ZUFALLSGESPRÄCH MIT DEM MANN IN DER EISENBAHN

Was ist ein Aluhut gegen eine Rentenmauer?

d'Lëtzebuerger Land vom 23.04.2021

Das westfälische Landesmuseum für Klosterkultur hielt sich vor zwei Jahren für den geeigneten Ort, um sich mit „Verschwörungstheorien – früher und heute“ zu beschäftigen. Unter dem Titel „Gleef dat net…!“ übernahm das hauptstädtische Geschichtsmuseum die Ausstellung. Es ergänzte sie um einige lokale Komplotte. Vorwiegend solche, die ausländische Agenten gegen die Festung oder den Finanzsektor anzettelten.

Und die heimischen Komplotttheorien? In drei Monaten feiert der 700 000-Einwohnerstaat seinen 20. Geburtstag. Am 20. Juli 2001 hatte der damalige CSV-Premier Jean-Claude Juncker vor einem Komplott gewarnt: Ohne Leistungskürzungen erfordere die Finanzierung des Sozialstaats einen „700 000-Einwohnerstaat“. Um die Zubetonierung und Überfremdung der Heimat zu verhindern, verlangten Nationalisten und Umweltschützer eine „Wachstumsdebatte“. Am 12. Oktober 2002 gründeten Malthusianisten in Bartringen eine Bürgerinitiative „Wat fir eng Zukunft fir Lëtzebuerg?“. Im Wahlkampf 2018 schürte CSV-Spitzenkandidat Claude Wiseler noch einmal Übervölkerungsängste. Doch soeben meldet das Statec, dass am 1. Januar dieses Jahres 634 730 Menschen in Luxemburg wohnten. Bis zum 700 000-Einwohnerstaat fehlen noch zehn Prozent. Kein Hahn kräht mehr danach.

Nach der Banken- und Wirtschaftskrise forderte der Unternehmerdachverband UEL am 5. Februar 2009 „100 mesures pour redresser la compétitivité et relancer l’activité économique“. Dazu zählte eine Fortsetzung der Indexmanipulation und eine „politique de lutte contre l’inflation“ (S. 5). Damals lag die Inflationsrate bei 0,4 Prozent. Im Juli 2013 verlangte die UEL in ihrem Wahlkampfkatalog Maßnahmen gegen „une inflation élevée et la hausse des salaires“ (S. 6). Damals lag die Inflationsrate bei 1,7 Prozent. In einer Powerpoint-Vorführung zum Europäischen Semester prophezeite die UEL am 1. Februar 2017 eine „hausse prévue (prix du pétrole, évolution des taux d’intérêt, salaires nominaux, …)“, die zusammen mit dem Index eine „[s]pirale inflationniste“ auslöse (S. 10). Damals betrug die Inflationsrate wieder
1,7 Prozent. Die Komplotttheorie gegen Lohnerhöhungen geht weiter.

In seiner Erklärung zur Lage der Nation hatte der damalige CSV-Premier Jean-Claude Juncker am 7. Mai 1997 dem Parlament prophezeit, dass die Renten unbezahlbar würden: „Well dat alles esou kënnt, well dat alles mat Sécherheet esou kënnt, renne mer mat Karacho an eng Mauer. Déi Mauer waart op eis den 1. Januar 2015. Déi Mauer waart op eis a genau 20 Joer“ (S. 29). Während Jahren sollte eine Rentenmauer Rentenkürzungen rechtfertigen. Am Neujahrstag 2015 war keine Rentenmauer zu sehen. Seither redet niemand mehr davon.

Was ist schon ein Aluhut gegen eine Rentenmauer? Die Fake-News-Trolle auf Facebook, die Impfgegner auf dem Knuedler und die Wadenbeißer in der ADR sind nicht Leo Löwenthals und Norbert Gutermans „Prophets of Deceit“. Die einflussreichsten Verschwörungstheoretiker sind die Demagogen auf der Höhe ihrer politischen Macht in der gutbürgerlichen Mitte. Laut denen ohne Atomreaktor in Remerschen 1980 die Lichter ausgegangen wären. Es sind die als Experten auftretenden Funktionäre und Lobbyisten. Sie gehen mit der impliziten Staatsschuld, dem strukturellen Saldo und sonstigem Aberglauben hausieren. Damit der Staat aufhört, Steuergelder nach unten umzuverteilen.

Als Teil des politischen Brauchtums verdienen Verschwörungstheorien einen Platz im Museum. Sie gehören als immaterielles Kulturerbe bewahrt und geschützt wie die Springprozession, die Schobermesse und die Haupesch-Bléiser. So können die jüngeren, nach Remerschen und der Rentenmauer geborenen Museumsbesucher lernen, nicht alles für bare Münze zu nehmen. Wenn sie Letztere nicht berappen wollen.

Romain Hilgert
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