Die Pflegeversicherung wird der Antragsflut nicht Herr

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d'Lëtzebuerger Land vom 18.01.2001

"Wir haben uns verschätzt." Dieses Resümee ist immer wieder zu hören, wenn politische Entscheidungsträger, Verwaltungsbeamte oder die vor Ort als Dienstleister Tätigen auf die Pflegeversicherung zu sprechen kommen. Zwei Jahre alt wurde sie am 1. Januar, die als "Jahrhundertreform" angekündigt worden war - aber dieses Wort nimmt niemand mehr in den Mund.

Schon wegen des einfach nicht abnehmenden Rückstands bei der Bearbeitung der Anträge auf Zuerkennung von Pflegeleistungen ist das so. 3 913 noch unbearbeitete Anfragen lägen bei der Cellule d'évaluation et d'orientation (CEO) vor, antwortete Sozialminister Carlo Wagner Mitte Februar letzten Jahres auf eine parlamentarische Anfrage hin. Das Luxemburger Wort dagegen schrieb Mitte Oktober, dass bis dahin 12 081 Anträge eingereicht und davon 5 593 abgeschlossen worden seien, 1 530 Antragssteller jedoch seien verstorben, noch ehe ihr Gesuch die vorgeschriebene Prozedur durchlaufen hatte. Das ergibt 4 598 unbearbeitete Anträge, und gegenüber dem Land bezifferte die CEO sie per 4. Januar 2001 auf 4 583. Plus 922 noch unentschiedene Gesuche auf Finanzierung von Apparaten aus dem Topf der Pflegeversicherung.

Acht Wochen dauert die Entscheidungsprozedur über die Anerken-nung einer Pflegebedürftigkeit normalerweise. Dann ist der persönliche Antrag durchgesehen, hat ein Arzt der CEO die vom behandelnden Arzt des Antragsstellers abgegebene medizinische Indikation überprüft, sind eventuelle weitere Expertisen analysiert worden, haben die Sozialassistenten der CEO die Lebensumstände des Antragstellers mit einer ihm nahe stehenden Drittperson - meistens einem Angehörigen bei einem Antrag auf Pflege zu Haus oder einem Pfleger bei einem Gesuch auf Pflege im Heim - bewertet. Woraufhin ein persönlicher Pflegeplan aufgestellt und der Krankenkassenunion zur abschließenden Entscheidung vorgelegt wurde. Noch aber müssen Antragsteller mit wenigstens acht Monaten extra Wartezeit rechnen, so weit ist die CEO derzeit im Rückstand.

Personalmangel ist noch immer der Hauptgrund, den sie dafür angibt. Nach wie vor gehen monatlich im Schnitt 300 neue Anfragen ein. Zwei Bewertungs-Teams zu ihrer Bearbeitung waren im Pflegeversicherungsgesetz vorgesehen - am 25. Februar 2000 beschloss der Regierungsrat die Einsetzung der mittlerweile fünften Bewertungsgruppe. Allein: die Rekrutierung von Beamten kostet Zeit. Gruppe fünf wird erst demnächst ihre Arbeit aufnehmen.

Dass Staatsminister Jean-Claude Juncker am 13. Oktober letzten Jahres vor der Presse dennoch "eine durchweg positive Bilanz" der Pflegeversicherung zog, mag damit zu tun haben, dass es der Regierung bisher einigermaßen gelungen ist, die Auswirkungen des Bearbeitungsrückstands auf die Antragsteller möglichst klein zu halten. Auch ohne Entscheidung über die Bedürftigkeit sollten Pflegeleistungen gewährt werden. Bis Ende 2000 erteilte die Krankenkassenunion den Leistungsanbietern dafür Vorauszahlungen, doch da manche Anbieter ihren Klienten dennoch Rechnungen ausstellten und der Bearbeitungsrückstand nach Schätzung der CEO wohl erst in zwei Jahren ganz aufgeholt sein wird, zahlt seit 1. Januar 2001 die Pflegeversicherung auch ohne Bedürftigkeitsentscheid. Damit es für die Antragsteller nicht etwa ein böses Erwachen gibt, weil sie nach einem Negativbescheid zu hohen Rückzahlungen verpflichtet werden, arbeiten die drei Netzwerke, die allgemeine Zuhaus-Pflege anbieten, mit einem Sicherheitsfaktor: Während laut Pflegeversicherungsgesetz anspruchsberechtigt ist, wer für die Actes necéssaires de la vie Ankleiden, Körperpflege und Fortbewegung (vom Aufstehen bis zum außer Haus gehen) wenigstens dreieinhalb Stunden pro Woche fremde Hilfe benötigt, geben sie diese Leistungen noch nicht anerkannten Pflegebedürftigen vorsichtshalber erst dann, wenn der Aufwand dafür vermutlich mehr als fünf Stunden beträgt. Es sei denn, der Betroffene zahlt selbst. Doch das kann teuer werden bei einem Stundentarif für professionelle Zuhaus-Pflege von 1 820 Franken.

Diskussionsstoff dürfte es in Hülle und Fülle geben, wenn im März ein detaillierter Bericht über die Pflegeversicherung vorliegen und im Parlament debattiert wird. Ein erster Rapport intermédiaire hatte im April 1999, drei Monate nach Inkrafttreten des Pflegeversicherungsgesetzes, Kinderkrankheiten im System ausgemacht: Von der Überlastung der CEO war schon damals die Rede gewesen, von Problemen bei der elektronischen Verarbeitung der Anträge (siehe d'Land vom 23. April 1999). Einige der Beschwerden aber riskieren durchaus, chronisch zu werden. Zum Beispiel die im Zusammenhang mit der Unterbringung von Pflegebedürftigen in Heimen oder Krankenhäusern. Kom-munikative Fehlleistungen wie die der damaligen Sozialministerin Mady Delvaux, die Anfang April 1999 bekannt gab, auf 2 933 Anträge zur Aufnahme in ein Pflegeheim oder ein Centre integré pour personnes agées kämen 3 753 Betten, während Familienministerin Marie-Josée Jacobs kurz zuvor noch von 2 000 fehlende Betten gesprochen hatte, unterlaufen der Regierung nicht mehr. Heute wird zugegeben, dass die Situation unklar ist. Delvaux' Nachfolger Carlo Wagner räumte vor sechs Wochen in Beantwortung einer parlamentarischen Anfrage ein, dass eigentlich niemand genau weiß, wie viele freie Pflegebetten es gibt. Zwar sieht das Pflegeversicherungsgesetz vor, dass die CEO Angebot und Nachfrage zentralisiert verwaltet, doch ein Zu-viel an Zentralismus hatten dahinter während der Diskussion um die Pflegeversicherung vor allem kommunal geführte Einrichtungen vermutet. Was zu einer Klausel im Gesetz führte, die es den Heimen er-laubt, erst zehn Tage nach Freiwerden eines Bettes diesen Leerstand an die CEO zu melden und in der Zwi-schenzeit an eine Person ihrer Wahl zu vergeben. "Extrem selten", so Carlo Wagner, würde die CEO überhaupt von leeren Betten erfahren - der Bedarf ist demnach groß. Aber niemand kennt ihn, und wenn von den 977 seit 1. August 1999 auf der Dringlichkeitsliste der CEO geführten Antragstellern auf ein Pflegebett mittlerweile 494 ein solches gefunden hätten, 275 noch darauf warteten, für 136 eine Zuhaus-Pflege habe organisiert werden können und 72 unterdessen verstorben seien, dann dürften diese Zahlen, meinte der Minister, "en aucun cas être considérés comme une statistique correcte de l'offre et de la demande en matière de placement".

Ein Glück, dass es Pflegeheime gibt, die sich der Verwaltung der CEO unterstellt haben, und dass drei Kliniken im Land (St François in Luxemburg-Stadt, Sacré Coeur in Diekirch und das Ettelbrücker CHNP) Pflegebetten bereit halten. Für die meisten Krankenhäuser aber ist der Abschluss von Pflegeverträgen im Rahmen der Pflegeversicherung kommerziell nicht interes-sant. Durchaus denkbar, dass die Pflegeversicherungs-Debatte im März auch der noch immer nicht entschiedenen Spitalplanung weiteren Zündstoff verleiht.

Doch damit nicht genug: Ob anerkannt pflegebedürftig oder nicht - für so manche stellt die Unterbringung im Heim eine kaum tragbare finanzielle Belastung dar. Was einer der Gründe ist, weshalb Vertreter des OGB-L vergangene Woche in einem Gespräch mit Familienministerin Jacobs von "teilweise katastrophalen Zuständen" im Pflegewesen sprachen. Im Schnitt werden für das Logis im Heim etwa 55 000 Franken pro Monat verlangt, oft aber klettert der Preis auf über 70 000. Und das ohne Qualitätssteigerung, meint der OGB-L, bei dem ein Heim aktenkundig ist, das allein mit den Einnahmen aus der Unterbringung im vergangenen Jahr 90 Millionen Franken Gewinn erwirtschaftet ha-ben soll.

Auch in der CEO wird davon gesprochen, dass die Erwartungen, nach Einführung der Pflegeversicherung würden die Logis-Preise in den Heimen sinken, sich nicht erfüllt ha-ben: Zu groß ist offenbar die Nachfrage. Und es wird beobachtet, dass Pflegeversicherungsbezieher mit Anrecht auf Heimunterbringung, die nur über eine kleine Rente verfügen, im Ausland unterzukommen versuchen. Für den OGB-L ist es an der Zeit, in diesem Zusammenhang über die Zuständigkeit des nationalen Solidaritätsfonds nachzudenken, der in solchen Härtefällen prinzipiell Zuzahlungen leistet, unter welchen Bedingungen und in welcher Höhe, ist aber nicht geregelt.

Vergleichsweise bescheiden nehmen sich dagegen Verbesserungsvorschläge aus, die von den Dienstleistern im Bereich Zuhaus-Pflege kommen. Aber nur auf den ersten Blick, denn auch hinter ihnen zeichnen sich größere sozialpolitische Baustellen ab. Nicht von der Pflegeversicherung erstattet werden zum Beispiel die Aufwendungen für die Verabreichung von Medikamenten, da diese nicht zu den Actes necéssaires de la vie zählt. Hier, so lautet die Kritik aus den Reihen der Pflegedienstleister, zeige sich, dass die Analyse der Bedürftigkeit sich zu stark an den körperlichen Fähigkeiten der Bedürftigen orientiert und nicht allen Fällen von Altersdemenz gerecht wird. Diesen Personen die Einnahme von Medikamenten selbst zu überlassen, sei jedoch unter Umständen riskant, eine Fehldosierung womöglich verhängnisvoll.

Wenn gefordert wird, diese Lücke im Pflegeversicherungsgesetz zu schließen, wird der Pflegeversicherung eine stärkere präventive Funkton zuerkannt. Noch stärker bei Überlegungen wie jener, ob es denn hinnehmbar sei, dass ein eigentlich körperlich tüchtiger, aber psychisch altersschwacher Mensch sich nicht mehr richtig wäscht, nicht mehr seine Wohnung putzt? Wächst dadurch nicht ein Krankheitsrisiko, müsste die Pflegeversicherung hier nicht vorbeugend wirken?

Mag sein, dass bei solchen Überlegungen auch kommerzielle Interessen der Anbieter mitschwingen; immerhin sind die Pflegetarife hier zu Lande im Vergleich mit dem Ausland einzigartig hoch: im Schnitt werden laut Berechnungen der CEO in der Heimpflege pro Person wöchentlich 19 951 Franken erstattet, in der Zuhaus-Pflege 18 468, das Maximum kann über 260 000 Franken in einem Monat betragen; in Deutschland liegt, zum Vergleich, der Maximalsatz bei monatlich 3 000 DM. 

Aber was die Pflegebedürftigen sich eigentlich wünschen, wie zufrieden sie mit den Leistungen sind, wurde bisher noch nicht ermittelt, für den im März vorzulegenden Bericht sollen sie nach Auskunft der CEO erstmals ebenfalls befragt werden. Zeit wird es, denn eine Lobby haben sie nicht, und vielleicht geht es den meisten einfach nicht gut genug, um sich lautstark bemerkbar machen zu können.

Peter Feist
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