Die Petition, die LGBTQ-Themen aus den Schulen ausschließen will, hat ihren Erfolg einer Front aus religiösen Glaubensgemeinschaften, Verschwörungsideologen und der ADR zu verdanken

Kulturkampf

Soll in der Schule nicht mehr über Diskriminierung gesprochen werden?
Foto: Sven Becker
d'Lëtzebuerger Land vom 16.08.2024

Ende Mai reichte der IT-Techniker Helder Neves eine Petition in der Abgeordnetenkammer ein, die den Ausschluss von „LGBT-Themen“ aus dem Bildungsangebot für Minderjährige fordert. „Chaque famille a le droit d’aborder ces sujets selon ses propres croyances et principes“, heißt es in der Zielsetzung der Petition, es sei „raisonnable d’admettre que l’introduction de ces thématiques à un âge précoce risque de perturber le développement psychopédagogique des enfants“. Deshalb sei es entscheidend, die Unterrichtung dieser Themen an das Alter und den Reifegrad der Schüler anzupassen. Neves begründet seine Petition mit dem Argument, die Schulen sollten sich auf die Vermittlung von Kompetenzen „telles que la lecture, l’écriture, les mathématiques et les sciences“ beschränken und den Eltern die Verantwortung überlassen, mit ihren Kindern „sensible“ persönliche und ethische Themen wie sexuelle Orientierung und Geschlechtsidentität anzusprechen, die familiäre Werte und Überzeugungen respektieren müssten. Seitdem sie am 20. Juli freigeschaltet wurde, haben fast 10 000 Menschen die Petition Nummer 3198 unterzeichnet.

Problematisch ist sie in mehreren Hinsichten. Vor allem, weil sie stereotype Behauptungen aufstellt, die nicht belegt sind: Etwa, dass die Auseinandersetzung mit „LGBT-Themen“ die „psychopädagogische“ Entwicklung der Kinder stören könnte. Sie unterstellt den Lehrer/innen und der Schule indirekt, das Alter und den Reifegrad der Schüler/innen zu missachten. Wenn der Petent fordert, die Schulen müssten sich auf die Vermittlung von Grundkompetenzen beschränken, sollen dann auch Fächer wie Geschichte, Philosophie und Sozialwissenschaften gestrichen werden? Wenn Minderjährige von LGBTQ-Thematiken ferngehalten werden sollen, müssen dann Bücher wie die von Oscar Wilde, Marcel Proust, Thomas Mann oder Virginia Woolf verboten werden?

Welche Art von staatlicher Zensur der Petent in den öffentlichen Schulen eingeführt haben will, wollten wir diese Woche von ihm selbst wissen, doch unsere Gesprächsanfrage blieb unbeantwortet. Will er ein sogenanntes „Kinderschutzgesetz“ wie das, das 2021 in Ungarn verabschiedet wurde? Nach dem Vorbild von Rechtsvorschriften in autoritären Staaten wie Russland und der Türkei verbietet es, Inhalte, die „Abweichungen von der Identität des Geburtsgeschlechts, Geschlechtsumwandlung und Homosexualität propagieren oder darstellen“, für Jugendliche unter 18 Jahren zugänglich zu machen. In Bulgarien gelten seit kurzem ähnliche Vorschriften. 2022 wurde in Florida das sogenannte „Don’t Say Gay“-Gesetz eingeführt, das Lehrer/innen die Erwähnung von Gender-Themen in Kindergärten und Grundschulen bis zur dritten Klasse untersagt. Es wurde von anderen US-amerikanischen Bundesstaaten übernommen.

Für vermeintliche Klärung sorgte der streitbare Philosoph Norbert Campagna am 27. Juli in einem Leserbrief im Wort. Es gehe nicht darum, die Bücher von Oscar Wilde zu verbieten, oder zu verhindern, dass im Biologieunterricht über Homo- und Transsexualität gesprochen werde, sondern um den Ausschluss einer Form von „Propaganda“. Propaganda werde betrieben von bestimmten „Organisationen“, deren Vertreter/innen der Philosoph unterstellt, sich „für das Sexualleben der Kinder“ zu interessieren. „Elle [l’école] doit présenter la sexualité à la fois comme un des lieux possibles de rencontre avec l’autre et comme un lieu de vulnérabilité, mais sans se transformer en lieu où on apprend aux élèves les différentes positions“, schreibt Campagna. Wer diese „Organisationen“ sind und welche Form von „Propaganda“ sie verbreiten, präzisiert der Autor nicht. Was er unter „différentes positions“ versteht, ebenfalls nicht (Campagna war bis Redaktionsschluss nicht für eine Stellungnahme zu erreichen).

Mit Propaganda meint Campagna wohl die in den 90-er Jahren von Philosoph/innen und Anthropolog/innen entwickelte feministische Gender-Theorie, die der biologischen Definition von Geschlecht eine kulturelle gegenüberstellt, die sich an bestimmten (performativen) Handlungen und Verhaltensweisen orientiert. Die Erkenntnisse aus der Gender-Theorie haben in den vergangenen Jahren dazu beigetragen, dass die Rechte von Frauen und LGBTQ-Personen in vielen Teilen der Welt gestärkt und sie gesetzlich vor Diskriminierung geschützt wurden. Als Reaktion auf die Gender-Theorie und die von ihr beeinflusste UN-Weltfrauenkonferenz in Peking, wo das Ziel ausgewiesen wurde, jede Frau und jedes Mädchen solle ein Leben frei von Gewalt und Diskriminierung führen und seine Rechte verwirklichen können, bildete sich Ende der 90-er Jahre eine konservative Gegenbewegung, die von der katholischen Kirche ausging. Statt von Gender-Theorie sprach sie von „Gender-Ideologie“, die „zum Beispiel die Infragestellung der Familie, zu der naturgemäß Eltern, also Vater und Mutter, gehören, die Gleichstellung der Homosexualität mit der Heterosexualität sowie ein neues Modell polymorpher Sexualität“ fördere, wie Kardinal Ratzinger 2004 in einem Schreiben an die Bischöfe befürchtete, kurz bevor er Papst wurde. Einem Bericht der Katholischen Nachrichten-Agentur zufolge sagte sein Nachfolger, Papst Franziskus, 2015 nach einem Besuch auf den Philippinen, wenn finanzielle Hilfe durch westliche Geldgeber in Entwicklungsländern an Bedingungen geknüpft werde, etwa die Lehre der Gender-Theorie in den Schulen, verlören diese Völker ihre Identität: „Dasselbe haben die Diktaturen im letzten Jahrhundert gemacht. Sie sind mit ihrer Doktrin gekommen, denkt an die Hitlerjugend. Sie haben das Volk kolonisiert“, so der Papst wortwörtlich. Glaubensführer anderer Konfessionen (insbesondere die Evangelikalen in Süd- und Nordamerika und die Orthodoxen in Osteuropa) haben diesen Diskurs übernommen, rechtskonservative bis rechtsextreme Parteien haben ihn als Kampfbegriff gegen Feministinnen und LGBTQ-Personen aufgegriffen. Über die sozialen Netzwerke hat er sich ausgebreitet und steht inzwischen im Mittelpunkt eines Kulturkampfs, der sich rund um den Begriff „woke“ entfacht hat, dem häufig das Adjektiv „linksgrün“ oder „linksextrem“ vorangestellt wird.

Den ideologischen Unterbau dieses rechtskonservativen „Widerstands“ bilden Verschwörungsmythen wie der der „neomarxistischen Kulturrevolution“, den der amerikanische Autor James Lindsay auf Einladung der ID-Fraktion Ende März 2023 im EU-Parlament vortragen durfte. Ein Video von seiner Rede wird von dem von Gegner/innen der Corona-Maßnahmen gegründeten Verein Expressis Verbis auf Facebook verbreitet. Laut Lindsay brachten in den 1930-er Jahren vor den Nationalsozialisten geflüchtete jüdische Philosophen der Frankfurter Schule wie Adorno oder Marcuse den „Cultural Marxism“ in die USA. Daraus seien seit den 60-er Jahren das Civil Rights Movement, der Feminismus und die LGBTQ-Bewegung mit ihren theoretischen Grundlagen Gender- und Critical Race-Theory hervorgegangen, die nun den kapitalistischen „Westen“, seine christlichen Werte und seine „weiße“ Bevölkerung erobern und zerstören wollten, um den „Sozialismus“ einzuführen. Auch Europa sei davon bedroht, warnte Lindsay. Diese Täter-Opfer-Umkehr findet sich in vielen Erzählungen der neuen Rechten wieder.

Auch in der Petition 3198, die Kindern und Jugendlichen das Recht auf Aufklärung über sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung vorenthalten will. LGBTQ-Themen sind weit davon entfernt, die Schulprogramme in Luxemburg zu bestimmen. Die Verfolgung von Homosexuellen im Nationalsozialismus oder die Stonewall Riots etwa werden im Geschichtskurs, wenn überhaupt, nur am Rande thematisiert. Dass Menschen lesbisch, schwul, bi, trans oder intersex sind, ist eine gesellschaftliche Realität. Dass viele von ihnen es noch immer vor ihrer Familie und vor der Gesellschaft verstecken müssen und Opfer von Diskriminierung und Gewalt werden, auch.

Ein rezentes Beispiel dafür sind die wiederholten persönlichen Attacken des ADR-Abgeordneten Tom Weidig gegen den Drag-Künstler Tom Hecker nach dessen Auftritten als Tatta Tom. Weidig warf ihm „Indoktrineierungversich (sic) bei Kanner“ vor. Ihm selbst gehe es darum, „déi lenksextrem LGBTQ2* (sic) Ideologie, déi probéiert all traditionell Gesellschaftsformen ze zerstéieren respektiv esou ze relativéieren, dat alles normal ass an dat dat Normal schonn äerzkonservativ a rietsextrem ass, ze bekämpfen“, schrieb Weidig am 13. Juli 2023 auf Facebook. Das ist bemerkenswert für einen Abgeordneten einer Partei, die in ihrem Kammerwahlprogramm vorgab, „sech géint all Form vun Zensur oder Repressioun vu politeschen Iddien“ zur Wehr zu setzen. Weidig und sein Parteifreund Fred Keup unterstützten und bewarben auch die Petition Nummer 3198, die die Zensur von LGBTQ-Themen in der Schule fordert. Anklang fand sie vor allem in religiösen und konservativen Kreisen, bei Abtreibungsgegnern (Vie naissante) und Menschen, die gegen die Covid-Restriktionen und die Covid-Impfung protestiert hatten.

Verstörend am Erfolg von Petition 3198 ist, dass sich hier eine interkonfessionelle Front mit Verschwörungsideologen und der ADR verbündet hat, deren Ziel doch laut ihrem Kammerwahlprogramm darin besteht, den Religionsunterricht in der Schule wiedereinzuführen, um das jüdisch-christliche Erbe als zentrales Element „unserer“ Kultur zu verteidigen und „religiösen Analphabetismus“ in „unserer“ Gesellschaft zu verhindern. Die Shoura lehnte diese Woche ein Gespräch mit dem Land ab, antwortete aber schriftlich: „La Shoura, pour sa part, fait confiance à la bienveillance des parents pour déterminer ce qui est le mieux pour leurs enfants.“ Das Erzbistum ließ unsere Anfrage unbeantwortet, hatte aber schon Mitte April in einer Stellungnahme zur Erklärung Dignitas infinita des Vatikans betont, die Kirche kritisiere „d’Tendenz an der GenderTheorie all Mënsche gläich ze maachen an d’Ënnerscheeder auszeläschen, wéi z.B. den Ënnerscheed vun de Geschlechter. Gott huet de Mënsch als Mann a Fra geschafen“. Wie eine wissenschaftliche Theorie die Unterschiede zwischen den Geschlechtern „auszulöschen“ vermag, führte das Bistum nicht weiter aus. Diese Terminologie ist indes nicht neu: Schon 2015 hatte Papst Franziskus in einem Interview die „Zerstörungskraft“ der Gender-Theorie mit der von Atomwaffen gleichgesetzt. Die Argumente der Rechten zur „Gender-Ideologie“ seien durchzogen von „Phantasmen und Halluzinationen“ stellte die amerikanische Philosophin Judith Butler in einer rezenten Veröffentlichung fest.

„Aus Wut“ über die Forderungen und den Erfolg der Petition 3198 reichte der frühere Journalist und LSAP-Kommunikationsberater Marc Gerges am 24. Juli eine von vier Gegenpetitionen ein. Seine wurde als einzige von der Petitionskommission angenommen. Sie stieß vor allem in eher liberalen und progressiven Kreisen auf Zustimmung und wurde inzwischen von rund 200 Bürger/innen mehr unterzeichnet als die erste Petition (Stand: 14. August). Eigentlich hat Gerges nur die Ziele und Beweggründe der ersten Petition in ihr Gegenteil verkehrt. Um Argumente geht es in dieser Diskussion nicht. Es geht vor allem um politische Stimmungsmache auf Kosten von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intersex-Personen. Diese Woche startete der Initiator der Petition 3198 in den sozialen Medien einen Aufruf, ihm „Argumenter, Meenungen, Iwwerzeegungen, firwat Dir d’Petitioun ënnerschriwwen hutt“ per E-Mail zu schicken. Die Debatten werden voraussichtlich im Spätherbst stattfinden, ob zusammen oder getrennt, muss sich zeigen. Wie es derzeit aussieht, sind mit Ausnahme der ADR alle im Parlament vertretenen Parteien grundsätzlich dagegen, LGBTQ-Themen aus der Schule auszuschließen.

Luc Laboulle
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