EU-Vertragsgipfel

Aufgeschoben

d'Lëtzebuerger Land vom 25.10.2007

Nach zweieinhalb Jahren Krise verabschiedeten die 27 Regierungschefs der EU vergangene Woche ziemlich undramatisch den Reformvertrag, der künftig nicht mehr Verfassungs-, sondern Lissabonner Vertrag heißen soll. Nach den Wahlen in Polen stehen die Aussichten nicht einmal so schlecht, dass er auch im Laufe des nächsten Jahres von sämtlichen Mitgliedsländern ratifiziert wird. Das Luxemburger Parlament, das schon ziemlich einstimmig den Verfassungsvertrag begrüßt hatte, begrüßte am Dienstag ziemlich einstimmig den Ersatzvertrag.Mit Ausnahme der ADR versprachen alle Parteien, ihn so schnellwie möglich und ohne erneutes Referendum zu ratifizieren. 

Um präzise zu sein: Die meisten Redner waren zufrieden und unzufrieden zugleich mit dem Lissabonner Vertrag. Zufrieden waren sie, weil der Spuk nun doch vielleicht ein Ende bekommen wird. Denn das Scheitern des Verfassungsvertrags war auch ein Scheitern der seit Jahrzehnten parteiübergreifend gepflegten Luxemburger Politik insgesamt. Außerdem bleiben die europäischen Institutionen funktionstüchtig, wenn sie an die Erweiterung der Union angepasst werden können. Wobei Luxemburg wieder irgendwie seinen kleinen Einfluss retten konnte – einschließlich seiner schon einmal fast geopferten sechs Sitze imEuropaparlament.

Zufrieden waren wohl auch manche Abgeordneten von Mehrheitund Opposition, weil sich ihnen mit der Schaffung eines ständigenRatsvorsitzenden eine neue Gelegenheit bietet, den etwas zu dominierenden und etwas zu populären Jean-Claude Juncker doch noch nach Brüssel fortzuloben. Was wohl die nationale Politik nachhaltiger beeinflussen würde als der Wahlausgang übernächstes Jahr. Doch gleichzeitig machten die wenigsten Abgeordneten einen Hehl daraus, dass sie den Lissabonner Vertrag ein wenig als Mogelpackung ansahen, der die Gegner des Verfassungsvertrags dazu verführen soll, ihn doch noch hinzunehmen. Ob der Unterschied zwischen beiden Vertragsentwürfen qualitativer oder quantitativer Natur ist, wird deshalb, je nach Einfluss der Befürworter und Gegner des Verfassungsvertrags,unterschiedlich dargestellt. 

Premier Jean-Claude Juncker schätzte am Dienstag vor dem Parlament, dass der Lissabonner Vertrag „90 Prozent“ des Verfassungsvertrags übernehme, die Regierung also auch zu 90 Prozent gesiegt hat. Der Unterschied scheint jedenfalls kaumder Rede und schon gar nicht ein weiteres Referendum wert. Aber vielleicht ist der Unterschied weniger quantitativer als qualitativer Natur. Denn wenn der Lissabonner Vertrag nun für die Gegner einer weiteren Integration als eine irgendwie zwischen Ministerialbeamten ausgehandelte technische Anpassung dargestellt wird, so war der Verfassungsvertrag ein nichtohne Pomp inszeniertes politisches Projekt.

Doch 2005 zeigte sich, dass unter dem Strich nicht bloß der Verfassungsvertrag, sonderndas politische Projekt Europäische Union nicht oder nicht mehr konsensfähig war. Der Verfassungsvertrag schmiedete in den meisten Ländern und manchmal bis auf Regierungsebene hinauf gegen das weitgehend liberale Projekt Europäische Union eine Allianz linker Verteidiger des Sozialstaats und rechter Verteidiger des Nationalstaats. Wenn der Lissabonner Vertrag tatsächlich die Mogelpackung ist, als die er dargestellt wird, dann schiebt er diesen Konflikt vielleicht hinaus, er löst ihn aber nicht.

Romain Hilgert
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