Neige

Schneemalerei

d'Lëtzebuerger Land vom 03.01.2014

Es ist berührend, wie sich der junge Künstler Yuko und seine angebetete Flocon du Printemps dem Abseits der Bühne nähern, den mit roter Farbe getünchten Pinsel hinter sich her ziehend, und aus dem winterlichen Weiß, das die Bühne während annähernd achtzig Minuten dominiert hat, eine bunte Frühlingslandschaft malen: Rot, wo vorher weißer Schnee die Blumen bedeckte, blau, wo das Wasser der Flüsse in Eis erstarrte; die Farben des Regenbogens, um die Wiedergeburt der Natur und das Ende des Wegs zur Selbstfindung zu zeichnen. Es ist ein sehr poetisches Werk, das die in London lebende luxemburgische Komponistin Catherine Kontz da in Töne gefasst hat, ihre erste große Oper, und gleich ein geschlossenes Gesamtkunstwerk, zu dem die junge Künstlerin nicht nur die Musik, sondern auch das Libretto geschrieben hat und für dessen Inszenierung sie verantwortlich zeichnet. Ein sinnliches Musiktheater aus Klängen, Farben und Bewegungen.

Neige heißt die Oper, die von der gleichnamigen Japan-Novelle des zeitgenössischen französischen Autors Maxime Fermence inspiriert ist. Das Stück handelt von dem jungen Japaner Yuko Akita, der Ende des 19. Jahrhunderts im strengen Norden Japans mit seinem Vater, einem Shinto-Priester, aufwächst. Yuko hat zwei Leidenschaften: die Poesie und den Schnee. Entgegen der Tradition seiner Familie, laut der er Priester oder Krieger werden soll, entschließt er sich, Dichter zu werden. Die Handlung schildert, wie Yuko von zu Hause auszieht und bei dem blinden Meister Soseki die vollendete Kunst des Dichtens, den wahren Sinn des Lebens und die Werte der japanischen Kultur kennenlernt. Vor allem aber lernt Yuko von Soseki, dass es neben dem Weiß des Schnees endlos viele Farben gibt, um das Leben in Gedichten zu beschreiben. Letztendlich kann er auf diese Weise die Liebe in sein Leben lassen: Das Schicksal will, dass Yuko einer jungen Frau begegnet, die den Namen Flocon du Printemps trägt, Sosekis Tochter. Beide verbindet, dass sie sich gegen das Korsett des vorgegebenen Weges entschieden haben und sich auf einer anderen, reiferen Beziehungsebene begegnen können, die auch Farben im Leben zulässt. Die traurige Geschichte ihrer Eltern wird sich nicht wiederholen. Der Zuschauer behält das ganz wunderbare Gefühl zurück, dass es sich lohnt, den eigenen Weg zu suchen.

Catherine Kontz erzählt die Handlung gemeinsam mit der Bühnenbildnerin und Kostümdesignerin Ellan Parry auf eine unglaublich sensible Art und Weise, anhand einer aus Lein- und Gazetüchern gewebten Schneelandschaft. Darin tauchen die Figuren – Yuko Akita und sein Vater, Soseki und sein Diener Horoshi, Neige und Flocon du Printemps – auf- und ab, werden bisweilen auch Teil des Bühnenbilds. Es ist eine schlichte Inszenierung, die sich auf die Gestik und die Mimik der Figuren konzentriert, mit simplen Bewegungen arbeitet und die aussagekräftigen Naturvideos und Haiku-Kalligrafien von Ellan Parry und Timothy Bird mit viel Gespür für eine schnörkellose Ästhetik integriert.

Auch auf musikalischer Ebene hat sich Catherine Kontz sehr stark an der zeitgenössischen Musik Japans orientiert. Sie lehnt ihr Stück an das Tanz- und Bewegungstheater des Kabuki an und sucht nach der Symbiose zwischen Musik, Sprache und Tanz. Auf der Bühne stehen fünf Sänger, ein kleiner, aus dem Kollektiv CantoLX zusammengestellter Frauenchor, begleitet von einem vierzehnköpfigen Orchester – den eindringlich und nuanciert unter der Leitung von Gerry Cornelius musizierenden United Instruments of Lucilin, deren Musiker auch die ins Bühnenbild eingebaute Glas-Harmonika und eine Taiko-Trommel spielen.

Es ist eine einfache, zerbrechliche Musik, die Catherine Kontz da geschrieben hat, eine Musik mit vielen repetitiven Elementen, die in ihrer Langsamkeit immer wieder durch eine schroffe Rhythmik unterbrochen wird. Im Mittelpunkt steht die Partie des Yuko Akita, eine Countertenorrolle, die mit ihrer reinen, schlanken Linie – vorzüglich von Rodrigo Ferreira gesungen – die Naivität und Unvoreingenommenheit des Yuko Akita beispiellos wiedergibt. Edward Grint überzeugt als Vater Akita, Omar Ebrahim als Meister Soseki, Juliet Fraser als Neige, Katharina Dröscher als Flocon du Printemps und Vincent Pavesi als Diener Horoshi. Für sich alleine genommen, wirken manche gesangliche Szenen auf Dauer etwas monoton. Als Gesamtkunstwerk betrachtet aber ist ein Musiktheaterwerk aus einem Guss entstanden. Neige ist ein vielschichtiges Stück zum Innehalten und Nachdenken, in dem Musik, Sprache und Inszenierung den gemeinsamen Nenner finden. Der gemeinsame Nenner ist die Poesie.

Marc Fiedler
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