Bahnfracht-Liberalisierung

Kollege Konkurrent

d'Lëtzebuerger Land vom 16.12.1999

Marc Calmes atmet einmal tief durch, ehe er weiterspricht. Und sagt: "Die Liberalisierung hat eine Situation geschaffen, wie in einem Siedetopf. Da ist Vieles möglich, aber man muss höllisch aufpassen und darf keine Fehler machen."

Calmes ist Direktor der EuroLuxCargo S.A., einer Tochtergesellschaft der CFL. Ende Juli 1997 gegründet, sollte EuroLuxCargo den Güterverkehr der CFL abwickeln. In einem EU-weit liberalisierten Umfeld sollte sie, so hoffte CFL-Generaldirektor René Streff vor zwei Jahren, "mit mehr Dynamik und Flexibilität" agieren als die alte Tante CFL das könnte. Möglichst wenig vom Image der "Staatsverwaltung Eisenbahn" sollte dem neu gegründeten Unternehmen anhaften, und man wünschte sich bis zu 49 Prozent der Anteile von Aktionären aus anderen Transportbereichen gehalten: von Fuhrunternehmen, Reedereien und Bahngesellschaften, gerne aus dem Ausland. Heute, zweieinhalb Jahre später, ist EuroLuxCargo noch immer hundertprozentige Tochter der CFL, und anstelle der versprochenen Dynamik agiert man vorsichtig.

Doch der Hauptaktionär der CFL ist der Staat. Die Zurückhaltung der Bahn und ihrer Tochterfirmen stößt im Transportministerium auf Kritik, seit der Wirtschaftspragmatiker Henri Grethen von der DP dort amtiert. "Die Bahn muss noch mehr Geschäftssinn entwickeln", davon ist Regierungskommissar Paul Schmit überzeugt. Was wiederum Marc Calmes nicht auf dem Betrieb sitzen lassen will: Haben die Güterverkehrsfilialen der CFL doch zuletzt 18,2 Millionen Tonnen Ware umgeschlagen. Und das bei einem Schienennetz von nur 270 Kilometer Länge. "Die Niederländer hatten im letzten Jahr nur 20 Millionen Tonnen. Aber dort liegen 6 000 Kilometer Gleis!"

Noch immer ist die Größe Luxemburgs von entscheidender Bedeutung für den kommerziellen Erfolg des Güterumschlags. Der ist insgesamt zwar seit Jahren stabil oder steigend. Aber gut die Hälfte davon ist Transitfracht. Für deren Transport zahlt der Auftraggeber pro Tonne und zurückgelegte Kilometer. Je kürzer der Weg, desto kleiner der Erlös. Hinzu kommt, dass die CFL beim Betreten und Verlassen des Landes zweimal ein kostenaufwendiges Handling der Waggons vorzunehmen haben.

Doch hier verspricht die Liberalisierungsinitiative der Europäischen Kommission Erleichterung. Es sei nicht hinzunehmen, dass die Güterzüge an den Grenzen anhalten müssen, um die Lokomotiven zu wechseln, technische Inspektionen und Sicherheitskontrollen vorzunehmen und Begleitpapiere zu überprüfen, meinte EU-Verkehrskommissarin Loyola de Palacio kürzlich. Die Sicherheitsstandards, die Strom- und Signalsysteme müssten vereinheitlicht werden. Erst dann würde die Bahn gegenüber den anderen Verkehrsträgern wettbewerbsfähig.

Darum allein ging es allerdings nicht bei den langwierigen Verhandlungen um die weitere Öffnung der Schienenwege in den EU-Mitgliedsländern untereinander. Seit 1970 ist der Anteil der Schiene am grenzüberschreitenden Güterverkehr von ehemals 32 auf 14 Prozent im Jahre 1997 gesunken. Die "Freisetzung der Marktkräfte" empfahl deshalb die EU-Kommission in ihrem 1996 veröffentlichten Weißbuch zur Revitalisierung des europäischen Eisenbahnverkehrs. Nicht nur die traditionellen Bahngesellschaften sollten Fracht per Schiene befördern können, sondern auch andere Anbieter, die dafür eine Lizenz erwerben müssten.

Zwar hatte die Kommission schon 1991 die Öffnung der Schienenwege verfügt, doch seitdem hat sich die Eisenbahnlandschaft in Europa höchst ungleichmäßig entwickelt. In Deutschland und Schweden sind die Bahnen privatisiert, in Großbritannien ist das schon seit der Thatcher-Ära der Fall. Der Zugang für private Transporteure auf die Schiene ist frei. Die Regierungen in London, Stockholm und Berlin drängen deshalb seit Jahren auf eine europaweite Deregulierung.

Das rief in jenen Ländern Protest hervor, wo die Eisenbahn traditionell als nationale Instanz gilt, mit starken Gewerkschaften und streikfreudiger Belegschaft: in Frankreich, Belgien und auch in Luxemburg. Woraufhin die drei Regierungen bis Anfang Oktober dieses Jahres alle weiteren Liberalisierungsschritte auf EU-Ebene blockierten, und erst Ende letzter Woche einigten sich die 15 EU-Transportminister auf einen Kompromiss. Nur bestimmte Korridore sollen zur freien Verfügung gestellt werden; allerdings handelt es sich dabei um den größten Teil der Hauptstrecken. Plus 50 Kilometer in Richtung der Bestimmungsorte, falls die sich nicht an den Hauptstrecken befinden. Luxemburg erhielt eine Ausnahmegenehmigung, weil es so klein ist: Ab 2003, wenn die neue Direktive über den Zugang zu diesen Transeuropean Railway Networks (TERN) voraussichtlich umgesetzt sein muss, kann es in drei Jahresschritten zunächst 20, dann 40 und erst im dritten Jahr 50 Kilometer abseits der Hauptsrecken für ausländische Transporteure frei geben.

Als Transporteur kommt allerdings nach dem Kompromisspapier der 15 Minister potenziell auch jede Privatfirma in Betracht - sofern sie Bahntransporte betreiben will und die einheitlichen "Sicherheitsbestimmungen" erfüllen kann, die noch definiert werden müssen. Die Zulassung soll in jedem Land einer zentralen, unabhängigen Regulierungsbehörde obliegen. Womit den Speditionsbetrieben entgegengekommen worden sein dürfte: Die in der International Road Transport Union (IRU) zusammengeschlossenen Fuhrunternehmen reklamierten vor den Verhandlungen der Transportminister noch einmal eine "echte Liberalisierung" und für sich den Zugang zum transeuropäischen Schienentransport.

Ob tatsächlich ein Run von Fremdfirmen auf die Schiene einsetzen könnte, ist noch schwer abzusehen. Klar ist aber: Die Menge der in Europa beförderten Fracht wächst und wächst. Nach Schätzungen der EU-Kommission dürfte der Straßentransport in den nächsten zehn bis zwölf Jahren um 30 bis 40 Prozent zunehmen.

Womit die Eisenbahnen unter weiteren Kostendruck geraten würden, vor allem kleinere Betriebe wie die CFL. Darüber kann auch nicht hinwegtäuschen, dass Luxemburg mit seinen 20 Prozent Schienentransport am Ge-samtfrachtumschlag gar nicht so schlecht da steht: im Schnitt werden EU-weit nur 14,5 Prpzent aller Güter per Bahn befördert. Doch ihr gutes Abschneiden haben die CFL den vielen Ganzzügen zu verdanken, die sie von und zu den Elektrostahlwerken und den Walz- und Ziehstraßen der ARBED verfrachten; pro Tag sind es regelmäßig fünf bis sechs.

Doch die Tendenz geht allgemein hin zu kleineren Transporten. Und um die zu bekommen, so verrät EuroLuxCargo-Direktor Calmes, unterbietet die CFL-Fliliale schon mal die Preise von LKW-Speditionen um bis zu 50 Prozent. Und bietet einen Haus-Zu-Haus Service an, bei dem sie die Waggonladung beim Kunden abholt und für ihn den Transit über die Schienenwege ausländischer Gesellschaften regelt.

Ein kostenintensives Unterfangen, doch gerade in solchen Kleintrans-porten, vor allem innerhalb der Großregion, sieht Marc Calmes die Zukunft des Luxemburger Eisenbahngüterverkehrs. Sind doch auch die großen Bahnen der Nachbarländer auf lukrative Ganzzüge aus, möglichst über große Distanzen. "Es könn-te doch sein", so Marc Calmes, "dass die DB einmal kein Interesse mehr hat, einen Transport von Trier nach Luxemburg durchzuführen. Oder die SNCF einen ab Metz."

Womit man sich unter Umständen in Konkurrenz zu neuen Bahnbetreibern setzt. Doch für die vergleichsweise kleinen CFL ist die Konkurrenz eine schwer einzuschätzende Größe. Bis zum Sommer 2004 soll nach dem Kompromisspapier der EU-Transportminister für Luxemburg eine Gnadenfrist zum Schutz vor den neuen Bahnbetrieben gelten: Bis dahin sollen Operateure aus dem Ausland nicht von einer unabhängigen Regulierungsbehörde ihre Lizenz zur Fahrt auf Luxemburger Gleisen erhalten, sondern vom Staat, Hauptaktionär der CFL und sehr am sozialen Frieden im Land interessiert.

Und danach? Nicht nur die CFL und ihre Betriebe dürften dann unter Druck geraten, der Status der Beschäftigten nicht minder. Die Gewerkschaften warnen auch in Luxemburg da, dass mit der Öffnung der europäischen Bahnnetze Gepflogenheiten wie im Straßengütertransport einziehen könnten - zumindest in den neu lizenzierten privaten Bahnfirmen. Gibt es doch für LKW-Fahrer europaweit nach wie vor keine Arbeitszeitregelung; laut einer kürzlich angefertigten Studie der Internationalen Föderation der Transportgewerkschaften sitzen die Fahrer bis zu 60 Stunden die Woche hinterm Lenkrad. Auch in Luxemburg kommt das vor, wo der Kollektivvertrag für LKW-Fahrer wegen der Arbeitszeitregelung beim Nationalen Schlichtungsamt liegt.

Die Regierung empfiehlt der Bahn schon jetzt, Joint ventures mit ausländischen Partnern einzugehen. Doch die großen Kollegen aus den Nachbarländern sieht man bei den CFL noch immer als Kooperationspartner und nicht als Konkurrenten: Es könne doch sein, dass die Verbindung mit der einen ausländischen Bahn von der anderen als gegen sie gerichtet verstanden werden könnte.

Auch bei EuroLux Cargo, eigentlich offen für 49,9 Prozent Fremdbeteiligung, möchte man noch abwarten, wohin die Reise im liberalisierten Schienengüterverkehr Europas geht. "Es hat", berichtet Direktor Marc Calmes, "schon Beteiligungsangebote gegeben. Aber wir wollen weder vereinnahmt werden, noch mit einem inkompetenten Partner zusammenarbeiten." Nachgedacht würde jedoch sowohl über ein Zusammengehen mit einer Bahn wie auch mit Fuhrunternehmen.

Deutliche Entspannnung in Konkurrenz- und Kostendruck könne wohl nur eine Erhöhung der Dieselpreise mit sich bringen, überlegt Marc Calmes. Doch solche Überlegungen sind in Europa derzeit nicht konsensfähig. Zwar hatte die EU-Kommission 1996 in einem "Grünbuch zu fairen Preisen" eine ökologische Steuerung des Wettbewerbs vorgeschlagen. Das Prinzip "pollueur-payeur" sollte auch im Transportsektor Anwendung finden und der LKW-Verkehr mit Gebühren für Lärm und Abgasemissionen belegt werden. Dazu aber gab es unter den EU-Mitgliedsstaaten keine Einigung, und als in Luxemburg der grüne Abgeordnete François Bausch im September 1996 in einer parlamentarischen Anfrage wissen wollte, wie die Regierung zu diesen "fairen Preisen" stünde, vergingen fast zweieinhalb Jahre, ehe die damalige Transportministerin Delvaux mitteilte, zu diesem Thema gebe es in Europa wie in Luxemburg "erhebliche Divergenzen".

In Henri Grethens Transportministerium werden Zwangsmaßnahmen zur Rückverlagerung von Fracht von der Straße auf die Schiene kategorisch ausgeschlossen. Regierungskommissar Paul Schmit beispielsweise möchte auf keinen Fall die Überlegungen zur Anbindung des Flughafens Findel an das Schienennetz so verstanden wissen, als habe man vor, Luftfracht zur Weiterbeförderung per Bahn abzuzweigen. "Wenn die CFL oder eine andere Bahn das schafft, ist das deren Sache. In unserem Haus wird jedenfalls keine ideologische Politik gemacht."

 

Peter Feist
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