„Wir werden unser Bestes geben, damit es funktioniert“, so die Cargolux-Manager am Dienstag beim Toast über Tisch. Minuten zuvor hatte Infrastruktur- und Transportminister François Bausch (Grüne) in Zhengzhou den Verkauf der Cargolux-Anteile an HNCA mit seiner Unterschrift besiegelt. Bauschs Besuch in China war sein erster internationaler Auftritt und die Umstände waren delikat. Bevor der Deal abends unterzeichnet werden konnte, waren morgens noch die letzten „Details“ ausgebügelt worden. Dass HNCA durch den geplanten Wiedereinstieg des Staates in das Kapital der Fluggesellschaft einen von ausgemachten vier Sitzen abgeben musste, noch bevor sie überhaupt Teilhaber wurde, hatte den chinesischen Partnern wenig Freude bereitet. Durch den Regierungswechsel hätten sich die Verhandlungen hingezogen, erklärte Bausch während der offiziellen Zeremonie im Hotel Sofitel. Doch die neue Regierungsmannschaft sei „sofort davon überzeugt gewesen, dass dies ein guter Deal sei“. Dabei war Bausch nach seinem Besuch beim Vize-Minister der zivilen Luftfahrtbehörde Xia Xinghua in Peking „erleichtert“. Der hatte ihm am Montag bestätigt, die Zentralregierung in Peking stehe voll und ganz hinter den Entwicklungsplänen der Provinzregierung in Zhengzhou, die Stadt zur nationalen und internationalen Logistikdrehscheibe auszubauen. Im Zentrum steht dabei der Ausbau des Flughafens, dessen Kapazität bis 2040 auf 29 Millionen Passagiere und fünf Millionen Tonnen Fracht jährlich ausgebaut werden soll. Um den Flughafen soll auf 450 Quadratkilometern eine experimentelle Sonderwirtschaftszone, eine „Airtropolis“, entstehen. In der an den Flughafen angeschlossenen, seit 2010 funktionierenden Freizone produziert Foxconn auf einem fünf Quadratkilometer großen Fabrikgelände bereits jetzt fast 100 Millionen Smartphones jährlich. Durch diesen Fokus auf die Luftfahrt soll die ländlich geprägte Region den Strukturwandel schaffen, den Übergang von der Agrarwirtschaft in die industriell getriebene Ökonomie. Weil die Regierung in Peking die wirtschaftliche Weiterentwicklung der Zentralchinesischen Ebene in ihrem Fünfjahresplan bereits 2011 beschlossen und vergangenen März den Plan für die experimentelle Sonderwirtschaftszone Zhengzhou abgesegnet hatte, konnte Xia Xinghua Bausch am Montag versichern, die Initiative komme aus Peking. „Noch vor wenigen Wochen dachte ich, das sind vor allem die Ambitionen der Provinzregierung“, so ein beruhigter Bausch. Solche Ambitionen, sich weiterzuentwickeln, haben viele chinesische Provinzen, die in Konkurrenz zueinander stehen, warnen HNCA-Skeptiker weiterhin, die auf die Schuldenentwicklung der Provinzen und öffentlichen Unternehmen hinweisen. Durch die Anti-Krisenprogramme in den Jahren 2008 und 2009 waren Kredite für Infrastruktur- und Immobilienprojekte billig zu haben. 2012 häuften sich die Presseberichte über die Überschuldung der lokalen Regierungsinstanzen sowie über leerstehende Bautenund das bevorstehende Platzen der chinesischen Immobilienblase. Doch HNCA, Investmentgesellschaftder Provinz Henan, welche unter anderem den Auftrag hat, die Infrastrukturen zu bauen, die zur Umsetzung des Masterplans gebraucht werden, kann mit guten Verbindungen in Peking auftrumpfen. Denn den „Neuaufbau“ von Zhengzhou, das große Immobilienprojekt der Stadt, hat ausgerechnet der aktuelle chinesische Premierminister, Li Keqiang, in seiner Zeit als Gouverneur der Provinz Henan um die Jahrtausendwende angestoßen. Das Zhengdong New District ist ein Urbanisierungsprojekt von 150 Quadratkilometern. Statt die „alte“ Stadt zu modernisieren, wurde mittels internationaler Architektenwettbewerbe einfach eine neue geplant und gebaut. Samt künstlicher Seen, höhengenormter Wolkenkratzer, Autobahnen, öffentlichem Nahverkehr, Kunst-, Kultur- und Kongresszentren. „Nur“ noch 35 Quadratkilometer bleiben zu bebauen. Das Zhengdong New District hatte die britische Daily Mail 2010 als größte Geisterstadt Chinas bezeichnet. Im Januar 2013 geht es im Central Business District geschäftig zu, am neuen Hochgeschwindigkeitsbahnhof herrscht reger Verkehr, und sonntagsnachmittags lassen Kleinfamilien am Seeufer mit Blick auf die Skyline Drachen steigen. Auch in punkto Transport hat Henan etwas vorzuweisen. In Zhengzhou werden am größten Bahnfrachtterminal Asiens täglich 24 000 Container umgeschlagen. Am Stellwerk gibt es 228 Kombinationsmöglichkeiten, die Waggons zu sortieren. „Das Stellwerk ist so groß, dass es von Luxemburg-Stadt bis nach Esch reichen würde!“ – das Eisenbahnerherz in François Bausch schlug bei der Visite ein bisschen schneller. Das North Container Terminal ist allerdings eher Dreh- und Angelpunkt für den innerchinesischen Warentransport, von Nord nach Süd und West nach Ost – von da aus gehen auch Waren über die Seehäfen in den Export. Beladen sind die Waggons in der Mehrheit mit landwirtschaftlichen Produkten oder Rohstoffen – keine Luftfracht. Eindruck macht es dennoch. „Völlig verrückt ist das hier“, so Bausch am Dienstag. „Völlig verrückt“ können einem auch andere Projekte erscheinen. Direkt an der Flughafen-Sonderzone entlang verläuft der mittlere von drei geplanten Kanälen des Süd-Nord-Wasser-Umleitungsprojekts. Weil im Norden das Wasser knapp ist und es im Süden Chinas häufig Überschwemmungen gibt, hatte schon der Vorsitzende Mao 1952 gesagt: „Wenn wir nur das Wasser aus dem Süden in den Norden umleiten könnten!“ So berichten das heute, über 60 Jahre später, auf jeden Fall die Projektleiter, die kurz davor stehen, Maos Traum in die Wirklichkeit umzusetzen. Nämlich Wasser aus dem Süden, im Falle des mittleren Kanals, aus dem Yangtse, über die Strecke von 1 400 Kilometern bis ins trockene Peking zu leiten. Unterwegs gibt es trotz Gefälle in die andere Richtung und Gebirgsmassiv keine Pumpstationen, erklären die Ingenieure. Der Kanal ist ein modernes Aquädukt, wurde auf der gesamten Strecke so hochgelegt, dass ein minimales Gefälle entsteht. Auf der Höhe von Zhengzhou liegt dabei die große technische Herausforderung: Die Überwindung des Gelben Flusses. Oder die Untertunnelung, denn das Wasser wird durch einen Kanal 30 Meter unter dem Fluss hindurch nach Norden geleitet. Es ist ein Projekt epischen Ausmaßes. Allein für den Bau des Damms vor dem Gelben Fluss am mittleren Kanal wurden 300 000 Leute umgesiedelt. Das erzählt der Leiter des umstrittenen Projektes ohne Umschweife. Umstritten ist es auch wegen der möglichen ökologischen Folgen – im Norden wie im Süden. Allein der mittlere Kanal hat eine Förderkapazität von 9,5 Milliarden Kubikmeter jährlich: Dass die Umleitung derartiger Wassermassen nicht ohne Folgen auf die Umwelt an beiden Enden des Kanals bleibt, steht außer Frage. Ohnehin sprengen alle Projekte oder Produktionsanlagen, welche ausländischen Besuchern von den Mitarbeitern der staatlichen Instanzen mit Stolz vorgeführt werden, die europäische Vorstellungskraft. Sie sind wahlweise die größten in China, in Asien, oder der ganzen Welt. In Luhoe, Henan, hat die Shuanghui Gruppe ihren Sitz. Der größte Nahrungsmittelverarbeitungsbetrieb Chinas hat vergangenes Jahr den US-Riesen Smithfield gekauft und ist auf die Zucht und die Schlachtung sowie auf die Weiterverarbeitung von Schweinefleisch spezialisiert. Weltweit beschäftigt die Gruppe 120 000 Mitarbeiter, schlachtet 15 Millionen Schweine jährlich und plant derzeit den Börsengang in Hongkong. In Luhoe betreibt die Firma eigenen Aussagen nach die größte Wurstanlage der Welt. „Die Chinesen lieben Schweinefleisch“, bestätigt die spindeldürre Mitarbeiterin des Außenministeriums Anne – so der englische Name – bei der Visite. So sauber ist die Firma, dass man sogar im Hof vom Boden essen könnte, wenn einem beim Schlachthausgeruch danach wäre. Ein Schwein zerlegt Shuanghui in 260 vermarktbare Einzelprodukte – vor der Weiterverarbeitung. In der Auslage ist, vom Filet, über Rippchen, Haxen, Füße, Ohren, Darm und Hirn, alles zu sehen. Die Marke ist populär. 2011 hatte der staatliche Sender CCTV berichtet, im Fleisch von Shuanghui sei Clenbuterol nachgewiesen worden, daraufhin hatte die Firma eigenen Aussagen zufolge prompt reagiert. Dem Appetit auf Schweinefleisch scheint der Vorfall nicht dauerhaft geschadet zu haben. Von der weltweiten Schweineproduktion von 1,1 Milliarden geschlachteten Tieren, wird die Hälfte in China verspeist. Schweinehälften sind deswegen Importware – bei Shuanghui derzeit über den Seeweg. Vielleicht bald als Luftfracht? Provinz-Gouverneur Xie Fuzhan hob während der Unterzeichnungszeremonie am Dienstag hervor, die Entwicklungspläne für Henan hätten starke Marktunterstützung. Er meint die 100 Millionen Einwohner der Provinz, die verstärkt auch westliche Produkte konsumieren sollen. In Zhengzhou will man nicht nur Waren exportieren, sondern auch welche einführen. Wie Zhengzhou New District ist auch die vor nicht mal vier Wochen in Betrieb genommene U-Bahn-Station ein Beleg der Denk- und Vorgehensweise: „Ist die Infrastruktur erst geschaffen, werden die Geschäfte schon folgen.“ Am Sonntagnachmittag ist die erste Linie so gefüllt wie werktags die Londoner Tube zur Rush-hour. Viereinhalb Jahre hat der Bau gedauert. Nun werden vier weitere Linien gleichzeitig gebaut. Weiteres Beispiel: Das Hochgeschwindigkeitsbahnnetz. Bahnhöfe und Züge auf der Linie Peking-Zhengzhou sind funkelnagelneu, aber jetzt schon ein Riesenerfolg. Während die Züge besonders in der Zeit um das chinesische Neujahr ausgebucht sind, da sich 400 Millionen Menschen in Bewegung setzen, um die Feiertage bei ihren Familien zu verbringen, werden Flüge auf derselben Route aus Mangel an Passagieren abgesagt. Dass dieses Prinzip nicht immer funktioniert – Berichte über chinesische Bauruinen gibt es zuhauf –, ist ein Argument, das sich HNCA-Skeptiker zu eigen machen, die befürchten, die Entwicklungsziele, die sich HNCA im Frachtbereich gesteckt haben, seien zu hoch und unrealistisch. Auch weil trotz der Vorgabe aus Peking, die zentralen Regionen zu entwickeln, noch wenig in Henan produziert werde. Ob es einfach daran liegt, dass die Zweifler die Wucht dieser immer noch mit im Schnitt sieben Prozent wachsenden Wirtschaft unterschätzen? In der Tat müssen Europäer viel Fantasie aufbringen, um sich die geplante Entwicklung am Flughafen von Zhengzhou zeitlich wie räumlich vorstellen zu können. Trotz Frost herrscht auf den Baustellen des neuen Passagierterminals und des angeschlossenen Bahnhofs reger Betrieb. Zu sehen sind aktuell nur große Löcher, die Aushubarbeiten laufen noch. Schwer zu glauben, dass der Rohbau Ende des Jahres stehen und 2015 Eröffnung sein soll. Eine dermaßen kurze Bauphase? Bei mehreren hunderttausend Quadratmetern Baufläche? In Luxemburg völlig unmöglich. In Zhengzhou hält man das nicht für ungewöhnlich. Das schier endlose Produktionsgelände von Foxconn in der Freizone von Zhengzhou wurde schließlich auch binnen eines Jahres gebaut... Wer das Frachtzentrum in Findel kennt, den kann dasjenige in Zhengzhou nicht beeindrucken. Im Vergleich mutet es recht bescheiden an, auch das heben HNCA-Skeptiker hervor. Doch eben deshalb plant HNCA im Rahmen des Flughafenausbaus ein neues Frachtzentrum von 64 000 Quadratmetern Fläche; 15 000 davon sollen Kühlräume sein. Ob es gefüllt werden kann? Das für 2013 Jahr gesteckte Ziel von 250 000 Tonnen Fracht hat Zhengzhou erreicht, wie HNCA-Berater Robert Song berichtet. Und es gibt auch diejenigen, die an das Entwicklungsprojekt in Zhengzhou glauben. Der Unternehmer Franz Wallenborn beispielsweise, der aktuell mit HNCA über die Bildung eines Joint-Venture im Bereich Trucking verhandelt. Dass HNCA weitere Partner auf den verschiedenen Ebenen der Logistikkette sucht, hatte Song immer wieder betont. Es müsse ein Business-Plan auf den Tisch, sagt Wallenborn, der für beide Seiten Sinn ergibt. Doch er hat „starkes Interesse“, weil er überzeugt ist, dass die Rechnung in Zhengzhou aufgehen wird. Dass durch das Projekt das Frachtvolumen insgesamt ansteigen werde, beziehungsweise ansteigen muss, damit es funktioniert, glaubt man bei Wallenborn nicht wirklich. Eher dass es zur Umverteilung zwischen den Flughäfen kommt, also Fracht, die derzeit über die großen, verstopften Knotenpunkte wie Shanghai oder Peking abgefertigt wird, in Zukunft über Zhengzhou exportiert werde. Dass die Produktionsstätten dieser Waren derzeit nicht in der Freizone neben dem Flughafen liegen, spiele dabei keine Rolle. Denn von den Fabriken zu den großen Drehkreuzen würden die Exportgüter auch jetzt mehrere hundert Kilometer im Lastwagen transportiert. In welche Richtung, ob nach Shanghai, Peking oder Zhengzhou, sei letztlich egal. Dazu verweist man bei der Firma Wallenborn auf die von der Zentralregierung angekündigte Unterstützung und vertraut darauf, dass die notwendigen Anreize geschaffen werden, um die Warenströme Richtung Zhengzhou zu lenken. Henan-Gouverneur Xie Fuzhan vermeldete am Dienstag einen weiteren Erfolg. Die Internethandelsplattform Alibaba kündigte vergangenen Dezember an, in der Flughafenzone Zhengzhou, ein Logistikzentrum einzurichten. Ein Investitionprojekt, dessen Dimensionen HNCA zufolge mit denen der Foxconn Niederlassung 2011 zu vergleichen seien. Doch nicht jeder glaubt daran, dass eine Regierung, die Wasser bergaufwärts fließen lassen kann, auch die Handelsströme wie gewünscht umleiten kann. Weil die Entscheidung über die Wahl der Flughäfen nicht in ihrer, sondern in der Hand der mächtigen Fracht-Forwarder liege. Und davon abhängig sei, an welchem Flughafen sie ihre jeweilige Basis eingerichtet hätten. Denn dort hätten sie ihre Infrastruktur und würden ihre Fracht zusammenstellen, um sie nach Übersee zu schicken. Doch um diese Art von Akteuren überhaupt zu locken, muss Zhengzhou regelmäßig angeflogen werden. Das ist im großen Masterplan von Zhengzhou die Rolle, die Cargolux fortan übernehmen wird.
Michèle Sinner
Catégories: Aviation
Édition: 20.12.2013