, die Beobachtungen der Gewohnheiten des Alleinlebens und der Einsamkeit anderer sind präzise und gehen unter die Haut; die kleinen Gesten und Evas Verzweiflung werden in der kühlen, leicht gehetzten Innenperspektive, aus der die Novelle erzählt ist, sehr fühlbar: Ihre Streifzüge durch die Großstadt Berlin, das Gefühl der Einsamkeit am Ende eines langen, an sich vollen Lebens; bis die Novelle in einer letzten Zuspitzung der Verzweiflung eine Wendung nimmt.

Getragen wird die Handlung von Evas Strudel der Traurigkeit, wodurch leicht Mitleid mit der alten Dame aufkommen mag, die so im Stich gelassen wurde – so zumindest ihre Version der Geschichte. Doch dass diese Traurigkeit auch Selbstmitleid und Schuldzuweisung sein könnte, das mag einem vielleicht spätestens beim Zuklappen der Novelle wieder einfallen, wenn der Blick auf den Titel fällt … Rache! Intensiv und dramatisch nimmt dieses Buch wie aus einem Guss die Leserinnen und Leser mit wenig Dialog und viel Introspektion mit in einen rasch voranfließenden Gedankenstrudel aus Rückblicken und Überanalysen des eigenen Lebens. Es ist eine große Chance, dass derart kurze, stilistisch ausgefeilte Texte einen Ehrenplatz in der luxemburgischen Literatur erhalten und als eigenständiges Buch herausgebracht werden können.

Margret Steckel: Mutterrache. Deutsch. Capybarabooks, 2023. 56 Seiten

Claire Schmartz
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