Die kleine Zeitzeugin

Kommt dir aus Belgien, Frankreich, Preisen!

d'Lëtzebuerger Land vom 14.12.2018

Wundersame Neuigkeiten dringen in alle Welt, die Welt ist etwas verwirrt: Wie denn jetzt, paradiesisches Treiben statt Panama Papers? Klar, Kapital, Konzerne, Korruption, murren einige, die können es sich leisten. Aber schon kriegen viele Lust einzusteigen in die Bilderbuchstraßenbahn im Bilderbuchland, in dem kiffende Kängurus öffentlich verkehren, gratis geschenkt auch noch, selbstverständlich auch Nicht-Keng-Gurus und Nicht-Kiffer_innen, selbst Hornochsen werden nicht ausgegrenzt. Schon haben sie Lust, einen kräftigen Zug zu nehmen und in gastfreundlichen Zügen über Land zu schweben.

Alte Ex-Pat, die auswanderte, weil der Überlebenstrieb sie daran hinderte, sich hinters Steuer eines sich mit übermenschlicher Geschwindigkeit fortbewegenden Gefährts zu klemmen, was wiederum das Überleben extrem erschwerte, reibt sich die Augen. Ex-Pat, die sich erinnert, wie man von eigenartigen Männern munkelte, die sich mit Vorliebe in nächtlichen Stadtparktoiletten aufhielten, reibt sich die Augen. Plötzlich sind erstaunlich viele ihre Landsleute coole Kängurus, sie strotzen vor Vernunft. Ex-Pat, die immer wieder von Mitmenschen hörte, deren Behausung von bewaffneten Einheiten gestürmt wurde, während sie seelenruhig im Kosmos weilten, reibt sich die Augen. Um sein Bewusstsein zu erheitern, muss Mensch also bald nicht mal mehr eine offizielle Krankheit vorweisen.

Welche Aboriginee, zumindest von der Sorte, die noch in der Hölle sozialisiert wurde, hätte sich in den tollkühnsten Träumen so etwas träumen lassen? Hätte auch nur die leiseste Ahnung haben können von dem, was in den Think Tanks des Landes, das das goldene Kalb anbetet und dessen Heilige Kuh Automobil heißt, ausgeheckt wird?

Diese Aborigenees stammen schließlich noch aus der Tankstellen-Ära. Für Gemütlichkeit sorgten höchstens Fixer_innenstuben, und wer keinen Führer_innenschein vorwies, blieb einfach auf der Strecke. Die mit Führer_innenschein blieben liegen. Öffentliche Verkehrsmittel waren für Arme, Alte, Ausländer_innen. Einheimischer suchte sie aus dem gleichen Grund auf wie öffentliche Aborte, nur wenn es sein musste. Oft rochen sie auch so. Die Züge waren Schrottmobile, nicht ohne ein gewisses Flair, eine muffig-uringeschwängerte Gemütlichkeit immerhin. Abgesehen davon waren es harte und freudlose Zeiten. Es war die Betonzeit, dann wurde auch noch die Gottesdroge abgeschafft, als Substitut gab es den Weihnachtsmarkt. Damit es nicht zu sachlich wurde wurde es immer lustiger. Die Menschen stopften sich voll mit Anti-Deep-Pressiva und waren infolgedessen sehr antideprimiert, fanden alles mega, super und flott, ehe sie rudelweise von Brückensprangen.

Obschon sie sich ja wirklich alle Mühe gaben, zu flüchten, rette sich wer kann. Es war wie immer bei Flüchtlingen, nur wer über die notwendigen Mittel verfügen, schafft es. An sanfte Gestade, wo authentische Menschen sich lächelnd ihrer annehmen und sie keineswegs nur ausnehmen. Echte Gefühle. Sie nahmen ihre Beine oder wenigstens ihre Kohle in die Hand und kauften sich Flügel, eine Hacienda, einen Lebensfeierabend. Wer noch nicht dauerfrei hatte, buchten wochenends echte Städte mit echtem Leben. Nur raus!, hieß die Devise.

Und jetzt? Woodstock ist ein Museum, San Francisco ein gebirgiger Ort, in dem Rentner_innen nicht gratis Straßenbahn fahren, Amsterdam ist so clean wie ein Online-Tulpenshop.

Jetzt also Luxemburg. The green, green grass of home, Manna, Mekka und Hosanna, wer braucht noch albernes Nation Branding? Der Aargauer Bote berichtet und der Guardian und der Standard, und Bernie Sanders liket.

In Luxemburg wird ein bisschen gemeckert, dass Bahn und Bus noch nicht sekündlich vor sämtliche Füße rollen, zu schön hält Mensch einfach nicht aus. Als wäre es nicht ein riesengroßer Schritt für Luxemburg, als würde der riesengroße Schritt seinen ekligen, ökologischen Monster-Fußabdruck nicht zum Schrumpfen bringen. Als wäre es nicht ein ziemlich großer Schritt für die Menschheit.

Und niemand muss in den Weltraum.

Michèle Thoma
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