Helminger, Guy: Libellenterz

Sprachschnittig

d'Lëtzebuerger Land vom 18.11.2010

Manchmal lohnt es sich, wenn man nicht am Anfang anfängt, sondern ganz am Schluss: Guy Helmingers Gesammelte Gedichte, die jetzt bei Phi erschienen sind, liest man am besten, indem man sie erst einmal nicht liest. Man drehe den imposanten Lyrikziegel erst einmal um und öffne ihn auf seiner allerletzten Seite. Dort, befestigt am hinteren Buchdeckel, findet sich eine CD, auf der Helminger eine Auswahl von fünfundzwanzig Gedichten selbst vorträgt. Das ist nicht nur gut. Das ist toll. Das macht richtig Spaß. Und: Das ist der beste Einstieg in den Gedichtband, den man sich vorstellen kann. Helmingers Vortragskünste vermitteln ein gutes Gefühl dafür, wie seine Gedichte gedacht sind – , nämlich vom Vortrag, von der Verlautbarung her. Die umgangssprachlichen Verkürzungen („aufm“, „’ne“, usw.), die kursiv gesetzten Hervorhebungen und die Einschübe in Blockschrift gewinnen mit der Blickrichtung auf das Gesprochene erst ihr ganzes (nämlich klangliches und rhythmisches) Gewicht.

„Gesammelte Gedichte“ (mit zweimal „G“) erlauben dem Leser, auf der ersten Seite zu beginnen und der lyrischen Entwicklung des Dichters chronologisch zu folgen, um sich den poetischen Werdegang, – Veränderungen, Verwerfungen, aber auch wiederkehrende Motive, die Festigung des Stils – vor Augen zu führen. In dieser Hinsicht ist der poetologische Essay, „Sprachschnitte“, der dem Band angefügt ist, besonders zu empfehlen. Dieser Text ist Selbstkommentar und Programm zugleich: Was Helminger nämlich über „das Gedicht“ sagt, beansprucht keine zeitlose Gültigkeit, sondern dient vor allem der Beschreibung und Verortung der eigenen Lyrik. Hier erweist sich Helminger als Heraklitäer im ursprünglichen, also im ontologischen Sinn: Entgegen einem beliebten poetologischen Vorurteil definiert er nicht die erlebte Situation als das Immergleiche. Es sind laut Helminger die in der Erinnerung übereinander gelagerten Eindrücke von Einzelsituationen, die zu Verflachung und Gleichmacherei führen. Am Ende heißt es dann nur noch: „Ich fuhr mit dem Zug. Mir war schlecht.“ Mit der Verflachung der Erinnerung nutzt auch die Sprache ab.

Helminger schreibt also, und das ist ganz entscheidend für den Leser, der an sein lyrisches Werk herantritt, aus einer Wendung gegen den Sprachverschleiß heraus. Deswegen können seine Gedichte die unbedachten Formulierungen und abgegriffenen „Worthülsen“ der Alltagssprache nicht unbesehen übernehmen; deswegen setzt er die Schere an (nicht die Heckenschere, nicht die ganz grobe), schneidet Komposita auseinander und setzt sie neu zusammen, klebt Gesprächsfetzen und Zitate dazwischen, macht Verben aus Substantiven und umgekehrt. Die „Rekonstruktion von Wahrgenommenen“, bzw. die Wiederherstellung „augenblicklicher Wahrnehmung“, die er mit seinen Gedichten versucht, kann nur gelingen, wo Sprachgewohnheiten kompromisslos hinterfragt werden. Das ist das Schöne an Helmingers Gedichten, das macht sie zu etwas Immerneuem und Herausforderndem.

Gleichzeitig ist das aber auch ein Problem, das Helmingers Gedichte stellen, ohne es zu lösen: Die Wahrnehmung, die im Gedicht rekonstruiert wird, ist, wie Helminger in seinem Essay selbst sagt, die Wahrnehmung eines „Ich“. Die Realität, die dieses Ich im Gedicht in einer un­vernutzten Sprache zu spiegeln versucht, ist seine Realität. Die Schwierigkeit, mit der der Dichter konfrontiert ist (oder doch nur der Leser?), besteht also darin, das von ihm Wahrgenommene einem Leser zu vermitteln. Das kann nicht immer und vielleicht nie vollständig gelingen. Deutlich wird das vor allem an den früheren Gedichten Helmingers, in denen es vor Wortschöpfungen, Querverbindungen und Sprachspielen nur so sprudelt. Erst allmählich findet Helminger zu einer fokussierteren Gestaltung, die es auch dem Leser leichter macht, ihm zu folgen.

Freilich ist das Krittelei über die reine Textebene hinaus. Wie der Band beweist, waren Guy Helmingers Gedichte immer gut, aber sie sind mit der Zeit doch noch um einiges besser geworden.

Das einzige, was in diesem Buch leider fehlt, sind die bibliographischen Angaben der Erstveröffentlichungen.

Guy Helminger: Libellenterz. Gesammelte Gedichte, mit CD. Mit einem Vorwort von Stefan Weidner. Éditions Phi, Differdingen 2010. ISBN 978-2-87962-284-2.
Elise Schmit
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