Mit Theater théâtre theatre Theater 1 hat Hydre Éditions eine neue Reihe eingeläutet, die sich Theaterstücken zeitgenössischer luxemburgischer Theaterautoren und -autorinnen widmet. Mit dem ersten Band der Reihe gibt der Verlag direkt beeindruckende Maßstäbe vor – mit vier Theaterstücken, die sowohl sprachlich und stilistisch als auch inhaltlich und formell überzeugen. Auch ermöglicht die Reihe einen Einblick in die Themen, die das luxemburgische Theaterpublikum zurzeit beschäftigen – oder vor kurzem noch live erleben konnten.
Allen voran begeistert Elise Schmits deutschsprachiges Stück So dunkel hier. Es erkundet die Verhaftung und Überführung des Gauleiters Gustav Simon durch den britischen Offizier Captain Hanns Alexander am Ende des Zweiten Weltkriegs, der, kurz bevor er nach Luxemburg überführt werden konnte, verstarb – doch wann und wie? Oder war doch etwas ganz anderes vorgefallen? Elise Schmit ermittelt mit glasklarer Sprache die Möglichkeiten der realen, gründlich recherchierten und dennoch uneindeutigen Geschichte. Zugleich ist das Stück eine Erkundung der Möglichkeiten des Theaters und der Imagination, der Auslegungen und Varianten des Vergangenen und Gegenwärtigen; sei es im Privaten, in Bezug auf die eigene Identität, die Arten, etwas zu erzählen oder im übergeordneten Zusammenhang der Weltgeschichte. Elise Schmit schafft mit ihrer Klarheit und Präzision, die auch ihre Prosa auszeichnen, ein beeindruckendes, philosophisches Stück, das ebenso seinen konkreten historischen Kontext hinter sich lassen kann – eindeutig der Flaggschiff-Beitrag der ersten Theateranthologie des Verlags.
„Es gibt mehr Möglichkeiten, als ich dachte.“ Muller, S. 189
„So kann es nicht gewesen sein.“ Hengst, S. 196
Auch Larissa Fabers englischsprachiges Stück 340x (Geschäft ohne Moral) spielt in einem gewissen Sinn mit dem Möglichen und den Grenzen des (Un-)Vorstellbaren. Das Stück hat eine experimentelle, tryptichale Form und stellt drei Zeitebenen im Leben eines Mannes parallel zueinander dar. Es handelt sich um drei Schwellenmomente in seinem Leben, bei denen das einschneidende Ereignis nie im Fokus der Handlung steht, sondern entweder kurz bevorsteht, kurz zurückliegt oder hinter verschlossenen Türen stattfindet. Die Metaphern und Bildsprache sind klar; die Simultan-Inszenierung ein beeindruckendes Vorhaben. Ein Monolog des Mannes im entscheidenden Moment des Werks verleiht dem Stück seine Stärke.
Daneben widmet sich Jeff Schinker in seinem ironisch-kritischen Stück PatrIdiot einer Diagnose der zeitgenössischen luxemburgischen Gesellschaft in Bezug auf ihren Umgang mit Migrierten, die eine kommentierende Stimme „aus dem Off“ in eine dystopische Zukunft projiziert. Hier spaltet sich die Gesellschaft endgültig sowohl innerlich wie räumlich in Bio-Luxemburger/innen und migrantische Arbeiter/innen. Ein Propaganda-Stück im Stück mit dem Titel „Working in the Shadows: Our Happy Migrants“ soll beide Gruppen überzeugen, dass die Arbeits- und Lebensbedingungen der Migrierten sowie ihre rigide Abspaltung von der luxemburgischen Gesellschaft das beste Szenario für alle seien. Doch einige Widerständige bereiten einen „rebellious play“ vor … Kunst wird zur Waffe, zu einem revolutionären Akt.
„Please remember: theatre is dangerous. Art is lethal. Enjoy your evening and get home safely.“ (S. 157)
Mit verschiedenen Erzählebenen, humorvoll-ironischen Intermezzos, Kommentaren aus dem Off und alles relativierenden Nachträgen, spielt Jeff Schinker das Potenzial des Erzählmediums Theater aus. In seinem typisch sarkastischen Tonfall nimmt er die Gesellschaft unter die Lupe (mitsamt ebenso typischer Kritik am luxemburgischen Kulturbetrieb). Dabei setzt er sich mit diversen Aspekten des alltäglichen oder unverhohlenen Rassismus, in der Öffentlichkeit oder im familiären Umfeld, sowie versteckter Diskriminierung oder unbewussten Vorurteilen auseinander.
Nicht weniger beeindruckend ist Samuel Hamens De Geescht oder D’Mumm Séis, eine moderne Adaptation von Edmond de la Fontaines (Dicks) Operette Mumm Séiss. Es ist eine Auftragsarbeit der Théâtres de la Ville de Luxembourg zum 200. Geburtstagsjubiläum des Schriftstellers. Gerahmt von der Erzählung um die Erbin des ehemaligen Hauses der Mumm Séiss in Clausen und eines geschäftstüchtigen Maklers, werden die Figuren der Urfassung von 1856 in dieser gekürzten und zugleich größtenteils im Original bewahrten Version neu zum Leben erweckt. Zwischen Reimen, Wortspielen und Liedern, reist man gemeinsam mit der Erbin und ihrem Makler vom Hier und Jetzt zurück zu Mumm Séiss und kann die Geschichte, die einen Meilenstein in der luxemburgischen Literatur- und Theatergeschichte markiert, auf eigene Faust (und in modernem Luxemburgisch) (neu) entdecken…
Man darf ruhig gespannt sein auf mehr, denn Anfang des Jahres erschien bereits der zweite Band der Theaterreihe.