Wenn demnächst der Fiskalpakt, der im März 2012 in Brüssel als Maßnahme gegen die europäische Schuldenkrise unterzeichnet wurde, auch in Luxemburg umgesetzt wird, erhält dadurch ein Konzept neue Bedeutung, das bisher kaum Beachtung in der öffentlichen Debatte fand. Genauer gesagt in der Haushaltsdebatte, denn es geht um das strukturelle Haushaltssaldo. Die Teilnehmer am Fiskalpakt haben sich verpflichtet, eine so genannte „goldene Regel“ anzunehmen, also immer einen ausgeglichenen Haushalt auszuweisen oder einen Überschuss (siehe auch Seite 3). Erfüllt ist diese Bedingung laut Vertrag dann, wenn das strukturelle Saldo dem länderspezifischen mittelfristigen Haushaltsziel (MTO) entspricht, wobei das strukturelle Defizit nicht mehr als 0,5 Prozent im Vergleich zum Bruttoinlandsprodukt betragen darf. Gänzlich unbekannt ist das strukturelle Saldo nicht, sondern gilt schon seit der Reform des Stabilitätspaktes von 2005 als individueller Richtwert für die Mitglieder der europäischen Währungsunion. Neu ist hingegen für Teilnehmerstaaten des Fiskalpaktes, dass sie automatische Budgetkorrekturen, also Sparmaßnahmen, ergreifen müssen, wenn ihr strukturelles Saldo vom MTO oder der für sie vorgegebenen Trajektorie zum MTO wesentlich abweicht.
Deshalb werden sich in Zukunft alle, die an der Erstellung des öffentlichen Haushalts mitwirken oder mitdiskutieren, ein wenig intensiver mit dem strukturellen Saldo auseinandersetzen müssen, statt sich wie bisher auf die Erfüllung der allgemein als Maastricht-Kriterien bekannten Ziele eines nominalen Defizits von maximal 3,0 Prozent im Verhältnis zum BIP, beziehungsweise einer Verschuldung von maximal 60 BIP-Prozent zu konzentrieren. Luxemburgs MTO liegt derzeit bei einem strukturellen Saldo von 0,5 Prozent des BIP. 2012 hatte die EU-Kommission in ihrem Gutachten zum Luxemburger Stabilitätsprogramm ein MTO von 0,75 Prozent befürwortet, um der demografischen Entwicklung und den daraus entstehenden Verpflichtungen der Rentenkasse Rechnung zu tragen. Doch nach Inkrafttreten der Rentenreform des ehemaligen Sozialministers Mars Di Bartolomeo (LSAP) wurde das Luxemburger MTO wieder auf einen strukturellen Überschuss von 0,5 Prozent gesenkt. Ob ein MTO noch ausreicht, um die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen zu gewährlisten, wird seit Inkrafttreten des Six-Pack genannten Maßnahmenpakets zur Verschärfung des Stabilitätspaktes alle drei Jahre geprüft.
Vereinfacht ausgedrückt, ist das strukturelle Saldo nichts anderes als das konjunkturell bereinigte nominale Saldo der öffentlichen Hand. Wer Schwierigkeiten hat, sich das vorzustellen, weil der Haushalt das Ergebnis von Einnahmen- und Ausgabenflüssen ist, die größtenteils konjunkturabhängig sind, wie Steuern und Sozialtransfers, kann es sich wie folgt verdeutlichen: Ob Konjunkturhoch oder -tief: die Verwaltungskosten des Staates ändern sich dadurch nicht direkt. Aber in der Krise steigen die Kosten der Arbeitslosigkeit, die Ausgaben zur Finanzierung der Kurzarbeitsbestimmungen, es kommt eventuell zu Rettungsmaßnahmen für Betriebe, Banken,... Die tauchen im nominalen Saldo der öffentlichen Hand auf, werden beim strukturellen Saldo aber nicht berücksichtigt. So lässt sich argumentieren, dass das strukturelle Saldo der bessere Indikator für die langfristige Gesundheit der Staatsfinanzen ist, weil er vorübergehende Maßnahmen nicht berücksichtigt. Und es deshalb möglich macht, in einer Krise die automatischen Stabilisatoren spielen zu lassen, um dem Konjunkturtief entgegen zu wirken, ohne direkt auf Sparmodus umstellen zu müssen und die Krise dadurch zu verschlimmern.
Doch in der Praxis erweist sich das strukturelle Saldo als etwas unberechenbar. Im übertragenen wie im wörtlichen Sinn, was auch politisch schwierig werden könnte. Dass dem so ist, liegt an den Variablen, die bei der Erstellung berücksichtigt werden. Die Gleichung an sich – SS = NS – (e × OG) – ist nicht so sonderlich kompliziert.1 Zwischen den Klammern liegt das Problem, das Ökonomen und Statistiker seit Jahren diskutieren. Das „e“ steht für einen Elastizitätsfaktor, der reflektieren soll, wie sensibel die Staatsfinanzen des jeweiligen Landes auf Konjunkturumschwünge sind. Den richtigen Elastizitätsfaktor zu bestimmen, allein das ist Anlass für einen statistischen Tiefseetauchgang und Divergenzen zwischen Institutionen, die sich damit beschäftigen. Der Output gap (OG), die Produktionslücke, beziehungsweise, wie man sie am Besten etabliert, ist ein unter Wirtschaftswissenschaftlern sehr umstrittenes Thema, weil sie sich nicht beobachten oder messen lässt. In Brüssel beschäftigt die Produktionslücke seit Jahren eine spezielle Arbeitsgruppe, die Output-Workinggroup, die zeitweise von Statec-Direktor Serge Allegrezza geleitet wurde. Vereinfacht ausgedrückt, drückt die Produktionslücke den Unterschied zwischen der real beobachteten Wirtschaftsleistung (BIP) und der potenziellen Wirtschaftsleistung aus, die erreicht werden könnte, wenn alle Produktionsfaktoren vollständig spielen würden: also Kapital (Produktionsanlagen) und der technologische Fortschritt voll genutzt würden sowie alle arbeitsfähigen Kräfte mobilisiert wären. Das Konzept des „potenziellen“ Wachstums ist der Öffentlichkeit aus der seit Jahren dauernden Diskussion darüber, dass es in Luxemburg schrumpft, bekannt.
Für die Luxemburger Haushaltsdebatte ist das insofern problematisch, als es verschiedene Methodologien zur Schätzung der potenziellen Wirtschaftsleistung und damit der Produktionslücke gibt. In Brüssel wurde eine „gemeinsam festgelegte Methode“ vereinbart, die den Arbeitsmarkt eines Landes als geschlossenen Raum ansieht und deswegen die Arbeitsleistung der Grenzpendler nicht berücksichtigt. Deswegen nutzt das Statec eine eigene Methode, um den Grenzpendlern Rechnung zu tragen. Entsprechend unterschiedlich sind die Ergebnisse der Kalkulationen nach „harmonisierter“ und „nationaler“ Methode. Wie sich das in den Ergebnissen widerspiegelt, verdeutlicht ein Blick auf die Tabelle: Für 2012 berechnete die EU-Kommission für Luxemburg eine Produktionslücke von zwei Prozent, Luxemburg hingegen eine von 2,6 Prozent. Die Kommission ermittelte einen strukturellen Überschuss von 0,1Prozent; Luxemburg 0,4 Prozent.
Dass das System nicht ganz robust ist – nicht nur für Luxemburg ist die Berechnung der Produktionslücke und des strukturellen Saldos schwierig –, wussten die Unterhändler des Fiskalpaktes, wie ein Insider berichtet. Deshalb wollten sie im Vertragstext eigentlich keine Referenz darauf haben. Doch weil die EU-Staats- und Regierungschefs bei ihren Gipfeltreffen allein im Sitzungssaal sind, ohne ihre Berater, tauchte in den vom Ratssekretariat verfassten Schlussfolgerungen vom Gipfel im Dezember 2011 das strukturelle Saldo als Messinstrument für die Gesundheit der Staatsfinanzen auf. Daran kamen auch die Unterhändler, die den Vertrag in den folgenden Wochen finalisierten, nicht mehr vorbei. Also bauten sie die Möglichkeit ein, das strukturelle Saldo nach „nationalen“ Methoden zu berechnen. Doch für ihre Kontrolle nutzt die Kommission, wenn sie prüft, ob die Mitgliedstaaten ihre budgetären Verpflichtungen einhalten, ihre „harmonisierte“ Rechenart, welche die EU-Exekutive auf der Grundlage ihrer eigenen Datenbasis durchführt. So könnte es passieren, dass ein Land nach eigener Methode die in nationales Gesetz eingeführte goldene Regel respektiert, nach Kommissionsmethode aber dennoch nicht im Soll ist. Das zeigt sich an den Daten, die Luxemburg vergangenen April mit dem Stabilitätsprogramm für das Jahr 2014 eingereicht hat (siehe Tabelle). Nach Luxemburger Art würde ein struktureller Überschuss von 0,6 Prozent erzielt. Nach Kommissionsberechnung würde dieser hingegen bei 0,3 Prozent liegen, womit das mittelfristige Haushaltsziel von 0,5 Prozent strukturellem Überschuss verfehlt wäre. Sogar wenn die Kommission die von Luxemburg eingereichten Daten durch ihr harmonisiertes Berechnungsmodell dreht, statt die aus ihrer eigenen Datenbasis, erzielt sie ein anderes Ergebnis als die Luxemburger Behörden: das strukturelle Saldo wäre dann genau im Gleichgewicht. Bei so viel Variationsmöglichkeiten, weil die Kalkulationsmethode so wenig robust ist, findet es ein Beobachter „grob fahrlässig“, die Haushaltspolitik nach dem strukturellen Saldo auszurichten.
Konkret stellt das die Regierung in etwa vor folgendes Problem: Sie verfolgt bei der Haushaltsaufstellung ein Ziel, das sie selbst mit letzter Sicherheit nicht genau kalkulieren kann. Das wird vor allem problematisch, wenn sich der Haushalt am Limit bewegt, wie das Beispiel von 2014 zeigt. Ob das dazu führt, dass eine Regierung versucht, den Haushalt ein wenig mehr aufzupolieren, vielleicht etwas mehr zu sparen, um auf der sicheren Seite zu sein? Die Erinnerung an die heftigen Kontroversen, welche die Haushaltsvorlagen des ehemaligen Finanzministers Luc Friedens auslösten, der sich regelmäßig aus Gewerkschaftskreisen vorwerfen lassen musste, er unterschätze bewusst die Einnahmen bei der Aufstellung des Haushalts, um sozial ungerechte Sparmaßnahmen durchzusetzen, nur damit sich das darin projizierte Defizit am Ende des Haushaltsjahres quasi verflüchtige, ist noch frisch in Erinnerung.
Wenn das strukturelle Saldo als Richtwert verstärkt in den Blickpunkt rückt, dürfte diese Art von Kontroversen noch intensiver werden. Im Finanzministerium, das zeigt die Notiz der Finanzgeneralinspektion an den Regierungsbildner Xavier Bettel, die bereits vergangenen August erstellt wurde, macht man sich Sorgen darüber, dass das Konzept des strukturellen Saldos der Öffentlichkeit nur schwer vermittelbar ist. Nach nationalen Berechnungen würde Luxemburg 2014 mit einem strukturellen Überschuss von 0,6 Prozent seine Verpflichtungen im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes sowie die goldene Regel respektieren. „Cette réalité ne saurait toutefois cacher une autre réalité. Cette autre réalité se résume dans la constatation que le déficit de 0,6 pour cent du PIB ou de 270 millions d’euros des administrations publiques en 2014, qui aboutit mathématiquement à un solde structurel de 0,6 pourcent du PIB (...).“ Soll heißen, auch wenn die Regierung mit dem strukturellen Saldo „gut“ liegt, können ihr in der Kasse dennoch erhebliche Beträge fehlen, die sie entweder über Schulden, Sparmaßnahmen oder Steuererhöhungen finanzieren müsste. Sich dafür in der Öffentlichkeit zu rechtfertigen, dürfte nicht unbedingt leichter werden, wenn das Land in Brüssel, wegen eines strukturellen Überschüsses, der auf MTO-Kurs liegt, als „guter“ Schüler gilt.
In dieser Diskussion spielt natürlich auch die wirtschaftliche Entwicklung eine Rolle. Korrekturen der Wirtschaftsprognosen und der festgestellten Wirtschaftsleistung sind im kleinen Luxemburg Standard, weil die Ergebnisse weniger großer Unternehmen eine entsprechend große Rolle in der Berechnung der gesamten Wirtschaftsleistung spielen. Das macht auch die Berechnung des strukturellen Saldos nicht einfacher, das eine anti-zyklische Haushaltspolitik erlauben soll. Denn je nach Korrektur der Wirtschaftsdaten kann sich die Einschätzung darüber, an welchem Punkt der Konjunkturkurve sich Luxemburg befindet, binnen kurzer Zeit ändern, wie wiederum der Blick auf die Tabelle verdeutlicht. Zwischen April und November 2013 wurden die Wirtschaftsprognosen von Statec und Comité de prévision drastisch korrigiert. In der Note de Conjoncture 2-2013, aktualisierte das Statec auf dieser Grundlage die Werte für die Produktionslücke und das strukturelle Saldo im Vergleich zu den Luxemburger Angaben aus dem Stabilitätsprogramm von April. Ergebnis: 2012 hätte der strukturelle Haushaltsüberschuss demnach 0,8 statt 0,4 Prozent betragen. Für 2013 ergebe sich ein struktureller Überschuss von einem Prozent statt 0,7 und für 2014 von 0,4 statt wie im April kalkuliert 0,6 Prozent.
Statec-Direktor Serge Allegrezza, dessen Verwaltung sich intensiv mit der Thematik der Produktionslücke beschäftigt – in Kürze soll ein Forschungspapier erscheinen, das die methodologischen Unterschiede zwischen nationalem und harmonisiertem Modell beleuchtet – beschwichtig, das sei kein Problem, das sich nur im Zusammenhang mit dem strukturellen Saldo stelle, weil auch das nominale Saldo in Prozent des oft korrigierten BIP berechnet wird und dadurch ebenfalls zum „moving target“ wird. Denn je nachdem, wie groß oder klein die Wirtschaftsleistung ist, sind Überschuss oder Fehlbetrag, die in Euro ausgedrückt unter dem Strich der Einnahmen- und Ausgabenrechnung stehen, im Verhältnis dazu mehr oder weniger groß.
Wie also muss man sich künftig die regierungsinternen Budgetverhandlungen vorstellen? Die Minister feilschen für die verschiedenen Ressorts um konkrete Millionenbeträge, und stellen den Betrag, der unter dem Strich herauskommt nicht nur direkt ins Verhältnis zum BIP? Sondern legen dann eine Verhandlungspause ein, während Mathematiker und Statistiker das nominale Saldo einmal durch ihr Modell jagen und ins strukturelle Saldo umkalkulieren, um zu wissen, wo sie ihren europäischen Engagements gegenüber stehen? Einfacher wird die ganze Übung, die in Zeiten leerer Kassen ohnehin schwer genug ist, dadurch sicher nicht.